Skip to main content
Ausgabe 02/22 Vertrauen

Das letzte Hemd hat keine Taschen

Lesedauer: ca. 7 Min. | + Video zum Beitrag

Autor: Uwe Peters | Fotos: Bernhard Spoettel

Das letzte Hemd
hat keine Taschen

„Das ist wie ein Tornado, ein furchtbares Erdbeben, was man live erlebt“, beschreibt Perko den Moment, als ihm seine Ärzte mitteilen, dass er an einem bösartigen Tumor, an Prostatakrebs, erkrankt ist. Aufgrund seines noch jungen Alters, mit Anfang 40, an einer sehr aggressiven Art. Es zieht ihm den Boden unter den Füßen weg.

Die Ärzte raten ihm, sofort mit verschiedensten Therapien anzufangen und sich gleich von einem Palliativ-Psychologen auf das Schlimmste vorbereiten zu lassen. Wem und was soll er jetzt noch vertrauen? Alles was bis dahin zählt, verliert schlagartig seine Bedeutung.

Perko, so nennen ihn seine Freunde schon seit seiner Kindheit, ist etablierter Fotograf, hat in Aachen und Dortmund erfolgreich Kommunikationsdesign studiert, und schon immer als Selbständiger gearbeitet. Er liebt die kreative Freiheit und Unabhängigkeit. Perko hat alles, wovon ein junger, kreativer Mann träumt. Eine Wohnung mit Blick auf den Rhein, einen großen Freundeskreis, intakte familiäre Beziehungen, ein gut laufendes Foto-Atelier mit dem er die „wirtschaftliche Rallye des Alltags“, wie Perko seinen Lohnerwerb liebevoll nennt, meistert. Er hat das Leben vor sich. Alles scheint prima zu laufen. Bis Ärzte diesen Lauf durch die Diagnose „Metastasierter Prostatakrebs“ rapide einbremsen.

Man hat mir klar gemacht, ich muss sofort mit den Therapien anfangen

Perko

Die Diagnose „Tumorerkrankung“ ist ein Schock für den lebensfrohen Wahl- Düsseldorfer. „Ich fühlte mich derart desorientiert. Diese Welt der Krankheit war mir bisher nur als Fotograf bekannt. Für einen Kunden habe ich oft in einer Krebsstation, in onkologischen Zentren fotografiert. Und plötzlich war ich mittendrin. Als Patient.“

Perko merkt damals, wie ihm alles entgleitet. Eine rationale Entscheidung ist für ihn nicht möglich. Auch auf sein Bauchgefühl konnte er sich nicht mehr verlassen. „Mein größtes Vertrauen, mein Vertrauen in mich selbst, dass ich Werte in mir trage, auf die ich mich verlassen kann, die mir wichtig sind, die sich immer wieder bestätigt haben, dass mein Weg, meine Entscheidungen die richtigen waren, das alles zählte auf einmal nicht mehr.“

Perko muss sich auf die Einschätzung und Diagnose der Ärzte verlassen, muss plötzlich einem anderen, einem eigentlich Fremden mehr vertrauen als sich selbst. „Ich musste Vertrauen abgeben und Ärzte finden, mit denen ich ein gutes Patient-Arzt-Verhältnis emotional aufbauen konnte. Heute bin ich sehr dankbar, dass das funktioniert hat. Diese neuen Vertrauensbeziehungen waren enorm wichtig und haben mir extrem viel Lebensqualität geschenkt.“

Angst - sein neuer, ständiger Begleiter

Eigentlich ist Perko kein „Danger-Freak“, wie er über sich selbst sagt. „Wir leben doch fast alle eigentlich in einem sehr geschützten Raum und müssen keine Angst haben.“ Und plötzlich ist da diese Angst. Die Angst, das Leben zu verlieren. Das letzte Hemd, gebügelt in Sichtweite. „Da sind Operationen, Behandlungen, Therapien, das alles sind keine Kräutertee-Infusionen. Das war schon heftig, was da auf mich zugerollt ist. Da kann man schon mal Angst kriegen.“

Wie das für ihn damals war, ob er sich noch an den Moment erinnern kann, was er gedacht und gefühlt hat, als er als Patient die onkologische Abteilung betreten hat, wollen wir von Perko wissen. „Das ist für Männer eine der größten Abenteuerreisen. Als Mann erlebt man da Sachen, die möchte man eigentlich nicht erleben. Stichwort ,primäre Sexualorgane‘. Ich glaube, kein Mann möchte das wirklich gerne erleben, was man dort an den stationierten Patienten sieht.“ Perkos Stimme stockt. Wir müssen unser Gespräch kurz unterbrechen.

„Eigentlich ist das sehr gut, was gerade passiert ist“, führt Perko fort, „weil das genau zeigt, was für ein starker Trigger Angst ist. Die Frage hat mich genau an den Moment zurückgebracht.“ Perkos Sätze werden kurz und unvollständig. Sein Gesicht spricht Bände. „Das ist jetzt sechs Jahre her. Und ich merke, ich habe diesen Moment noch nicht verarbeitet. Ich dachte ich hätte es. Hab ich aber nicht.“

Eine OP, die dein Leben komplett verändern wird

Perko

„Was mir damals geholfen hat, war Humor“, fährt Perko nach einer Pause fort. „Wenn man vor Verzweiflung kaum noch weiß, was man sagen könnte, ist Humor wunderbar. Der einzige Ausweg.“ Sein Arzt, zu dem Perko von Anfang an eine vertrauensvolle Beziehung entwickelt, ist ihm eine große Stütze, hilft ihm die Angst vor der OP zu überwinden. Die besagte OP wird sein Leben komplett verändern. „Sie hat mir einen großen, einen sehr großen Faktor Lebensfreude genommen. Das war der größte Verlust meines Lebens. Ich bin gesegnet mit ein paar sehr, sehr guten Freunden in meinem Leben. Sie alle haben mir sehr geholfen. Aber wie gesagt, der Flurschaden ist geblieben.“

Die Zeit - die neue Währung seines Lebens

Perko entschließt sich dazu, zum ersten Mal in seinem Leben einen Urlaub ganz alleine zu unternehmen. Er will das alles verarbeiten. Zu sich kommen. Sein „persönliches Kloster“, wie Perko seinen Urlaubsort nennt, ist ein Tennisclub in Kroatien. Er will die erste Schockwelle, die er mit seinen Freunden und der Familie erlebt hat, hinter sich lassen. Sein neues Ich kennenlernen. „Die Währung, die man in der Ruhe neu lernt, ist Zeit. Zeit ist von da an die Währung deines Lebens. Geld, Gewinne, Ausschüttungen eines Aktiendepots, das alles zählt nicht mehr. Alles was man noch an Kapital sieht, ist Zeit.“

Perko findet, was er gesucht hat. Er kann sich mit der neuen Situation arrangieren. Findet seinen inneren Frieden und wird „reich beschenkt“, wie er sagt. Denn Perko trifft die Frau seines Lebens. „Ich war 47 Jahre alt. Und ich habe noch nie jemanden gefragt, ob er mich heiraten will. Aber hier war ich mir gleich hundertprozentig sicher.“ Seine Frau weiß um seinen Gesundheitszustand. Sie weiß, es wird nicht leicht. Trotzdem sagt sie Ja. „Plötzlich hatte ich das Vertrauen, das Vertrauen auch in einen anderen Menschen. Diese Erfahrung war unglaublich schön für mich“, erinnert sich Perko.

Das Gebet als Quelle der Beruhigung

Im Gebet finden Perko und seine Frau Trost und Halt. „Ich weiß nicht, wie häufig ich das Vaterunser gebetet habe. Aber jedes Mal ist es mir eine Quelle der Ruhe, der Beruhigung, die mir guttut“, schildert Perko seine Gefühlswelt. Im Gebet finden sie Gemeinschaft. „Einer meiner Freunde ist in seiner Kirchengemeinde sehr engagiert. An einem Sonntag hat er mit der ganzen Gemeinde für mich gebetet. Eine ganze Gemeinde mit mehreren 100 Leuten. Das hat mich sehr ergriffen. Dieser Gemeinschaftsgedanke, einer der wichtigsten christlichen Werte, wie ich finde, hat uns alle, meine Familie, meine Frau und mich, getragen. Der Glaube ist eine essenzielle Energiequelle für all diese Abschnitte.“

Perkos Frau ist gläubig und zieht sehr viel Kraft aus ihrem regelmäßigen Gebet. Für Perko ist das ein Segen. „Sie hat mich mit ihrer positiven, hoffnungsvollen Art und ihrer Kraftquelle angesteckt. So wie sie ihren Glauben vermittelt, ist das wie eine Energiequelle, die in mich reinfließt.“ Natürlich wird auch viel geweint. Die beiden lassen im Gebet ihrer Seele freien Lauf und schütten ihre Herzen aus. „Es tut gut, dass man gemeinsam an etwas glaubt.“

Die Krankensalbung - Seelenmedizin und Stärkung

Das Paar entschließt sich, für Perko bei einem befreundeten Priester eine Krankensalbung zu erbitten. Früher wurde das Sakrament vor allem Sterbenden gespendet, der Volksmund nannte es deshalb auch „letzte Ölung“. Heute wird es wieder „jenen gespendet, deren Gesundheitszustand bedrohlich angegriffen ist“, wie es in offiziellen Kirchentexten heißt. So wie bei Perko. Das Sakrament schenkt Trost, inneren Frieden und mobilisiert dadurch nicht selten auch Kräfte, die den Körper auch physisch stärken. „Die Krankensalbung war sehr intim. Bei uns zuhause. Ein sehr spiritueller Moment in unserem Leben. Unvergesslich! Denn bei meiner Frau kamen ihre Kindheitserinnerungen und ihre religiöse Sozialisation in ihr hoch. Sie erzählte wirklich ganze Historien und ich war total fasziniert davon, wie die Kranksalbung diesen schönen Moment freigesetzt hatte.“

„Wir haben ein großes, offenes Wohnzimmer, wo ein großer Tisch steht. Der Priester legte also sein Ornat an und begann die Zeremonie. Ich habe die ganze Zeit die Hand meiner Frau gehalten, und sie fing an zu zittern. So hatte ich meine Frau noch nie erlebt. Sie war immer stark. Das war wirklich ein unvergleichlicher Moment. Eine connected-Spiritualität. Wir fühlten uns wahnsinnig verbunden in diesem Triumvirat. Das Ganze hat uns allen sehr viel Hoffnung geschenkt. Für uns war das nicht der letzte Schritt vor meinem Ableben. Es war ein Aufbruch. Ein ‚wir bekommen das hin‘-Gefühl. Mir und meiner Frau hat das sehr gutgetan. Wir haben viel Hoffnung und Vertrauen gespürt und geschenkt bekommen. Allein der Satz des Priesters ‚da ist schon ein himmlisches Apartment mit deinem Schild an der Klingel, was auf dich wartet‘, allein dieser Satz hat mir große Hoffnung gemacht.“

Bei aller Hoffnung, die ihm die Kranksalbung schenkt – Perko weiß, dass seine Tage gezählt sind, wenn nicht noch ein medizinisches Wunder geschieht. Er will die Zeit nutzen, die ihm noch bleibt. Das Leben, die wesentlichen Dinge, auf die es ankommt, genießen. Es ist keine Abschiedstour, auch wenn das so scheint. „Eine der großen Qualitäten des christlichen Glaubens ist die Vergebung. Wir haben eine wunderbare Kultur und Tradition der Vergebung. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich die Möglichkeit hatte, ein Gespräch mit Wegbegleitern zu führen, um mich teilweise zu entschuldigen, zu bedanken, zu erklären. Die Erfahrungen, die ich daraus mitgenommen habe, die waren alle unglaublich menschlich positiv.“

Bei allem was Perko erlebt und geschildert hat, wir haben einen erstaunlich klar denkenden und nach vorne schauenden Mann angetroffen. Einen Mann, der um seine Situation weiß, und sie mithilfe seines Glaubens, seiner Frau, seiner Familie und Freunde angenommen hat. Der die Wertschätzung der eigenen Zeit, der eigenen Lebenszeit, der eigenen Existenz vollkommen neu erfahren hat. Das letzte Hemd hat keine Taschen. Was am Ende zählt, sind die vertrauensvollen, die echten Beziehungen. Das hat uns Perko mit seiner Lebensgeschichte eindrucksvoll gezeigt.

Vimeo

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von Vimeo.
Mehr erfahren

Video laden