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Johannes Hartl Gebetshaus

Lesedauer: ca. 10 Min. | + Video zum Beitrag

Autor: Tobias Liminski | Fotos: Bernhard Spoettel

Kann man Gott vertrauen?

Bestsellerautor Johannes Hartl ist überzeugt: jeder Mensch verlässt sich auf irgendwas. Die Frage ist nur: Trägt das auch in Krisen? Wie soll man sich auf Gott verlassen bei all dem Leid in der Welt? Woher will man wissen, dass Glaube keine Einbildung ist? Im Interview spricht der Theologe und Philosoph über seinen Weg von der Hippie-Szene zu Gott, das Zerbrechen des Urvertrauens und die Sehnsucht nach einer neuen Kultur der Verbundenheit.

GRANDIOS: „Vertrauen ist der Anfang von allem.“ Das war mal der Werbespruch einer Bank. Stimmt das? Ist Vertrauen der Anfang von allem?

JOHANNES HARTL: Vertrauen ist in zweierlei Hinsicht der Anfang von allem. Der Mensch kommt mit Grundvertrauen auf die Welt. Die Frage ist: Warum bricht das? Was passiert dann? Zum Zweiten ist Vertrauen der Anfang von allem, was sich zwischen Menschen ereignen kann. Wenn am Beginn einer Beziehung kein Vertrauen steht, ist da von Anfang an ein Bruch. Insofern stimmt das: Vertrauen ist der Anfang von allem.

Was genau ist Vertrauen? Bedeutet Vertrauen mehr, als sich auf jemanden verlassen zu können?

Vertrauen ist immer ein Wagnis und gleichzeitig der Anfang jeder echten, tiefen Beziehung. Sich auf jemanden verlassen können und vertrauen: Das geht in die gleiche Richtung. Vertrauen ist eher eine grundsätzliche Haltung. Verlassen kann man sich nur auf Personen.

Was ist Gottvertrauen?

Neulich habe ich einen Podcast mit Richard David Precht gehört. Precht sagte in einem Interview mit Markus Lanz, uns fehle zunehmend Gottvertrauen – auch als Gesellschaft. Das sagt jemand, der sich selbst als nicht gläubig bezeichnet. Gemeint ist eine grundsätzliche Einstellung, dass es das Leben irgendwie gut meint. Als gläubiger Mensch würde ich Precht sagen: Vielleicht fehlt uns immer mehr Gottvertrauen, weil uns Gott mehr und mehr fehlt. Die Hoffnung, dass unsere Welt im Letzten nicht ins Nichts plumpst. Dass nicht nichts ist, sondern dass da etwas trägt, das ist eine Haltung, die ihrem Wesen nach bereits religiös ist, die an das Geheimnis Gottes grenzt. Zu glauben, dass es einen liebenden, guten, tragenden Grund gibt, das ist für mich Gottvertrauen.

So wie wir seelisch konstituiert sind, gibt es im Leben jedes Menschen diesen letzten Verlass-Punkt.

Johannes Hartl

Wie kann man jemandem vertrauen, den man nicht sieht? Ist dieses Gottvertrauen nicht reine Fiktion, eine mentale Krücke für Menschen, denen es an Selbstvertrauen fehlt?

Man vertraut auch auf andere Dinge, die man nicht sieht. Du vertraust zum Beispiel darauf, dass die Schwerkraft auch in zwei Minuten noch intakt ist, und wir nicht wegfliegen. Wir vertrauen allen möglichen Wissenschaftlern. Du gehst nicht davon aus, dass ich dich umbringe, sonst wärst du bewaffnet gekommen. Wir alle haben gewisse Grundannahmen über die Welt und den Menschen. Die grundsätzlichere Frage lautet: Gibt es einen guten Willen hinter der ganzen Welt? Darauf kann man antworten: „Nein, das glaube ich nicht. Darauf vertraue ich grundsätzlich nicht.“ Das ist genauso ein Glaubenssatz wie zu sagen: „Doch, das glaube ich.“ Jeder Mensch glaubt an etwas. Jeder verlässt sich auf irgendwas. Das, worauf der Mensch sich im Letzten und Tiefsten verlässt, das ist – rein funktional betrachtet – sein Gott. So wie wir seelisch konstituiert sind, gibt es im Leben jedes Menschen diesen letzten Verlass-Punkt. Die Frage ist: Welcher ist das? Und: Trägt er auch in Krisen?

Braucht man Selbstvertrauen, um Gottvertrauen zu haben?

Zu viel Selbstvertrauen ist der große Killer für Gottvertrauen. Zu denken, ich kann mir die Welt wissenschaftlich gut erklären, ist eine unglaublich selbstbewusste Aussage angesichts der Begrenztheit unseres Wissens. Wer so denkt, dem fällt es schwer zu sagen, es gibt auch etwas, das ich nicht verstehe. Zu viel Selbstvertrauen, zu viel Glaube an die Machbarkeit des Lebens, daran Dinge kontrollieren oder wegerklären zu können, hindert daran, auf Gott zu vertrauen.

Partys, Drogen, Saufen. Aber da war eine innere Leere, erinnert sich Johannes Hartl an seine Jugend.

Worauf gründet Dein Gottvertrauen? Auf einem Gefühl, einer Sehnsucht? Auf philosophischer Erkenntnis? Auf Erfahrung?

Ich hatte ein liebendes und stabiles Umfeld in meiner Familie. Das hat es mir eher leicht gemacht zu glauben. Als Teenager hatte ich eine spezielle Glaubenserfahrung. Die hat dazu geführt, dass ich gesagt habe, da will ich wirklich „all in“ gehen. Ich will mein Leben auf Gott bauen. Erst an dritter Stelle kamen rationale Erkenntnisse. Ich habe auch einen philosophischen Weg hinter mir.

Was heißt das?

Ich bin einen philosophischen Kreis gegangen. Meine Absicht war, mir das härteste atheistische Zeug reinzuziehen. Ich wollte schauen, ob mein Glaube Bestand hat. Herausgefunden habe ich viel mehr als das. Es gibt sehr gute, vernünftige Gründe zu glauben. Mein Gottvertrauen gründet also auf einem Mix aus Erfahrung, Erlebnis und Reflexion. Oft ist da nur eine Sehnsucht, ein Gefühl. Auch das stimmt. Aber Gefühle spielen eine Rolle im Glauben. Das darf man nicht unterschätzen.

Du hast von einer speziellen Glaubenserfahrung gesprochen, die Du hattest. Worum ging es da?

Ich war ein rebellischer Teenie. Nachts bin ich daheim ausgestiegen und auf Partys gegangen. Ich war in einer eher wilden Szene unterwegs: Hippies, die gut gekifft und andere Drogen genommen haben. Ich habe relativ bald verschiedene Sachen ausprobiert. Partys, Drogen, Saufen. In mir war dadurch auch eine innere Leere entstanden. Eigentlich schon so mit 14.

Im Letzten hatte die Situation etwas Trauriges und Leeres. Meine Eltern waren – wie alle 68er – mal links, atheistisch, kommunistisch und distanziert. Im Laufe der 80er haben sie neu zum Glauben gefunden. Das war die Zeit meiner Kindheit. Meine Eltern haben mich zu einem Jugendtreffen geschleppt. Ich saß da mit bunter Hippie-Kleidung und fand das total doof. Ich konnte das nicht ertragen. Über die Jesus-Lieder habe ich mich lustig gemacht. Am letzten Abend konnte man sich segnen lassen. Mir war eh langweilig. Also bin ich hin.

Ich ging nach vorne. Da wurde für einen gebetet und die Hand aufgelegt. Spektakulär war das nicht. Aber ich weiß noch wie heute: Ich ging zurück zu meinem Platz. Auf einmal hatte ich ein Gefühl, als wäre ich total verliebt. Dabei hatte ich zu diesem Zeitpunkt keine Freundin. Dennoch fühlt es sich an, als wäre ich komplett verliebt. Ich konnte an dem Abend nicht einschlafen, weil ich so erfüllt war. Ich hatte nicht vor, mich zu bekehren. Aber ich fragte mich: Was passiert da mit mir?

Das Christentum wurde mehr zur Moral. Das stimmt nicht. Die Kernbotschaft ist nicht: Stress dich mehr rein. Die Kernbotschaft ist: Mir wird eine Last genommen.

Johannes Hartl

Und was ist passiert?

Für mich gab es nur eine Erklärung: Das muss wahr sein, wovon auf diesem Camp die Rede war. Es gibt diesen Heiligen Geist wirklich. Was ich erlebt hatte war schöner, erfüllender, glücklicher als alles, was ich bislang kannte. Ich wusste nicht, was mir passiert war. Aber ich wusste: Das ist das, was ich will. Das mit diesem Jesus ist wahr. Ich habe es erfahren. Das hat den Kurs meines Lebens geprägt. Es war der Anfang meiner Biografie mit Gott.

Du hast Dein Vertrauen ganz auf Gott gesetzt. Vertrauen benötigt ein Gegenüber, eine lebendige Beziehung. Wie kann man eine persönliche Beziehung zu Gott haben?

Ich hatte nicht die Absicht, religiös zu werden. Es wurde mir geschenkt. Ich habe Sehnsucht nach Gott bekommen. Menschen finden Gott auf unterschiedliche Weise. Für mich ist das Gebet Lebensthema geworden. Beten bedeutet, Zeit mit Gott zu verbringen. Damit meine ich nicht so sehr irgendwelche Texte lesen. Es geht um etwas viel Innigeres. Ich habe Sehnsucht bekommen, in der Stille Gott zu suchen. Um eine Beziehung mit Gott zu pflegen, braucht man vor allem diesen inneren Raum der Stille. Zweisamkeit mit Gott haben, das nenne ich Gebet. Für mich ist die Essenz des Gebetes ein Du und ein Ich – und zwar oft jenseits der Worte.

Du hast eine spezielle Glaubenserfahrung gemacht. Das ist eher die Ausnahme. Wie funktioniert das unter „Normalbedingungen“?

Glaube ist in erster Linie ein Geschenk. So habe ich es erfahren. Im Laufe der Jahrhunderte ist da viel kaputt gegangen. Glaube, Religion, Christentum wurde mehr zur Moral. Das stimmt nicht. Die Kernbotschaft des Christentums ist nicht, du musst dies und das tun, also stress dich mehr rein. Die Kernbotschaft ist: Mir wird eine Last genommen.

Wie kann man das glaubhaft vermitteln?

Ich hatte nicht die Absicht, religiös zu werden. Es wurde mir geschenkt. Ich habe Sehnsucht nach Gott bekommen. Menschen finden Gott auf unterschiedliche Weise. Für mich ist das Gebet Lebensthema geworden. Beten bedeutet, Zeit mit Gott zu verbringen. Damit meine ich nicht so sehr irgendwelche Texte lesen. Es geht um etwas viel Innigeres. Ich habe Sehnsucht bekommen, in der Stille Gott zu suchen. Um eine Beziehung mit Gott zu pflegen, braucht man vor allem diesen inneren Raum der Stille. Zweisamkeit mit Gott haben, das nenne ich Gebet. Für mich ist die Essenz des Gebetes ein Du und ein Ich – und zwar oft jenseits der Worte.

Wenn man das lebt und ausstrahlt. Ich bin ein völlig durchschnittlicher Mensch, aber ich kann erzählen, was ich erlebt habe. Tut man das authentisch, weckt das Interesse. Wenn Leute über Glauben und Kirche reden wie Funktionäre oder Staubsaugervertreter, denkst du dir: „Das sagt der doch nur, weil er für den Verein arbeitet oder was verkaufen will.“ Wenn du geliebt und gemeint zu sein von diesem Gott. Ich habe Frieden und Sinn für mein Leben gefunden. Von dieser Erfahrung kann ich nicht schweigen.

Jeder, der sich mit offenem Herzen auf die Suche macht, wird Gott finden. Auf seine Weise und in seinem Tempo.

Johannes Hartl

Kann jeder Mensch diese Erfahrung machen?

Der Weg des Glaubens ist bei jedem anders. Ich glaube jeder, der sich mit offenem Herzen auf die Suche macht, wird Gott finden. Auf seine Weise und in seinem Tempo.

Ist das Gottvertrauen, von dem Du sprichst, etwas spezifisch christliches? Wie steht es um das Gottvertrauen in anderen Religionen? Etwa im Hinduismus oder im Islam? Kann man einem Gott vertrauen, dessen Macht und Willkür man fürchten muss?

Es gibt etwas noch grundlegenderes als religiöse Dogmatik: Urvertrauen. Dieses Urvertrauen haben Menschen in unterschiedlichsten Religionen. Die Frage ist, was ist, wenn die Dogmatik dazu kommt. Was lehrt welche Religion? Welches Gesicht Gottes zeichnet sie? Hier gibt es große Unterschiede. Das System des Hinduismus ist anders, der Islam ist wieder anders. In allen Religionen spielen Vertrauen und Hingabe eine Rolle. Ganz besonders gilt das für das Judentum. Das Spezifische am Christentum ist: Ich muss mein Vertrauen nicht auf einen Gott werfen, dessen Walten ich nie begreife. Ich muss nicht Ja sagen zum Universum. Ich muss nicht annehmen, dass streitende Götter unser Schicksal bestimmen. Und ich muss nicht versuchen, alles wegzuerklären. Jesus’ Botschaft ist radikaler.

Wie meinst du das?

Es gibt die Nacht des Nichtverstehens, die Nacht des Todes, Situationen, in denen die nettesten Sprüche nichts mehr bringen. Die Botschaft des Christentums ist: Jesus ist genau in diese Situationen freiwillig hineingegangen. Auch in der äußersten Finsternis ist Gott da. Daran glaube ich als Christ. Darauf darf ich vertrauen. Das Christentum zeigt uns einen gekreuzigten Gott. Gott selbst leidet. Deswegen kann ich in aller Ausweg- und Sinnlosigkeit, im Dunkel der Welt, selbst im totalen Scheitern diesem Gott nahekommen.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen Vertrauenserfahrungen im zwischenmenschlichen Bereich und der Fähigkeit, Gott zu vertrauen?

Je positiver die Beziehungserfahrungen, desto leichter fällt es zu vertrauen. Die meisten Menschen haben kein perfektes Elternhaus oder haben später in Beziehungen Verletzungen erlebt. Aber auch Scheitern und Enttäuschung können eine Chance sein, tiefer nach Gott zu suchen. Welcher Mensch ist komplett vertrauenswürdig? Auch der beste und liebevollste Mensch verlässt uns irgendwann. Spätestens wenn er stirbt. Ich kann das Haus meines Lebens letztlich nicht auf Menschen bauen. Menschen können mir eine Ahnung geben, was es heißen kann, sich zu verlassen und zu vertrauen. Ich kenne viele Menschen, deren Partnerschaft zerbrochen ist. Sie stürzen in tiefe Verzweiflung. Oft ist das der Moment, in dem die Sinnfrage auftaucht. Ich habe mein Leben ganz auf diese Beziehung gesetzt. Wer bin ich, wenn diese Beziehung nicht mehr ist? Eine Frage, die vielleicht zur Mitte führt. Wer bist du als Mensch? Auch Enttäuschungen und Verletzungen können zum Einfallstor der Gnade werden.

Wenn du viel Mist mit Menschen erlebt hast, wird der innere Zyniker immer lauter.

Johannes Hartl

Kann man Gottvertrauen lernen? Wie geht das?

Durch kleine Schritte hinein in dieses Wagnis. Und es braucht Geduld. Geduld mit sich selbst, wenn es nicht gleich gelingt. Wir haben in jeder Krisensituation zwei Stimmen in uns: Die Stimme des Vertrauens und die Stimme des Misstrauens. Die Stimme des Misstrauens hat immer gute Argumente. Aber wir müssen nicht auf sie hören. Wenn du viel Mist mit Menschen erlebt hast, wird der innere Zyniker immer lauter. Der sagt: Vertraue nie wieder. Diese Stimme verpestet unser Leben. Wenn du immer zynischer wirst, wirst du auch immer weniger nahbar. Vertrauen setzt frei. Aber Menschen kann man nicht komplett vertrauen. Auch die liebsten Menschen bleiben Menschen. Menschen verletzen einander – auch unbeabsichtigt. Deswegen geht es letztlich um die Frage: Gibt es einen Verlass-Punkt, der noch tiefer geht als menschliches Vertrauen? Ich glaube, den gibt es: Gott.

Vertrauen in Gott ist relativ einfach, solange alles gut läuft. Aber was, wenn das eigene Kind an Krebs stirbt, der nächste Tsunami Tausende in den Tod reißt? Wo war Gott in den Gaskammern und Gulags? Wo ist er in Zeiten des Krieges? Widerlegt menschliches Leid nicht das Vertrauen auf Gott?

Er war und ist auf jeden Fall da. Christentum ist kein plattes „alles wird gut“. Das Leben des besten, heiligsten, liebevollsten Menschen, den es je gab, endete am Kreuz. Als Jesus mit der Dornenkrone vor Pilatus steht, sagt dieser: „Ecce homo“, das ist der Mensch. Er sagt damit auch: So ist menschliches Leben. So gehen Menschen mit Menschen um. Das ist menschliche Geschichte. Dazu sind Mensch fähig. Als Atheist musst du doch wahnsinnig werden. Es bleibt dir ja nur, dich mit dieser Welt abzufinden oder du lässt dich auf das Wagnis des Glaubens ein. Durch das Kreuz hindurch gibt es eine Auferstehung. Das ist nicht erfunden, sondern real. Durchlebt und durchlitten von diesem Jesus. Ich bin noch nicht so alt. Ich habe noch nicht so viel gelitten. Ich hab leicht reden. Ich hatte noch nie Krebs. Ich hatte ein paar echt schlimme Dinge in meinem Leben, aber noch nicht ganz so viele. Aber ich kenne Leute, die durch die krassesten Höllen gegangen sind. Und ich war in ein paar Ländern, in denen ich Hölle erlebt habe.

Ich glaube nicht an einen Schönwetter-Gott, der über allem schwebt. Der, an den ich glaube, ist durch die Hölle des Kreuzes gegangen: Jesus Christus.

Johannes Hartl

Welche Erfahrungen hast Du da gemacht?

Ich spüre in unserer westlichen, weichen, gesättigten Welt weniger von Gott als dort. Ich kenne Leute, die durch Leiden, das objektiv nicht so groß war, verbittert sind. Sie sind zerbrochen, weil es im Job oder mit einer Partnerschaft nicht geklappt hat. Ich habe Menschen kennengelernt, die Jahre in kommunistischen Hochsicherheitsgefängnissen saßen. Ich habe etliche Folteropfer kennengelernt und war in einigen Kriegsgebieten unterwegs. Dabei bin ich Menschen begegnet, die inmitten dieser Leiden noch stärker an Gott geglaubt haben. Sie haben sich Optimismus und Liebe für die Menschheit bewahrt. Sie sind nicht zynisch und bitter geworden. Ich bin überzeugt: In solchen Situationen trägt nur der Glaube. Ich wage nicht, vollmundig davon zu sprechen. Keine Ahnung, wie ich in solchen Situationen wäre. Auf meine Psyche würde ich mich nicht verlassen. Aber der, an den ich glaube, der ist durch die Hölle des Kreuzes gegangen: Jesus Christus. Ich glaube nicht an einen Schönwetter-Gott, der über allem schwebt. Das ist nicht mein Gottesbild.

Bis jetzt haben wir über Gottvertrauen gesprochen. Wie verhält es sich mit dem Vertrauen in die Kirche? Kann man einer Institution, die derart von Skandalen erschüttert ist, noch vertrauen?

Menschen kann man nicht vertrauen, auch „Kirchen-Menschen“ nicht. Auch Bischöfe sind alle Menschen. Machtapparaten und menschlichen Institutionen kann man nicht vertrauen. Das betrifft nicht nur die Kirche. Grundsätzlich haben alle menschlichen Systeme die Tendenz korrumpierbar zu werden. Die Gefahr gibt es überall. Das gilt auch für mich. Wir Menschen sind alle Schlitzohren. Wir haben alle unsere blinden Flecken. Die spannende Frage lautet: Ist die Kirche nur eine menschliche Institution? Dann kann ich ihr nicht vertrauen. Oder gibt es etwas, das tiefer reicht? Katholischer Glaube sagt, Jesus hat kein Buch vom Himmel geworfen, sondern Männer wie Petrus als Apostel eingesetzt. Zu Petrus sagt er: „Auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen.“ Und kurz darauf sagt er zu ihm: „Geh mir aus dem Angesicht, du Teufel!“ Offensichtlich hatte dieser Petrus es drauf, echter Fels der Kirche zu sein. Aber er ist nur einen Zentimeter weg davon, Jesus zu verraten. Er tut das dann ja auch.

Was antwortest Du darauf?

Es gibt zwei Gefahren. Die eine ist Zynismus. Der Zyniker sagt: alles nur Lügner und Betrüger. Das Problem: Dann kannst du niemandem mehr vertrauen, keiner Institution. Die zweite Gefahr ist der Triumphalismus, die Überhöhung: Wir sind der „Club der Heiligen“. Das gibt es nicht nur im religiösen Bereich. Das kenne ich auch von „Fridays for Future“ oder anderen Gruppen. „Wir sind die Guten.“ Es fühlt sich ja auch toll an, wenn man bei „den Guten“ ist. Aber wie gehst du damit um, wenn du im „Club der Guten“ auf einmal merkst, ich bin aber auch böse. Deswegen finde ich Chesterton gut. Der wurde gefragt, was sich ändern müsste, damit die Welt besser würde. Er hat geantwortet: Ich. Auch ich würde auf die Frage, was sich in der Kirche ändern müsste, dass sie besser wird, antworten: Ich. Überall gibt es Licht und Schatten, auch bei mir. Die entscheidende Frage ist: Hat es trotzdem Substanz, was da gesagt wird? Oder ist das alles nur Blabla? Gibt es einen Gott? Gibt es eine Offenbarung? Gibt es einen Jesus, der die Kirche gegründet hat und Menschen beruft? Glaube ich diesem Gott, dass er eine menschliche Institution mit Leuten, die alle auch ihre großen Schattenseiten haben, als Instrument verwenden kann?

Was willst Du damit sagen?

Als Katholik bin ich überzeugt: Ja, das kann er. Kirchen- und Weltgeschichte geben Zeugnis davon. Man darf neben dem Negativen das viele Positive nicht vergessen. Die großen Denker und Heiligen zum Beispiel. All das, was aus den klösterlichen Traditionen hervorgegangen ist oder die caritativen und humanitären Errungenschaften. Wir verdanken dem Glauben unglaublich viel.

Du hast gesagt, Menschen könne man nicht vertrauen. Wenn dem so ist, brauche ich eigentlich nicht mehr nach Hause gehen. Im Ernst: Wie wichtig ist gesundes Misstrauen?

Ich würde den Satz fast wieder zurücknehmen. Sicher muss ich Menschen vertrauen. Wenn ich heimkomme und meiner Frau sage: „ich vertrau dir nicht“, wäre das furchtbar! Wir brauchen ein offenes Herz, das aber nicht naiv ist. Um die Begrenztheit des Menschen wissen heißt, sich bewusst sein, dass wir nicht vollkommen sind. Es geht mir nicht um Misstrauen! Mir geht es um ein Vertrauen, das den anderen nicht idealisiert oder vergöttert, sondern ihn als Mensch mit all seinen Fehlern und Schwächen sieht.

Wir sitzen seit Jahrzehnten einem Wissens- und Machbarkeitswahn auf. Deshalb fällt uns Vertrauen zunehmend schwerer.

Johannes Hartl

Das Vertrauen in Institutionen nimmt generell ab. Wird Vertrauen in unserer Gesellschaft Mangelware?

Unter anderem deswegen, weil wir immer mehr wissen und immer mehr kontrollieren können. Wenn ich was nicht weiß, muss ich vertrauen. Wir denken, wir wüssten alles. Trotzdem bleibt das Leben im Letzten unverfügbar. Wir sitzen schon seit Jahrzehnten einem Wissens- und Machbarkeitswahn auf. Deshalb fällt uns Vertrauen zunehmend schwerer.

Wo führt das hin?

Wir sind unterwegs in eine atomisierte Gesellschaft. Es gibt immer mehr einsame Menschen, die nicht mehr vertrauen können, die niemanden an sich heranlassen. Die Vereinsamung unserer Gesellschaft – ich nenne das die mangelnde Verbundenheit – ist die gefährlichste Pandemie, die wir haben. Der Mensch braucht Verbundenheit wie die Luft zum Atmen. Ohne Verbundenheit bleibt man emotional nicht gesund. Verbundenheit gibt es im Wesentlichen in drei Richtungen: zum anderen, zu mir selbst und zu Gott. Das gehört zusammen. Wenn wir nicht mehr fähig sind, diese Verbundenheit zu empfinden und aufzubauen, erodiert unsere Gesellschaft.

Ist dieser Mangel an Vertrauen auch ein Grund, weshalb Menschen nicht mehr glauben?

Es ist ein Grund. Wir leben in einem Land, in dem zwei Väter-Generationen entweder tot, verwundet oder psychisch traumatisiert aus wahnsinnigen Kriegen zurückgekehrt sind. Nach dem Zweiten Weltkrieg musste dieses Land durch irre Leistung wiederaufgebaut werden. Dass es so viele Töchter und Söhne gibt, die keine emotional präsenten Eltern hatten, hat auch historische Gründe. Es gibt ein tiefes Grundmisstrauen in unserer Gesellschaft. Die Frage, wie wir wieder zu so etwas wie Grundvertrauen finden, führt in die Mitte unseres gesellschaftlichen Problems.

Das Herz des Problems ist das Problem des Herzens.

Johannes Hartl

Was ist „die Mitte“ unseres gesellschaftlichen Problems?

Das Herz des Problems ist das Problem des Herzens. Es geht es um das eigene Herz. Ich mag die Metaphorik vom Garten Eden. Diese Geschichte sagt, das Grundproblem des Menschen ist das Zerbrechen von Urvertrauen. Im Garten Eden war alles gut. Aber es gab da eine Stimme, die mit dieser Schlange beschrieben wird. Diese Stimme sagt: „Du brauchst die Frucht von diesem Baum. Die ist nicht giftig. Du stirbst nicht daran. Gott will dich klein halten“. Diese Stimme kennt jeder. Es ist die Stimme des Misstrauens. Die Stimme des Vertrauens und des Glaubens weist den Weg, wo Heilung beginnt.

In Deinem Buch „Eden Culture“ schreibst Du über dieses zerbrochene Vertrauen. Wie kann man das zurückgewinnen?

Das lässt sich nicht ohne die Gottesfrage beantworten. Es geht nicht ohne die Frage: Bin ich gewollt und geliebt? Von einem, der größer ist als meine Eltern. Woher komme ich? Von meinen Eltern. Okay. Wollten die mich? Vielleicht hätten sie lieber ein Mädchen gehabt oder sie wollten erst zwei Jahre später ein Kind? Vielleicht kenne ich meine Eltern gar nicht. Glauben bedeutet, darauf zu vertrauen, dass es hinter all dem einen tragenden Grund gibt. Nur durch eine positive Glaubensentscheidung finden wir zurück zum Urvertrauen. Es braucht den Sprung des Glaubens. Beweise gibt es nicht. Das Geschenk des Glaubens besagt: Du bist wirklich gewollt und geliebt. Wie wäre es, wenn du glauben würdest, dass es gut ist, dass es dich gibt? Dass jemand dich wollte, genau dich! So wie du bist. Nicht anders. Vielleicht hast du auch die Stimme der Schlange im Ohr, die sagt: „Nein, Quatsch. Ich bin zu dumm, zu klein, zu alt, zu jung, zu dick, zu hässlich“. Keine Ahnung was. Wem glaube ich? Lasse ich die Liebe, die an mein Herz klopft, hinein oder lehne ich sie ab? Das ist die intime Entscheidung jedes Menschen.

Braucht es eine neue Kultur des Vertrauens?

Wir können der Welt nicht Vertrauen verordnen. Deshalb träume ich davon, dass es kleine Orte oder Gruppen gibt, wo sich etwas von dieser Alternativkultur, die ich „Kultur von Eden“ nenne, manifestiert. Es reicht nicht, das im Kopf zu haben. Letztlich muss man das erleben können. Solche Orte bräuchten wir.

Johannes Hartl! Danke für das sehr spannende und offene Gespräch!

Sehr gerne! Schön, dass ihr hier gewesen seid!

Johannes Hartl

Dr. Johannes Hartl ist Gründer und Leiter des Gebetshauses in Augsburg. Als Speaker und Autor beschäftigt er sich mit den Themen Sinn, Verbundenheit, Glaube und Spiritualität. Durch seine Vortragstätigkeit und seine Präsenz in den sozialen Medien ist der katholische Theologe und Bestsellerautor international bekannt.

Seine unkonventionelle Art, über Glaube und Vernunft zu sprechen, zieht Hunderttausende an. An den „Mehr“-Konferenzen des ökumenisch ausgerichteten Gebetshauses nahmen zuletzt mehr als 12.000 Besucher teil.

Eden Culture Buch
Eden Culture Ökologie des Herzens für ein neues Morgen

Verlag Herder
1. Edition (14.11.2021)
304 Seiten
ISBN-10 / 3451033089 ISBN-13 / 978-3451033087

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