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Ausgabe 01/21 Talent

2:1 Einstellung vs. Talent

Norbert Elgert

Lesedauer: ca. 7 Min.

Autor: Johannes Seemüller | Fotos: Bernhard Spoettel

2:1
Einstellung vs. Talent

Norbert Elgert ist weltweit einer der besten Ausbilder im Fußball. Unter dem A-Juniorentrainer von  Schalke 04 reiften Talente wie Manuel Neuer, Mesut Özil, Benedikt Höwedes, Leroy Sané, Julian Draxler, Thilo Kehrer oder Joel Matip zu Spielerpersönlichkeiten.

Eine Annäherung an einen erfolgreichen Coach und einfühlsamen Wertevermittler.

„Wir können dann los“, mahnt die Mitarbeiterin der Kommunikationsabteilung freundlich zum Aufbruch. Wir stehen immer noch mit Norbert Elgert zusammen und reden über Fußball, Gott und die Welt. „Kleinen Moment noch“, entgegnet der Trainer und geht zurück in die Umkleidekabine. Dort baut unsere Kameracrew noch die Technik nach dem Interview ab. Elgert verabschiedet sich von jedem Mitarbeiter persönlich, dann verschwin-det er mit der Klubmitarbeiterin aus dem Bauch der VELTINS-Arena. „Wow“, zeigt sich unser Tonmann beeindruckt, „sowas ist mir bisher selten passiert.“

Norbert Elgert ist so. Wertschätzend, aufmerksam – und erfolgreich. Seit 25 Jahren ist er in der „Knappenschmiede“, dem Nachwuchsleistungszentrum des FC Schalke 04, für die A-Junioren verantwortlich. Drei Mal wurden die Westfalen unter seiner Regie Deutscher Meister. Noch beeindruckender sind die Namen der Fußballtalente, die bei Elgert zu großen Spielerpersönlichkeiten reiften: Julian Draxler, Benedikt Höwedes, Thilo Kehrer, Joel Matip, Manuel Neuer, Mesut Özil oder Leroy Sané. Sie sind Meister, Pokalsieger, Champions League-Sieger oder Weltmeister geworden. Wer jetzt denkt, dieser Erfolgscoach komme als aufgeblasener Zampano zum Interview, der irrt. Der 64-Jährige wirkt ruhig, sachlich, fast etwas zurückhaltend. Sein Outfit: schwarze Turnschuhe, dunkle Trainingshose, Sweatshirt, darunter ein T-Shirt in den Schalker Vereinsfarben blau-weiß. Nur wegen eines Interviews zieht er sich kein Hemd oder Sakko an. Mit Äußerlichkeiten muss ihm keiner kommen.

Menschen statt Marktwerte

Genauso wenig wie mit den Millionenbeträgen, die ich zu Beginn ins Gespräch bringe. Es geht um die Marktwerte junger Bundesliga-Talente. Der Wert des 20-jährigen Erling Haaland (Dortmund) wird auf 110 Millionen Euro geschätzt. Elgert nimmt mir schnell den Wind aus den Segeln. „Ich befasse mich weniger mit Marktwerten, sondern viel lieber mit Menschen. Hinter jedem Fußballer steckt ein Mensch.“ Trotzdem weiß er, dass es im Fußballgeschäft um viel Geld geht. Als er selbst 1975 als 18-Jähriger sein erstes Bundesliga-Spiel im Schalke-Trikot machte, gab es bereits das Profi tum. Elgert verdiente monatlich 3.800 D-Mark brutto, dazu kamen Einsatz- und Siegprämien. Materielle Dinge standen für Elgert, der in 57 Bundesliga-Spielen für Schalke 12 Tore erzielte, aber nie an erster Stelle.

Er wuchs in sehr einfachen Verhältnissen in Gelsenkirchen auf. Mit seinen drei Geschwistern teilte er sich ein Zimmer, die Toilette auf dem Gang wurde von mehreren Familien benutzt. Sein Vater suchte früh Zuflucht im Alkohol. Gewalttätig war er zwar eigentlich nicht, aber unter Alkoholeinfluss verlor er regelmäßig die Kontrolle. Norbert hätte seine Mutter gerne geschützt, doch er fühlte sich aufgrund seines jungen Alters hilf- und machtlos. Ein schlimmes Gefühl. Elgert hat längst seinen Frieden mit dem inzwischen verstorbenen Vater gemacht. „Er hat uns Kinder geliebt. Aber er war nie in der Lage, uns das zu sagen oder zu zeigen.“

Mit 18 startet Elgert seine Karriere als Fußballprofi beim FC Schalke 04. Sein Trainer Max Merkel führt sich auf wie ein autoritärer Feldwebel. Persönlichkeitsentwicklung, Menschenführung oder Empathie sind im damaligen Profifußball Fremdworte. So nimmt auch keiner Rücksicht darauf, dass Jungprofi Elgert mit 19 massive Nierenprobleme bekommt. Seine rechte Niere arbeitet nur noch zwischen fünf und zehn Prozent, seine linke funktioniert auch nur noch zur Hälfte. Elgert wird operiert.

Trotzdem spielt er siebeneinhalb Jahre auf hohem Profiniveau. Entgegen allen Prognosen der Mediziner hat sich Elgert, unterstützt durch seine Frau Conny, immer wieder durchgebissen. Seitdem existiert der Begriff „unmöglich“ nicht mehr in seinem Wortschatz.

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Der Sprung nach oben, das große Risiko

1996 übernimmt Elgert die Verantwortung für die Schalker A-Junioren. Die Spieler, die zu ihm kommen, sind zwischen 16 und 19. Schon Jahre zuvor sind sie von sogenannten Scouts oder Talentspähern entdeckt worden. „Talent“, sagt Elgert, „ist eine Begabung, die dich auf einem bestimmten Gebiet zu herausragenden Leistungen befähigt. Dieses Talent stellt die jungen Fußballer aber nur in die Tür zum Profifußball. Erst Einstellung, Einsatzbereitschaft, Ausdauer, intensives Training, das Hinfallen und Wiederaufstehen, bringen sie unter Umständen durch diese Tür hindurch.“

Langfristig überhole der Fleißige immer das etwas weniger fleißige Talent, glaubt er. Optimal sei die Kombination aus viel Talent und extremem Fleiß gepaart mit großer Anstrengungsbereitschaft über einen langen Zeitraum. Außerdem brauche ein heraus-ragender Spieler auch eine besondere Intelligenz. Elgert nennt dies Talent-IQ: „Du brauchst auch ein Talent dafür, dein Talent zu nutzen, sowie die Fähigkeit, Hindernisse und Schwierigkeiten zu überwinden. Denn diese warten garantiert auf dem Weg nach oben.“

Fußballtraining

Der Wettbewerb zwischen den Vereinen, die besten Talente, die schon mit 11 oder 12 Jahren gesichtet werden, möglichst früh zu entdecken, sie weiterzuentwickeln und ihren Marktwert zu steigern, ist knallhart. Pro Jahrgang gibt es im deutschen Juniorenbereich mehr als 100.000 Spieler. Auf Schalke seien in den letzten 15 bis 20 Jahren „weit mehr als 100 Spieler“ Fußballprofis geworden, erzählt Elgert stolz. Aber den wenigsten Spielern gelingt der Sprung in den Profibereich.

Deshalb trichtert Elgert seinen Jungs ein, sich nicht ausschließlich auf den Fußball zu fokussieren. Es gebe keine Garantie, dass ein Spieler gesund oder von schweren Verletzungen verschont bleibt. Auch deshalb empfiehlt er den Talenten eine „bestmögliche schulische Ausbildung“.

Elgert musste schon vielen Spielern mitteilen, dass es für sie sportlich auf Schalke nicht weiter geht und ein Vereinswechsel mehr Sinn ergibt. Solche Gespräche fallen selbst dem erfahrenen Fußballpädagogen schwer. „Die Spieler sind erstmal unglaublich enttäuscht. Viele glauben, das war’s jetzt, der große Traum ist zerplatzt. Insbesondere in solchen Momenten brauchen die Jungs unsere Unterstützung und seelische Rückendeckung.“

„Werte geben uns Halt“

Der Mann mit der kleinen randlosen Brille und dem prägnanten Mittelscheitel sieht sich selbst als Coach und Mentor für seine Spieler, garniert mit den Aufgaben eines Ausbilders, Trainers und Psychologen. Er glaubt, dass jeder Coach und Ausbilder im Sport mehr sein muss als nur Vermittler von Technik, Taktik und Kondition. „Fußball ist auch eine Schule des Lebens.“ Die Spieler könnten mit dem, was sie in ihrer Schalker Zeit lernen, auch in anderen Berufen erfolgreich sein: Ausdauer, Disziplin, Dankbarkeit, Respekt, Demut, Ehrlichkeit, Toleranz, Fairness, Durchhaltevermögen und Teamfähigkeit sind überall wichtig. „Gesunde Werte geben dem Einzelnen Halt sowie Orientierung und stärken das Wir-Gefühl, den Zusammenhalt von Teams.“

Dieses Wir-Gefühl scheint auch noch Jahre nach Ende der Zusammenarbeit zwischen Trainer und Spielern zu bestehen. Elgert hat noch zu vielen seiner Jungs Kontakt. Mesut Özil, der mit 16 zu Schalke kam, ist dem Trainer besonders ans Herz gewachsen. Der 92-malige Nationalspieler sagt, Elgert sei neben José Mourinho der wichtigste Trainer seiner Karriere gewesen.

Als sich die beiden zum ersten Mal trafen und Elgert das große Talent nach Gelsenkirchen locken wollte, baute er keine Luftschlösser. Stattdessen sagte er zu Özils Vater: „Ich kann nicht versprechen, dass Mesut Nationalspieler wird. Die einzige Garantie, die ich gebe, ist die, dass ich immer alles für ihn geben werde.“ In besonderen Momenten dachte der Profi, der bei Weltclubs wie Real Madrid oder Arsenal London spielte, an seinen Coach aus dem Ruhrpott. Unmittelbar nach dem Gewinn des WM-Titels 2014 schickte er Elgert eine Dankes-SMS, und im Sommer 2018 bekam der Trainer ein ganz spezielles Trikot geschenkt. Özil hatte es bei seinem letzten Länderspiel 2018 getragen.

Der Glaube als Kraftquelle

Norbert Elgert ist immer noch hungrig und wissbegierig. Sein Leben ist eine permanente Weiterentwicklung. Er hat Berge von Ratgebern, Fachbüchern und Motivationsliteratur gelesen, er hat Seminare besucht und sich fortgebildet als Redner und Mentalcoach.

Elgert ist ein spiritueller Mensch. „Mir persön-lich gibt das tägliche Gebet unglaublich viel Kraft und Energie,“ sagt er. Ihn beeindruckt, wie Jesus Christus mit den Menschen umgegangen ist und was er ihnen vermittelt hat. „Wie du glaubst, so wird dir geschehen“ oder „Wenn dein Glaube nur so groß ist wie ein Senfkorn, kannst du Berge versetzen.“

Solche Botschaften findet Elgert hilfreich, sie fließen in seine Arbeit ein. „Das Wort Liebe ist in meiner Familie das wichtigste Wort. Du kannst nur ein guter Leader sein, wenn du die dir Anvertrauten magst und liebst.“ Er will nicht falsch verstanden werden. Mit Liebe meint er im Umgang mit seinen Spielern, „dass du sie wertschätzt und sie respektierst. Sie sollen das wissen und auch spüren. Dann werden sie dir als Coach eher Vertrauen schenken. Denn nur wenn sie dir vertrauen, kannst du sie positiv beeinflussen.“

Buchtipp

Buch Norbert Elgert

Gib alles – Nur nie auf!

Die Erfolgsstrategien vom Trainer der Weltstars

Autor: Norbert Elgert
218 Seiten
2019 / Originalausgabe
Verlag: Ariston
ISBN: 978-3-424-20206-9

„Am Limit“

Wie Sportstars Krisen meistern

Autor: Johannes Seemüller
246 Seiten
2021 / Originalausgabe
Verlag: Springer
ISBN: 978-3-662-62551-4