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Ausgabe 01/21 Talent

Von Fingerspitzen, Gammablitzen, Rechenkunst und Rock ’n’ Roll

Lesedauer: ca. 7 Min.

Autor: Arno Dietsche | Fotos: Arno Dietsche

Von Fingerspitzen, Gammablitzen, Rechenkunst und Rock ’n’ Roll

Ein besondere Talentsuche

Den meisten Menschen ist beim besten Willen nicht anzusehen, ob sie etwas außergewöhnlich gut können. Einem Fußballer sehe ich in der Fußgängerzone nicht an, dass er auf dem Rasen mit dem Treten von Bällen ein ganzes Stadion in Ekstase versetzt. Einer Sopranistin sehe ich in der Straßenbahn nicht an, dass sie zwei Stunden später mit ihrer Stimme Tränen auf die Wangen von Zuhörenden zaubert. Dass Zorica Brugger und Robert Walk das können, was sie können, das sieht ihnen ebenfalls keiner an, der auf Talentsuche im St. Josefshaus Herten, einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen, unterwegs ist. Frau Brugger könnte man sich tatsächlich als Sopranistin vorstellen. Herr Walk vielleicht eher als Schach-, denn als Fußballspieler. Beide haben eine Behinderung, aber wo die Grenzen der beiden sind, weiß ich nicht, als ich im „Café grenzenlos“ ankomme. Das ist dann beim Kennenlernen auch gar nicht mehr wichtig. Beide sind sympathisch, lebendig und auf eine ganz besondere Weise als Gegenüber präsent. Von sich aus hätten sie keine große Sache um sich und ihre Begabung gemacht. Die freundlichen Gruppenleiter betreuten mich zu Beginn der Gespräche etwas und halfen dabei, die beiden Talente aus ihrer Bescheidenheit zu locken.

Zorica Brugger

Frau Brugger arbeitet im inklusiven Café der Einrichtung, steht an der Kasse oder serviert an den Tischen. Beim Bezahlen dürfte vielen aufmerksamen Gästen schon aufgefallen sein, wie selbstverständlich sie alle Preise der konsumierten Speisen und Getränke parat hat. Was studentische Aushilfsbedienungen in coolen großstädtischen Szene-Kneipen ins Schwitzen bringt, wenn sie einen Cappuccino, drei Latte und vier Apfelkuchen (zwei mit, zwei ohne Sahne) in eine stimmige Summe bringen müssen, rechnet Frau Brugger im herzerwärmenden „Café grenzenlos“ ohne Stift und Zettel und ohne eine Miene zu verziehen – ganz cool – in ein paar Sekunden im Kopf aus. Die einfachsten Grundrechenarten erledige ich selber seit Jahren nur noch mit dem Smartphone, und mittlerweile ist bei mir da eine bedenkliche Schwäche entstanden, eigentlich ein Handicap, oder besser buchstabiert: ein Handycap.

Das war ein Mittwoch

Das Gespräch mit Frau Brugger bringt schnell an den Tag, dass sie nicht nur gut rechnen kann, sondern überhaupt ein exzellentes Zahlengedächtnis hat. Telefonnummern und Geburtstage merkt sie sich mühelos. „Wann hattest du denn Geburtstag?“ werde ich gefragt (mittlerweile waren wir beim Du). Nach meiner Antwort kommt postwendend zurück: „Das war ein Mittwoch“ (…habe ich zu Hause im Kalender geprüft, Mittwoch stimmt natürlich). Sie ist Fan des 1. FC Köln und Besitzerin von Mütze und Schal in den Vereinsfarben. Auf dem Wunschzettel ganz oben steht ein Spielertrikot mit der Nummer 12 und ihrem Namen (Vereinsführung 1. FC Köln, bitte bei der Redaktion melden).

Punkt, Satz und Sieg Zorica

Irgendwie kommen wir auf musikalische Vorlieben zu sprechen, und weil ich mich bei Schlagern nicht so gut auskenne wie sie, suchen wir nach einem gemeinsamen Nenner. Peter Maffay war es noch nicht… dann aber rockte und rollte es, weil Zorica Elvis Presley ins Spiel brachte, dessen Musik und Filme sie liebt. Das Geburtsdatum seines Idols zu wissen, das traut man einem echten Fan schon noch zu. Auch das Datum des Ablebens von Elvis war für Zorica keine Herausforderung. Angriffslustig, ob es mir gelänge, vielleicht noch etwas mehr aus ihrem Gedächtnis hervor zu zaubern, fragte ich, ob sie auch den Wochentag dieses 26. Juni 1979 wisse. „Dienstag“, retournierte sie schlagfertig aus dem Handgelenk. Punkt, Satz und Sieg Zorica. Ich hatte eine Lektion bekommen und verließ das Café nach einem interessanten und netten Gespräch mit guter Laune und etwas Erstaunen im Gesicht.

Robert Walk

Am Nachmittag in der großen und hellen Halle der Schreinerei sollte ich Herrn Walk kennenlernen. Die Werkstatt für Menschen mit Behinderung ist – wie schon das Café des St. Josefshauses – vorbildlich in Architektur und Ausstattung. Alles stimmt. Was hier aber vor allem stimmt, ist die Stimmung: eine ruhige und konzentrierte Atmosphäre herrscht – wobei das Wort „herrschen“ jetzt völlig daneben ist, denn hier herrscht niemand. Hier wird zusammen-gearbeitet und mit Sorgfalt produziert, im Auftrag unterschiedlichster Firmen, die in dieser Schreinerei ganz unterschiedliche Produkte aus Holz anfertigen oder weiterverarbeiten.

Holz ist ein Material, das mehr als andere Rohstoffe erst in der Behandlung zu seiner Qualität findet. Im Wort Behandlung ist sichtbar noch die Hand im Spiel. Herr Walk hat ein Händchen für Holz, das ist den Gruppenleitern in der Werkstatt deutlich bewusst, sie loben sein Fingerspitzengefühl. Wenn er den Dingen den letzten Schliff gibt, erspürt er jede Unregelmäßigkeit in den Oberflächen der Objekte. Oder wenn er, wie gerade bei einer schönen Tablet-Halterung aus Nussbaum, deren Holz als letzte Tat vor dem Verpacken mit Wachs versiegelt und poliert, dann fühlt sich das fertige Stück glatt, lebendig und weich an, einfach perfekt.

Da ist nicht nur Fingerspitzengefühl, da sind auch spitze Ohren

Diese Feinfühligkeit für Oberflächen ist Herrn Walk nicht nur wichtig, wenn er Produkte aus der Fertigung in der Hand hat und veredelt. Alles soll sich angenehm anfühlen. So schleift und poliert er auch seinen massiven, mit metallenen Anhängseln verzierten Schlüsselanhänger zum Handschmeichler. Seine Sensibilität beschränkt sich jedoch nicht auf das Haptische. Da ist nicht nur Fingerspitzengefühl, da sind auch spitze Ohren. Ein Gruppenleiter berichtet, wie beim Versuch eines Monteurs, eine defekte Lüftungsanlage zu reparieren, Herr Walk anderer Meinung war als dieser. Herr Walk empfahl, sich den Keilriemen anzusehen, denn er könne hören, dass dieser kaputt sei. Später dann entdeckte der Monteur: Herr Walk hatte recht, der Riemen war defekt.

Wer wünscht sich nicht solche Mitarbeiter, die sensible Sinne und dazu noch einen Sinn für Technik haben? Leider, für die Gruppenleiter, geht Herr Walk in zwei Jahren in Rente (ganz erstaunlich, denn er sieht noch lange nicht so aus) und man wird ihn vermissen. Die Gefahr, dass er im Ruhestand von Langeweile heimgesucht wird, ist auszuschließen. Als wir uns im Laufe des Nachmittags weiter unterhielten, ging es dann plötzlich um’s Ganze: um’s Universum.

Gammablitz: setzt in 10 Sekunden mehr Energie frei als unsere Sonne in Milliarden von Jahren.

Moment! „Plötzlich“ trifft es nicht so richtig, denn ehrlich gesagt, war es für mich nicht immer einfach, Herrn Walk beim Sprechen zu folgen. Seine Artikulation ist keine kleine Herausforderung gewesen, sein Lieblingsthema aber eine unendlich große. Ich versuchte, mir einen Reim zu machen aus den Worten, die da zu hören waren. Bei manchen gelang es, bei manchen nicht. In manche Begriffe brachte erst die spätere Online-Recherche Licht. Beispiele? Exoplanet: ein Planet, der außerhalb unseres Sonnensystems einen Stern umkreist und auf dem sogar Leben möglich sein könnte. Gammablitz: setzt in 10 Sekunden mehr Energie frei als unsere Sonne in Milliarden von Jahren.

Herr Walk hat klar bekannt, dass er lieber auf der Erde, statt auf einem Exoplaneten leben möchte – er ist sehr zufrieden mit seinem Leben hier. Und wir? Ein Gammablitz der Erkenntnis, dass permanente Selbstoptimierung nicht der Weg zum Glück sein kann, dürfte gern mal einschlagen. Wie werden wir schöner, gesünder, erfolgreicher, klüger? Das fragen sich für uns die smartesten Köpfe dieser Welt und schreiben Berge von Ratgeberliteratur, gießen ohne Unterlass Ströme von Videos in den Online-Ozean, damit wir daraus digitale Lebenshilfe schöpfen. Coaches, die den Weg zum Ausweg verkaufen, machen gute Geschäfte. Hilft uns das weiter? Langes zweifelndes Hmmmh… Darum zum Schluss statt kostspieliger Verwirrung ein kostenloser Rat: Schauen Sie doch einmal im »Café grenzenlos« vorbei. Das Team dort im Service kümmert sich sehr nett um Sie. Auch wenn Zorica nicht da ist, geht die Rechnung auf und die Welt zeigt sich – selbst bei Regen – von der sonnigen Seite.

Das St. Josefshaus

Das St. Josefshaus zählt zu den ersten Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen in Deutschland. Christliche Werte sind die Basis des von Sr. Theresia Scherer und Pfarrer Karl Rolfus im badischen Dorf Herten gegründeten Institution. Das St. Josefshaus begleitet Menschen mit Behinderungen und Menschen im Alter und hält dafür ein vielfältiges, auf den Einzelnen zugeschnittenes Angebot der Assistenz, Förderung und Pflege bereit. Mit Stammsitz in Rheinfelden begleiten derzeit rund 1.500 Mitarbeitende in 15 Gemeinden und Städten rund 2.400 Menschen mit Behinderungen und Menschen im Alter in unterschiedlichen Angeboten. Die Tätigkeitsfelder des St. Josefshauses umfassen Wohnen, Arbeit, Bildung, Lebensräume und Pflege.