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Ausgabe 01 Leistung

Ganz viel Liebesleistung

Redaktion: Stefanie von Stechow | Fotografie: Bernhard Spoettel und Roland Dietl

Ganz viel Liebesleistung

Familien sind die Bringer der Gesellschaft. Auch heute wollen junge Menschen mehrheitlich eine eigene Familie gründen und Kinder haben. Einfacher geworden ist das nicht. Erziehung, Beruf, Partnerschaft: Geht das alles unter einen Hut?
Die Herausforderung ist riesig. Aber es lohnt sich – trotz allem.

Wo man hinschaut: Heiteres Familienleben. Blogs berichten aus dem fröhlich-turbulenten „Family“-Alltag. Die Zeitschrift „Eltern“ schreibt „für die aufregendste Zeit im Leben“. Immer mehr Väter nutzen die gesetzlich mögliche Elternzeit. Zahllose Ratgeber helfen beim kleinen Einmaleins der Kindererziehung, und immer wieder wird der Kindergarten-Erfinder Friedrich Fröbel zitiert: Erziehung ist Vorbild und Liebe, sonst nichts. Das klingt doch herrlich unbeschwert. Geradezu kinderleicht. Kinder erziehen, das kann doch nicht schwer sein. Ein Kinderspiel eben. Oder etwa doch nicht?

Papa hilft mit, wenn er denn da ist

Im täglichen Leben fühlt sich Kindererziehung oft anders an. Wenn Simone Müller, Realschullehrerin aus Regensburg, mit ihrem zweijährigen Sohn Silas und der acht Monate alten Laila-Maria die Drei-Zimmerwohnung an der Donau verlässt, dann will Silas nicht immer auf dem Kiddy-Board am Kinderwagen stehen, wie er sollte. Oder mit dem Dreirad in dieselbe Richtung radeln, wie Mama will. „Manchmal ist er mir abgehauen, und ich musste den Kinderwagen einfach stehen lassen, um ihn wieder einzufangen“, erzählt die junge Mutter. „Man fragt sich oft, wie man es richtig macht, besser machen kann.“ Essgewohnheiten, Konflikte friedlich lösen, Verhalten im Verkehr – einen lebhaften Zweijährigen muss man erziehen. Um seiner selbst willen, und, damit das Zusammenleben in der Familie und später in anderen Gemeinschaften funktioniert. „Ich bin da schon manchmal unsicher“, sagt die 32-jährige Simone und schaut ihren Mann an: „Ich bin sehr froh, dass Olaf sich viel einbringt, dass er mitdenkt. Wir tauschen uns aus, stimmen uns ab. Er ist viel gelassener als ich. Und wenn er da ist, nimmt er mir viel ab.“ Wenn er da ist!

Olaf Müller ist Mathematiker. Er arbeitet in Berlin. Drei Tage die Woche ist er unterwegs, dienstags früh setzt er sich in den Zug, donnerstags spät abends ist er zurück in Regensburg. Er ist froh über die Anstellung, wollte immer in Forschung und Lehre arbeiten. Eine Bewerbung für eine ordentliche Professur an einer anderen Universität läuft. „Wenn sich alles geklärt hat, ziehen wir um “, sagt er. Aber noch ist Simone fast die Hälfte der Woche allein mit Silas und Laila-Maria. So ist das heute in vielen Familien. „Wir haben keine Großeltern in Regensburg, keine Geschwister hier“, sagt sie. „Das ist manchmal schon brutal anstrengend.“ Gleichzeitig ist sie dankbar für ihre gesunden Kinder, freut sich über Lailas erste Gehversuche und Silas’ viele neugierige Fragen. „Er kann schon so viel und versteht noch so wenig“, staunt sie. „Es ist eine spannende Zeit. Aber man muss auch sehr aufpassen.“
Kindererziehung, das ist zu Anfang ganz viel Liebe und – Aufmerksamkeit. Es ist das Glück des ersten Lächelns und der ersten Worte, die bedingungslose Liebe eines Kleinkindes, das grenzenlose Vertrauen der Kinder in ihre Eltern. Aber auch: Kinder vor Gefahren schützen, die sie noch nicht kennen, sie stark machen für die Welt, in der wir leben. Und sie auf ein Leben in der Gemeinschaft vorbereiten. Denn ohne Rücksichtnahme und Regeln geht es nicht. Für junge Eltern gleicht Kindererziehung oft einem mehrfachen Spagat.

Und dann beginnt ein völlig anderes Leben

Diesen Spagat zu stehen, kostet Kraft, oft schmerzt es ganz schön. Doch Kinder sind das wert.

„Es ist wahnsinnig schön, aber es ist eben ein völlig anderes Leben als zuvor“, sagt Maria König-Peronio, Mutter einer einjährigen Tochter. „Da kann man noch so viele Baby-Bücher gelesen haben – die ersten Wochen waren eine Riesenumstellung.“ Das neue Fremdbestimmt-Sein, die Anstrengung der durchwachten Nächte, die Verantwortung, die verrinnende Zeit. „Man kam zu nichts anderem mehr, hat sich so viele Sorgen gemacht“, erzählt die junge Mutter, die zuvor als Online-Redakteurin in Regensburg arbeitete. Inzwischen geht Maria ganz in ihrer Aufgabe als Mutter auf: „Jetzt kommt es mir wie eine Ewigkeit vor, dass ich gearbeitet habe“, lacht sie. „Es hat sich alles eingependelt, man muss es einfach leben. Ich nehme die schönen Momente jetzt viel intensiver wahr, hab gelernt, gut durchgeplant zu sein.“
Auch zur wöchentlichen Chorprobe kann Maria wieder gehen, dann passt ihr Mann Angelo auf. Er ist Italiener und arbeitet als Physiker in Regensburg. Gleich nach der Geburt und sechs Monate später hat er noch einmal Elternzeit genommen. „Das war ihm sehr wichtig, er wollte so viel wie möglich von der Kleinen mitbekommen“, erzählt Maria. „Er ist auch total lieb mit ihr, kann alles, macht alles.“ Inzwischen arbeitet Angelo Peronio wieder. Für Freizeit, Ausgehen, Sport haben beide Eltern jetzt kaum noch Zeit. Aber: „Dafür laden wir jetzt öfter Freunde zu uns nach Hause ein“, so Maria. „Das haben wir früher nicht gemacht.“ Maria und Angelo wollen weitere Kinder haben, diskutieren jetzt schon gelegentlich über Erziehung. „In Italien wird manches anders gemacht“, erzählt Maria. „Ich bin gespannt, wie das einmal wird.“

Familie haben, Familie leben, das ist ein großes Glück, aber auch eine große Verantwortung. Und wenig Lohn. Finanziell sowieso nicht, wer gerade kleine Kinder zu Hause hat, kann und will oft nicht mehr so arbeiten wie zuvor. Gleichzeitig hat das Statistische Bundesamt errechnet, dass ein Kind bis zum 18. Lebensjahr insgesamt rund 130.000 Euro kostet, wenn es zur Ausbildung dann auszieht oder studieren will, kommen nochmal bis zu 100.000 Euro hinzu. Statistisch gesehen sinken bei mehreren Kindern die Kosten im Haushalt zwar wieder, aber das sind nur Statistiken. Die tatsächliche Herausforderung beschreiben sie nicht: Die wachsende Familie braucht mehr Platz, kostet mehr Geld, die moderne Berufswelt fordert Angestellten, Arbeitnehmern und Selbständigen hohen Einsatz, hohe Mobilität ab. Zeit und Kraft für die Familie leiden darunter.

„Ich kann mich ja in der Familie vom Job erholen, und im Job von der Familie.“

Auch Olaf Müller steigt, sobald er aus Berlin zurückkommt, bei Haushalt und Kindern mit ein: Wäsche, Einkauf, Wickeln, Baden, Spielen. Eigentlich muss er an seinen Tagen zuhause auch die Skripte für die nächsten Vorlesungen erstellen. Gleichzeitig will Silas mit ihm spielen oder „auch arbeiten“ – dann malt er auf den eigenen Blättern ebenso gern herum, wie auf denen seines Vaters. „Ich arbeite dann abends, wenn die Kinder schlafen“, sagt der Vater. Er ist froh über den Job in Berlin, weiß aber auch, dass er seiner Frau einiges abverlangt. „Ich kann mich ja in der Familie vom Job erholen, und im Job von der Familie“, sagt er lachend.

Gesellschaftliche Anerkennung? Fehlanzeige

Der Spagat zwischen Familie und Beruf, zwischen Freude an den Kindern und Kraft, die sie kosten – die meisten Eltern wissen, er lohnt, er ist es wert. Doch in erster Linie müssen sie diese Freude, diese Kraft selbst aufbringen. Gesellschaftliche Anerkennung erfahren Mütter, die sich vorrangig um die Kinder kümmern, heute kaum noch. Auch Väter, die in Elternzeit gehen oder Teilzeit arbeiten, müssen sich diese Rolle hart erkämpfen – oder Karriere-Rückschritte in Kauf nehmen. Wer Anerkennung und Erfolg sucht, sucht das im Beruf, wer sich um das finanzielle Auskommen der Familie sorgt, arbeitet. Und der Staat steuert mit: Rechtsansprüche auf Krippen- und Kindergartenplätze sollen beiden Eltern die Möglichkeit geben, schon ab dem ersten Lebensjahr ihrer Kinder wieder berufstätig zu sein. Die Wirtschaft verlangt nach Arbeitskräften. Für viele Eltern sind Krippen eine organisatorische Hilfe, um den Alltag zu bewältigen. Doch viele ringen auch mit der Mehrfachbelastung von Familie, Haushalt und Beruf, mit der frühen Trennung von ihren Kindern. „Ich möchte gern so lange wie möglich für meine Kinder da sein“, sagt Maria König-Peronio. „Aber…“

Kindererziehung ist Liebe und Vorbild, sonst nichts? Neben finanziellen und organisatorischen Fragen, neben Liebe und Zeit füreinander braucht Kindererziehung auch einen inneren Kompass. Und der scheint vielen Eltern verloren gegangen zu sein. Erziehungsratgeber und -Blogs werden von Millionen von Menschen gelesen. Bücher, die wieder auf mehr Autorität und Disziplin setzen, werden zu Bestsellern. Andere Bücher betonen, das Kind sei ein freiheitliches Individuum, ein gleichberechtigtes Mitglied der Familiengemeinschaft. Auch sie finden reißenden Absatz. Einerseits sollen Babyschwimmen, Früh-Englisch und Geigenunterricht ab dem Kindergartenalter einen möglichst guten Start in unsere globalisierte, leistungsorientierte Gesellschaft ermöglichen, andererseits betonen die Erziehungswissenschaftler die Bedeutung der individuellen Entwicklung, des unbeschwerten Kind-Seins, der kreativen Langeweile. Von der Gefahr des übermäßigen Medienkonsums ganz zu schweigen. Die Vielfalt der auf jedem Spielplatz diskutierten Erziehungsansätze führt zu Versagensängsten und Beliebigkeit: „Starke Eltern – Starke Kinder“ heißt ein landesweites Kursangebot des Deutschen Kinderschutzbundes für verunsicherte Eltern. Und die Nachfrage steigt von Jahr zu Jahr.

20 Waschmaschinen pro Woche

Bei Familie Pinzer in Pullenreuth in der Oberpfalz helfen alle Kinder mit, beim Aufräumen und Abspülen, im Garten, bei der Wäsche, bei den Reparaturen am Haus. In der Pinzer-Küche findet immer vieles gleichzeitig statt: Hausaufgaben, Brotzeit, Kochen, Abspülen, aber auch Spielen, Ausruhen, Reden. Mutter Sandra telefoniert wegen eines Arzttermins, kontrolliert die Matheaufgaben des achtjährigen Max, richtet die Brotzeit her. Sie bittet Nicolai, 13 Jahre alt, die Wasserkästen wegzuräumen, sieht aus dem Augenwinkel, wie Max mit einem Messer davonläuft. „He! Ist das scharf?“, ruft sie hinterher – zum Glück nicht. „Man muss halt immer aufpassen“, sagt Oma Rita schulterzuckend.
Die 16-jährige Vanessa hält den kleinen Raimund auf dem Arm und schäkert liebevoll mit ihm.
Sandra und Raimund Pinzer haben sechs Kinder, Großmutter Rita und Großvater Alois leben auch auf dem Hof, und alle treffen sich regelmäßig in der Küche. In den Trubel hinein sagt Vanessa nebenbei: „Mama, eh ich’s vergess’, ich hab einen Einser in Bio geschrieben.“ Und Mutter Sandra ist erfreut, aber nicht überrascht. Vanessa ist eine ordentliche Schülerin, hat bereits eine Lehrstelle, als Anstreicherin, wie ihr Vater. Erziehungsleistung? Sandra überlegt: „Na klar, ordentlich grüßen, Zimmer aufräumen, Tischbräuche, anständig sein, das ist wichtig. Alle müssen mithelfen, was schaffen, was Ordentliches lernen.“
Gut schaut das bisher aus, bei ihren Großen, das muss sie sagen. Trotz der 15 bis 20 Maschinen Wäsche pro Woche, trotz der vielen Aufgaben in Haus und Hof, für Schule, Arbeit, Großfamilie. Bücher lesen, Erziehungsratgeber? „Nein“, lacht die sechsfache Mutter. „Dazu hab ich keine Zeit.“ Bescheiden ist sie, zufrieden: „Hauptsache ist doch, dass alle gesund sind.“ Auch sie hat vor ein paar Jahren versucht, wieder ein paar Stunden pro Woche zu arbeiten. „Aber es war einfach zu viel, es ging nicht“, sagt sie schulterzuckend. Sandra hat sich entschieden. Für alles im Leben gibt es eine Zeit: „Wir wollten doch die vielen Kinder. Das ist halt meine Aufgabe. Und ich mach’s gern.“