Skip to main content
Ausgabe 02/22 Vertrauen

Gott wollte mich nicht gehen lassen

Lesedauer: ca. 8 Min. | + Video zum Beitrag

Autor: Johannes Seemüller | Fotos: Bernhard Spoettel

Gott wollte mich nicht gehen lassen.“

– Das neue Leben des Babak Rafati

Im November 2011 versucht sich Top-Schiedsrichter Babak Rafati kurz vor einem Bundesligaspiel das Leben zu nehmen. Ihn plagen Ängste und Depressionen. Er überlebt, wird wieder gesund, kehrt aber nie mehr in die Bundesliga zurück.

Heute wirkt der 51-Jährige gereift und in sich ruhend. Rafati arbeitet seit Jahren erfolgreich als Mentalcoach und Keynote-Speaker – und hat wieder großes Vertrauen ins Leben.

Babak Rafatis Glück trägt einen Namen: Etienne. Rafatis Sohn ist erst wenige Wochen alt. Etienne schläft im Nebenzimmer, behütet von seiner Mutter Rouja, während wir unser Interview führen. Der Name Etienne bedeutet „der Gekrönte“. Rafati strahlt über beide Ohren. „Er ist die Krönung unserer Liebesgeschichte. Wir sind wahnsinnig glücklich.“ Mit 51 ist Rafati zum ersten Mal Vater geworden. Begeistert spricht er vom „Wunder des Lebens“.

Im November 2011 denkt Rafati ganz anders über sein Leben. Er will es beenden. Es ist für ihn eine einzige Qual. Der damals 41-jährige Fußball-Schiedsrichter soll am Samstag das Spiel 1. FC Köln gegen Mainz 05 pfeifen. Sein 85. Bundesliga-Einsatz. Am Freitagabend reist Rafati mit seinen Schiedsrichter-Kollegen an. Er geht auf sein Zimmer. „Alles war an diesem Abend so nebulös“, erinnert er sich. In seinem Kopf spielt sich ein „brutal hässlicher, unmenschlicher Film“ ab.

Seit anderthalb Jahren ist seine Leidenschaft für den Schiedsrichter-Job verschwunden. Er hat in manchen Spielen krasse Fehlentscheidungen getroffen, er ist von den Medien schlecht benotet und von den Fans beschimpft worden. Die Fußballprofis haben ihn drei Mal zum „schlechtesten Schiedsrichter“ gewählt, Journalisten lästern in ihren Berichten über Schiri „Babak Tomati“. Dabei hat der Deutsche Fußball-Bund (DFB) ihn erst drei Jahre zuvor zum internationalen FIFA-Schiedsrichter ernannt. Rafati gehört zu den Top 10 in Deutschland.

Doch seit einem Personalwechsel an der Spitze der DFB-Schiedsrichter- Kommission fühlt er sich ungerecht behandelt. „Jeder darf einen Fehler machen – nur du nicht, Babak“, erinnert sich Rafati an eine Äußerung des neuen Schiri-Chefs Herbert Fandel. Er hat Rafati auf dem Kieker. „Im Gegensatz zu dir wurde ich als Schiri von den Spielern wenigstens akzeptiert.“ Sätze wie Messerstiche. Nicht nur Fandel, auch Hellmut Krug habe ihm das Leben schwer gemacht, sagt Rafati. Krug ist bei der Deutschen Fußball Liga (DFL) für die Referees zuständig. „Ihre Kritik ging ins Persönliche. Diese Attacken haben mir komplett mein Vertrauen genommen.“

Nachts steckt Rafati in einer Gedankenspirale. Er grübelt viel, an Schlaf ist nicht zu denken. Ängste plagen ihn: Bin ich noch gut genug für die Bundesliga? Selbstzweifel fressen sich in seine Gedanken: Was passiert, wenn ich den nächsten Fehler mache?

Aus dem lebenslustigen Kerl mit dem sonnigen Gemüt ist ein verunsicherter Mann geworden. Ausgerechnet dieser Erfolgsmensch, der 2005 als erster deutscher Schiedsrichter mit Migrationshintergrund (Rafati ist Sohn iranischer Eltern) den Sprung in die Bundesliga geschafft hat. Dieser angesehene Mann, der als Führungskraft einer Bank äußerst beliebt ist. Rafati, sonst stets selbstbewusst im Auftreten, verliert peu à peu das Vertrauen in sich selbst.

Im Männerclub der besten deutschen Schiedsrichter ist kein Platz für mentale Probleme. Hier muss jeder funktionieren. Schwächen und Unsicherheiten sind verpönt. Ein Schiedsrichter hat klare Entscheidungen zu treffen und eine überzeugende Körpersprache zu demonstrieren. Die Kollegen bekommen zwar mit, dass sich Rafati von seinen Bossen unter Druck gesetzt fühlt, über seinen labilen psychischen Zustand wird jedoch geschwiegen. Rafati hat kein großes Vertrauen zu den anderen Schiris. Schließlich sind sie nicht nur Kollegen, sondern auch Konkurrenten.

Seine Verlobte Rouja leidet mit. Sie spürt, was ihr Partner durchmacht. Wenn am Sonntagmorgen, am Tag nach dem Spiel, das Telefonat mit Fandel ansteht, verdrückt sich Rafati in die Küche. „Ich wollte nicht, dass meine Partnerin sieht, wie gedemütigt und schwach ich mich fühle. Ich wollte mein Gesicht nicht verlieren.“

Als Rafati allein in seinem Hotelzimmer ist, denkt er nicht daran, sich etwas anzutun. Er hat überhaupt keinen Plan. Er will nur diesen unerträglichen Horrorstreifen in seinem Kopf ausschalten. Dann verliert er plötzlich die Kontrolle. Alles passiert im Affekt. „Ich habe in diesem Moment nach allem gegriffen, was mir in die Hände kam und habe es als Waffe gegen mich eingesetzt.“ Es sei ein Kampf auf Biegen und Brechen gewesen, erzählt er. „Ich hätte am liebsten die Zimmertür aufgerissen und in die Welt hinaus gebrüllt. Ich wollte doch nur als Mensch gesehen werden.“ Rafatis Suizidversuch ist ein verzweifelter Hilfeschrei.

Wir alle haben irgendwo eine verwundbare Stelle.

Babak Rafati

Rafati ist überzeugt, dass sein Schwachpunkt das Thema Ungerechtigkeit war. Er fühlte sich von seinen Vorgesetzten beim DFB und bei der Deutschen Fußball Liga ungerecht behandelt. „An diesem Punkt war ich verletzlich und habe emotionaler als andere Menschen reagiert.“

Dieser wunde Punkt rührt aus seiner Kindheit. Rafati wuchs in Teheran, der Hauptstadt Irans, auf. Seine Eltern hatten sich getrennt, Sohn Babak wusste davon nichts. Als Achtjähriger sah er plötzlich seine Mutter mit einem anderen Mann. „Das war für mich eine Katastrophe. Mein Vater war zu diesem Zeitpunkt in Deutschland. Als er uns besuchte, habe ich ihn gebeten, mich nach Deutschland mitzunehmen. Ich hatte kein Vertrauen mehr zu meiner Mutter, weil sie mich ungerecht behandelt hatte. Ich bin vor ihr gefl üchtet. Diese Situation hat mir den Boden unter den Fü.en weggezogen.“ 33 Jahre später bricht seine Welt wieder zusammen.

Heute, nach Therapie, vielen Gesprächen und der Lektüre von über 300 Büchern, verfügt Rafati über einen Wissensschatz, der ihm damals fehlte. Mittlerweile kann er mit seiner inneren Verletzlichkeit und den Respektlosigkeiten anderer Menschen souveräner umgehen. „Solche Menschen führen häufig einen Kampf mit ihrem inneren Ich und tragen diesen Kampf dann nach außen. Sie greifen andere Menschen an. Ich habe dieses Spiel damals mitgespielt, ich bin darauf reingefallen.“ Inzwischen durchschaue er diese Muster. „Ich lasse das an mir abprallen und spiele den Ball zurück. Wenn man das versteht und beherrscht, lebt man stressfreier.“

Ein großer Fehler sei gewesen, dass er sich fast ausschließlich über seine Schiedsrichter-Tätigkeit definiert habe. „Dabei war ich im privaten Bereich super glücklich. Ich hatte eine tolle Freundin und war in der Bank erfolgreich. Aber ich habe den Schiedsrichter-Job zu wichtig genommen.“ War er als Unparteiischer erfolgreich, ging es ihm gut. Mit zunehmender Kritik kamen jedoch Selbstzweifel und Depressionen.
Er selbst sei auch ein Mr. Perfect gewesen. „Man kommt nie am Ziel an, weil es noch nicht genug ist. Man will immer mehr.“ Er sei nie zufrieden gewesen. „Dieser Hang zum Perfektionismus ist sehr gefährlich. Wenn jemand perfekt sein will, ist er unmenschlich. Dabei sind wir doch Menschen. Wir dürfen Fehler machen. Fehler sind wichtig für unsere Entwicklung.“

Samstag, 13:30 Uhr. In der Lobby des Kölner Hotels warten die Schiedsrichter-Assistenten auf Babak Rafati. Termin für die Abfahrt ins Stadion. Rafati ist noch nie zu spät gekommen. Doch dieses Mal erscheint er nicht. Weder auf dem Handy noch auf seiner Zimmernummer ist er erreichbar. Sie fahren in den fünften Stock und hämmern gegen seine Tür. Eine Hotelangestellte kommt und schließt auf. Die Schiedsrichter-Assistenten finden ihren Kollegen in einem kritischen Zustand.

Drei Stunden später wacht Rafati in einer Klinik auf. „Ich hatte brutale Schamgefühle. Oh Gott, was denken die jetzt alle von mir? Ich bin der kleine, schwache Babak, der alles falsch gemacht hat.“ Er erinnert sich an einen Spruch von Schiri-Chef Fandel: „Dieser Sport verbrennt Menschen.“ Genau das ist ihm jetzt passiert. Das Bundesliga-Spiel zwischen Köln und Mainz wird abgesagt, die Fans werden nach Hause geschickt. Zum ersten Mal im deutschen Profifußball fällt ein Spiel aus, weil der Schiedsrichter nicht erscheint. DFB-Präsident Theo Zwanziger informiert in einer Pressekonferenz, was passiert ist. Die Nachricht, dass Babak Rafati einen Suizidversuch unternommen hat, geht um die Welt. Viele Menschen sind schockiert, aber zugleich auch froh, dass der Schiedsrichter lebt.

Rafati selbst empfindet keine Erleichterung. „Ich hatte nicht nur Scham-, sondern auch Schuldgefühle. Ich dachte, meine Familie würde mir nicht verzeihen. Ich war überzeugt, dass mich meine Frau verlassen würde.

Als Rouja in Hannover von der Polizei über den Vorfall informiert wird, setzt sie sich sofort ins Auto. Gegen den Rat der Beamten fährt sie in ihrem aufgewühlten Zustand die 300 Kilometer nach Köln. „Sie kam durch die Tür, ist auf mich zugelaufen und hat mich einfach nur in den Arm genommen. Ich wusste, sie hat mich doch nicht verlassen. Rouja ist für mich wie ein Sechser im Lotto. Ohne sie würde ich nicht hier sitzen. Sie ist ein ganz wichtiger Faktor, warum ich heute so gesund bin.“

Wie sehr Rouja ihren Babak liebt, beweist sie sieben Monate später. Die beiden heiraten. „Einen größeren Liebes- und Vertrauensbeweis gibt es nicht“, strahlt Rafati. Die Liebe seiner Frau beschleunigt auch seinen Heilungsprozess. Dieser beginnt mit einem Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik.

Die Therapie dort wird zu seinem „zweiten Sechser im Lotto“. Rafati: „Ich habe die schönste Begegnung meines Lebens machen dürfen, nämlich die mit mir selbst. Ich dachte, ich bin Führungsperson in einer Bank, FIFA-Schiedsrichter und Weltmann. Ich habe mich über mein Bild nach außen definiert. Dabei wusste ich gar nichts über mein Inneres. Ich musste erst meine Gefühlsebene und meine Ressourcen kennenlernen.“

Während der Therapie darf Rouja tagsüber stundenlang in seiner Nähe sein. Dadurch lernt sie zu verstehen, was in ihm vorgegangen ist. „Ihr Glaube an mich hat mich elektrisiert und mich schneller gesunden lassen.“ Ihr Liebesband ist seit seiner Verzweiflungstat stärker denn je. „Diese Lebenskrise hat uns noch näher zusammengebracht. Heute sind wir nicht nur Eheleute, sondern auch die besten Freunde. Wir arbeiten inzwischen sogar zusammen. Das Leben ist schön.“

Trotzdem gibt es in den ersten Jahren nach dem Vorfall Momente, in denen Rouja sich große Sorgen macht und in Panik verfällt. Wenn Rafati nicht pünktlich nach Hause kommt, ruft sie ihn sofort auf dem Handy an. „Ich habe unterschätzt, was dieses traumatische Erlebnis mit ihr gemacht hatte“, sagt er. Auch Rouja holt sich professionelle Hilfe, um die ganze Geschichte zu verarbeiten. „Als ich nach drei Jahren geheilt war, konnte sie immer mehr ihre Ängste ablegen und mir wieder vertrauen.“

Auch das Vertrauen seines Vaters wurde nicht erschüttert. „Ich hatte ihn aus dem Krankenhaus angerufen und um Verzeihung gebeten. Mein Vater sagte nur: ‚Komm nach Hause, Junge, ist alles gut.‘ Er hat mir niemals irgendwelche Vorwürfe gemacht. Das werde ich nie vergessen.“

Etienne, der bisher im Nebenzimmer wie ein Murmeltier geschlafen hat, ist aufgewacht. Mama Rouja wiegt ihn liebevoll in ihren Armen. „Am Ende sind es die Liebe und das Selbstwertgefühl, die uns oft fehlen“, sagt Rafati, während er verliebt zu Frau und Sohn herüberschaut. „Wir wollen unserem Kind so viel Vertrauen schenken, dass es später mit breiter Brust rausgeht, zu sich steht und auch über Fehler sprechen kann. Bedingungslose Liebe ist das Fundament für die Zukunft.“

Heute vermittelt Rafati seine Erkenntnisse und Botschaften als Mentalcoach und als gefragter Keynote-Speaker in Vorträgen vor Managern und anderen Führungskräften.

Rafati ist dankbar, dass er weiterleben darf. Auch wenn er sich nicht als religiös bezeichnet, glaubt er fest an einen Gott. „Ich glaube, dass der liebe Gott in dieser Nacht nicht wollte, dass ich die Welt verlasse. Ich hatte unbewusst dieses Gefühl: Da ist jemand, der dich hier haben will. Gott wollte mich nicht gehen lassen.“ Mit gemischten Gefühlen schaut er zurück. „Der Suizidversuch an sich war ein großer Fehler. Aber was meine Frau und ich daraus gemacht haben, dass wir an unseren Persönlichkeiten arbeiten und uns entwickeln, das war ein Glücksfall.”

Ein versöhnendes Gespräch mit seinen ehemaligen Chefs hat es bis heute nicht gegeben. Von DFB-Seite gab es auch keine Kontaktaufnahme. „In den ersten Jahren nach der Therapie habe ich noch sehr unter dem Thema gelitten“, gibt Rafati zu, „aber ich habe inzwischen für mich eine einseitige Versöhnung mit ihnen gefunden. Ich heiße ihr Verhalten nicht gut, aber ich habe akzeptiert, dass sie sind, wie sie sind. Ich möchte einen Abschied finden. Diese Versöhnung gibt mir Kraft, ganz bei mir zu sein.“

Das Verhältnis zur Mutter ist nach dem schlimmen Kindheitserlebnis schwierig geblieben. „Als mich meine Mutter im Krankenhaus besucht hat, habe ich sie hereingewunken. Sie hat mich dann nur angesehen, aber ist dann wieder gegangen. Wir sind danach nicht mehr zusammengekommen. Aber ich habe ihr inzwischen verziehen. Versöhnen und Verzeihen sind große Kraftquellen, die einem selbst Energie und Schub nach vorne geben.“

Hilfsangebote für Menschen mit Depressionen, Suizidgefährdete und ihre Angehörigen:

Wenn Sie sich in einer scheinbar ausweglosen Situation befinden, zögern Sie nicht, Hilfe anzunehmen. Hilfe bietet unter anderem die Telefonseelsorge in Deutschland unter 0800-1110111 (kostenfrei) und 0800-1110222 (kostenfrei) oder online unter www.telefonseelsorge.de. Eine Liste mit bundesweiten Beratungsstellen gibt es unter: www.suizidprophylaxe.de/hilfsangebote/adressen.

Vimeo

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von Vimeo.
Mehr erfahren

Video laden