Skip to main content
Ausgabe 02/22 Vertrauen

Pajazzo, der verwundete und die Beziehungen des Lebens

Lesedauer: ca. 6 Min.

Pajazzo, der verwundete und die Beziehungen des Lebens

Eine Kurzgeschichte von Jürgen Liminski

Illustrationen: Carina Crenshaw
Kurzgeschichte erzählt von Michael König
 

Pajazzo sah den alten Mann schon zum vierten Mal. Er saß in der vierten Reihe von oben und vergnügte sich offensichtlich. Jedenfalls hatte er laut gelacht. Obwohl er seine Scherze doch kennen musste. Er hatte sie ja schon mindestens dreimal gesehen. Er war ihm aufgefallen, weil er nach der Vorstellung immer wartete, bis alle gegangen waren und erst dann aufstand, seine Krücken nahm, einen zufriedenen Blick durch die Manege schweifen ließ und dann langsam raushinkte.

„Wenn er morgen wieder da ist, sprech ich ihn an“, nahm sich Pajazzo vor. Und tatsächlich, da war er wieder. Oben in der vierten Reihe. Als alle draußen waren und der alte Mann sich an seinen Krücken vom Sitz hochzog und auf den Ausgang zuhinkte, ging Pajazzo auf ihn zu und fragte, ob er ihm helfen könne. „Geht schon“, keuchte der Alte und lächelte ihn dankbar an. „Die Krücken sind meine zweiten Beine, ich hab sie jetzt seit über siebzig Jahren, ist noch aus dem Krieg,“ sagte er und deutete mit dem Kopf auf das rechte Bein.

Es fehlte, die Hose war oberhalb des Knies zugenäht. „Die Bombe schlug in einem Zirkus ein, so wie der hier“, fuhr er fort, ohne dass Pajazzo ihn gefragt hätte, „war in den letzten Kriegstagen. Mich haben sie rausgezogen, das Zelt brannte, für meinen großen Bruder war es zu spät“.

Elektronische Krücken

Pajazzo war überrascht. Der Alte musste das gerade wieder in Gedanken erlebt haben, und war vielleicht immer noch in seinem Erinnerungsfilm, sonst würde er nicht so unvermittelt, so offen reden. Schon ging der Film weiter. „Ich hab dann nach dem Krieg erst Biologie und dann Hormonforschung betrieben, heute sprechen sie ja von Neurologie. Aber die Flammen lodern immer noch im Gedächtnis. Ich lösche sie mit Dopaminen. Das erheitert das Gemüt, das überflutet das Belohnungszentrum, gerade wenn der Clown auftritt. Damals hat es auch den Clown erwischt. Und bei dem hat mein Bruder auch immer laut gelacht“. Pajazzo schaute so erschrocken wie entgeistert. „Ja, Sie haben natürlich recht, der wird davon nicht mehr lebendig. Aber das ist meine Selbsttherapie, für einen Psychologen bin ich wohl zu alt“. Pajazzo nickte nur, er wusste vor Verblüffung auch gar nicht, was er sagen sollte. „Aber schauen Sie sich doch die jungen Leute an“, sagte der Alte keuchend weiter, als sie auf den Ausgang zurückten, „da gehen auch viele auf Krücken, ich meine auf seelischen Krücken, ohne es zu wissen. Allein die Smartphones werden für viele zu Krücken des Lebens und denen helfen Sie, lieber Herr Clown, ganz großartig. Die vergessen für zwei Stunden dann ihre elektronischen Krücken. Und ein reales Lächeln, ein überraschender Scherz, das tut so gut.“ „Ja, ja,“ stammelte Pajazzo und war versucht, dem frohen, ernsten Alten unter den Arm zu greifen, aber der stand ganz gut auf seinen metallenen Krücken und redete schon wieder weiter. „Wissen Sie, diese jungen Leute brauchen das. Alles lässt sich heilen, wenn nicht durch einen Psychologen, dann eben in einer ordentlichen Beichte.“ Er lachte, als wenn er einen Coup gelandet hätte.

Wirklichkeit des Lebens

Pajazzo schaute noch verständnisloser, er brachte diese Enden nicht zusammen. „Das sind zwei verschiedene Paar Schuhe“, sagte er, „das müssten Sie als Biochemiker oder Hirnforscher doch wissen. Beichte ist eine ganze andere Ebene“. „Nun ja“, bemerkte der Krückenmann jetzt etwas nachdenklicher, „das ist schon richtig. Aber es gibt eine Verbindung zwischen den Ebenen, die ist zugegeben etwas abstrakt und existiert vielleicht auch nur in meiner Krückenphilosophie, aber ich sag’s Ihnen mal, weil Sie ein so guter Clown sind: Die Verbindung sind die echten, die vertrauensvollen Beziehungen, die wir haben.

Sie machen in Wirklichkeit unser Leben aus. Und die erste Beziehung ist die zu unserem Schöpfer, zu Gott, wenn Sie verstehen, was ich meine“, sagte er eher fragend in sich hinein. Und es schien, als ob ihn die mögliche Antwort gar nicht interessierte, so überzeugt war er, dass diese erste Beziehung im Leben für alle galt, auch für die Ungläubigen. Und als ob er Pajazzos Einwand schon im Keim ersticken wollte, sagte er mit ironischem Ton: „Wenn Sie die Geschichte der Evolution betrachten, mit all den erstaunlichen Zufällen – es ist schon unglaublich, was man alles glauben muss, um ungläubig zu sein.“

„Beziehungen muss man wollen“

Pajazzo hatte das so noch nicht gesehen. Er war ja auch Clown und kein Forscher. „Und der zweite Kreis der Beziehungen“, so fuhr der Krückenmann schon fort, „das sind die Eltern, die Geschwister, die Herkunftsfamilie und später dann die eigene Familie, Frau, Kinder, Enkel. Das prägt. Jeder prägt und jeder wird geprägt. Wenn diese Beziehungen vertrauensvoll und in Ordnung sind, halbwegs in Ordnung, dann kann man auch einigermaßen heil durch diese Welt gehen“. Durch ein großes Zelt trompetete ein Elefant. Weiter vorne wieherte es. Es war mild. Der Alte fuhr unentwegt fort: „Beziehungen muss man wollen, so wie die Wahrheit, die muss man auch wollen, wenn man sie erst mal erkannt hat. Das ist das Geheimnis der Freiheit, die Wirklichkeit annehmen wollen oder sie verneinen. Ist manchmal schwierig, zum Beispiel wenn man einen lieben Menschen verloren hat.“

Pajazzo hörte zu, so hatte er die Welt noch nicht gesehen. „Ja, und der dritte Kreis“, sagte der Biochemiker nun leicht keuchend vor sich hin, „das sind dann die Freunde, die Kollegen, die Bekannten. Auch wichtig, aber sie machen weniger die Identität aus als die beiden ersten Kreise. Sie sind eigentlich der Zirkus des Lebens.“ – „Aber wenn Sie hier im Zirkus sind, dann leben Sie doch in Ihrem zweiten Kreis?“, fragte Pajazzo etwas keck. Die leicht abfällige Bemerkung über den Zirkus des Lebens ärgerte ihn schon.

Der Alte schwieg, während sie an Käfigen mit einem schläfrigen Löwen und zwei Affen vorbeihinkten. Da blieb der Krückenmann stehen, sah Pajazzo an und sagte: „Wissen Sie, wenn ich Sie sehe und lache, dann fluten, ja waschen die Dopamine die Erinnerung. Sie löschen das Feuer. Aber Sie haben recht, man kann nicht ewig in der Vergangenheit leben. Das ist eine Art Verneinung der Wirklichkeit. Man muss nach vorne schauen und wenn man so alt ist wie ich, dann muss man eben bis in die Ewigkeit schauen“.

Polierte Gusseisen

Sie hinkten an dem Kassenwagen vorbei und Pajazzo wollte etwas sagen, wusste aber nicht was. Schließlich fragte er: „Sind wir nicht alle verwundet?“ Damit wollte er den Alten irgendwie trösten. Der lachte leise und meinte: „Ja, guter Clown, das sind wir. Aber es kommt darauf an, damit zu leben, gut zu leben.“ Er zeigte auf die zwei künstlichen Amphoren, Nachbildungen antiker Vasen aus Ton, die am Eingang zum Zirkus standen. „Ich hab mal in Spanien wirkliche Amphoren gesehen, die hatten einen Sprung und wahrscheinlich deshalb auch einen gusseisernen Reifen um den Bauch.

Was mir besonders gefiel, war ein Henkel an dem Eisenring und dass diese Ringe so sauber waren, sie glänzten.“ – „Ja, hm,“ brummte Pajazzo, „was hat das mit uns zu tun?“ – „Nun“, entgegnete der Alte, „diese eisernen Reifen machten die Vasen schön und praktisch. Sie hielten das Gefäß zusammen, bewahrten das Wasser kühl und der Henkel half beim Ausschenken. Die Reifen waren sozusagen die Krücken der Vasen. Und man musste sie von Zeit zu Zeit reinigen, damit sie weiter glänzten. So ist es auch mit der Liebe.“ Pajazzo nickte. „Verstehe“, sagte er, „und solche Gusseisen brauchen wir auch, um unsere Beziehungen zu reparieren und ab und zu muss man sie polieren.“

Der Alte strahlte. Er freute sich, dass der Clown, den er so gerne sah, seine Lebensweisheit verstanden hatte. Inzwischen waren sie am Eingang angekommen. Dort stand ein Taxi. Pajazzo fragte: „Wie kommen Sie nach Hause, Herr, äh“ – „Steilen, Michael Steilen, wie steilaufwärts und der Erzengel. Entschuldigen Sie, ich hatte ganz vergessen, mich vorzustellen.

Nun, das ist mein Taxi. Jetzt fahre ich zu meiner Tochter, sie, ihr Mann und die Kinder warten vermutlich schon.“ – „Na, das gibt doch auch eine Dopamin-Flut“, meinte Pajazzo. „Wenn ich Ihre Lebensweisheit richtig verstehe, dann ist die Familie auch so etwas wie ein permanentes Heilbad, jedenfalls hat sie das Potenzial.“ Herr Steilen schaute ihn lächelnd an. „Stimmt“, sagte er, „da haben Sie völlig recht“. Dann steckte er die Krücken ins Auto, ließ sich in den Fond des Wagens und der Chauffeur die Tür ins Schloss fallen. Die Scheibe surrte herunter. „Noch frohe Aufführungstage, machen Sie weiter,“ sagte Herr Steilen und die Scheibe surrte wieder herauf. Pajazzo nickte und dachte, „was für eine merkwürdige Begegnung“. Am nächsten Tag schaute er in die vierte Reihe. Aber er sah den Herrn Steilen nicht. Er sah ihn auch nie wieder. Vielleicht weil Michael S. auch alles gesagt hatte, was zu sagen war.

Buchtipp

Pajazzos Saltos - Gedanken und Lebensweisheiten eines Clowns

Aus:
Pajazzos Saltos Kurzgeschichten von
Jürgen Liminski

pajazzos-saltos.de
FE-Verlag / Kisslegg
ISBN 978-3-86357-334-8