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Elisabeth Lukas

Lesedauer: ca. 7 Min. | + Video zum Beitrag

Autor: Stephan Baier | Fotos: Bernhard Spoettel

Ein Urvertrauen ist dem Menschen in die Seele eingraviert.

Elisabeth Lukas

Seit Jahrzehnten führt Elisabeth Lukas Menschen aus Lebenskrisen zu fruchtbarer Sinnsuche. Die österreichische Psychotherapeutin, klinische Psychologin und Bestsellerautorin ist die bedeutendste Schülerin und geistige Erbin von Viktor Frankl, dem Vater der Logotherapie.

GRANDIOS: Frau Dr. Lukas, wie entsteht und wächst die Fähigkeit zu vertrauen?

ELISABETH LUKAS: Der Mensch bringt diese Fähigkeit genauso wie die Fähigkeit zu atmen schon mit auf die Welt. Ein neugeborenes Baby ist hilfloser als jedes Tierbaby. So gründet das Dasein eines menschlichen Babys vom ersten Atemzug an in dem Vertrauen, dass Hilfe da ist und da sein wird. Die einzige Art, wie ein Baby signalisieren kann, dass es Hilfe braucht, ist zu weinen. Nun ist das menschliche Baby dank seiner Großhirnrinde lernfähig. So lernt es, dass Hilfe kommt, wenn es Hilfe braucht. Es gewinnt die Sicherheit, dass ihm geholfen wird. Das nennt man Geborgenheit. Eine reichhaltige Kommunikation mit dem Kind trägt dazu bei, dass es sich integriert fühlt in ein Milieu, dem es zugehört und trauen kann. Dass es ein Zuhause hat, das ihm in jeder Lage beisteht.

Was können Eltern da in der Erziehung ihrer Kinder richtig oder falsch machen?

Von Natur aus sind die meisten Kleinkinder erstaunlich robust und situationselastisch. Körperlich wie psychisch halten sie im Regelfall viel aus, auch Elternfehler und Elternlaunen, sofern nicht tiefgreifende Schädigungen mitbeteiligt sind. In jungen Jahren ist Konstanz ein wichtiges Element zur Ausbildung des Sicherheitsgefühls. Unruhe, Hektik, Hin- und Hergerissensein und abrupte Umgebungswechsel irritieren Kinder. Ein Kind lernt zwar bald, dass verschiedene Bezugspersonen unterschiedliche Mentalitäten und Verhaltensweisen haben, aber ein und dieselbe Bezugsperson sollte nicht zu wechselhaft und widersprüchlich erscheinen. Es erschreckt ein Kind, wenn die Mutter einmal schmeichelnd freundlich, dann wieder zornig aufbrausend ist. Besonders schlecht sind hysterische Ausbrüche und Gewalt. Unkontrollierte Gefühlsausbrüche bei Bezugspersonen lehren die Kinder, dass sie wie auf einem Vulkan sitzen und ständig auf Schlimmes gefasst sein müssen. Das unterhöhlt ihr Vertrauen und liefert ein gefährliches Vorbild, das lange nachwirkt. Stabile Familienverhältnisse und Erziehungspersonen mit stabilem Charakter und großer Verlässlichkeit sind vertrauensbildende Stützpfeiler für die Heranwachsenden.

Ein Kind kommt nicht als ,leere Tafel‘ zur Welt, auf die dann die Welt, sprich ihre Eltern und Lehrer, hineinschreiben, was aus diesem Kind wird.

Elisabeth Lukas

Ist Familie der ideale Ort der Vertrauensbildung?

Ideal ist nichts auf Erden. Dennoch ist die intakte Familie der Ort höchstmöglicher irdischer Geborgenheit. Überall wird man kraft seiner Leistung geschätzt, nur in der Familie ist es anders. Wenn sie intakt ist, wird jedes Familienmitglied um seiner selbst willen geschätzt, unabhängig davon, ob es reich oder arm, tüchtig oder unproduktiv, gesund oder krank ist. Da ist die alte, zittrige Frau eben „unsere Oma“ und das sabbernde Baby „unser Enkel“, der pleitegegangene Geschäftsmann noch „unser Vater“ und die ans Bett gefesselte Frau „unsere Mutter“. Das lehrt Kinder, dass sie darauf vertrauen dürfen, bedingungslos wertgeschätzt zu werden, komme was wolle.

Was können Kinder aus schwierigen Verhältnissen tun?

Ein Kind kommt nicht als „leere Tafel“ zur Welt, auf die dann die Welt, sprich ihre Eltern und Lehrer, hineinschreiben, was aus diesem Kind wird. Nein, ein Kind bringt schon eine Fülle an Erbanlagen mit, und nicht nur erfreuliche. Aber weder Erbgut noch Umwelteinflüsse formen die ganze Geschichte des Menschen. In jedem Neugeborenen schlummert die geistige Person. Jeder Mensch ist einzigartig in seinem Wesen, unvertretbar und unwiederholbar. Was macht ihn dazu? Sein Selbstgestaltungspotenzial! Von Anbeginn an ist jedes Kind eine eigene Persönlichkeit und reagiert auf seine persönliche Weise auf das Milieu, in dem es aufwächst. Kinder können allerhand tun! Sie können sich von negativen Modellen distanzieren, über ihre Traumata hinauswachsen, die in ihnen liegenden Talente kreativ verwenden und ihre tristen Erfahrungen zu einer Erfahrungskompetenz verdichten, die sie warnt, wie Leben misslingt, und die sie anfeuert, es besser zu machen als ihre Eltern und Ahnen. Keine Generation muss die Fehler früherer Generationen wiederholen.

Kann der Mensch glücklich leben ohne ein Urvertrauen, dass das Leben einen Sinn hat und die Welt gut ist?

Unsere Welt ist nicht prinzipiell gut. Viktor Frankl sprach von der „tragischen Trias“ aus Leid, Schuld und Tod, die keinem Menschen erspart bleibt. Jeder leidet, jeder macht sich schuldig, jeder muss sterben. Urvertrauen ist keineswegs der naive Glaube daran, dass alles gut enden wird und Hoffnungen sich erfüllen. Der Mensch weiß, wie häufig das Gute nicht belohnt und das Böse nicht bestraft wird. Urvertrauen ist der Glaube daran, dass eine Metaebene existiert, eine „Überwelt“, in der sämtliche Fragwürdigkeit unseres Daseins eine geheimnisvolle letzte Stimmigkeit und Richtigkeit hat. Frankl sprach davon, dass wir uns „vor dem Geheimnis zu beugen haben“. Er berichtete, wie die Häftlinge im Konzentrationslager erhobenen Hauptes und mit einem Gebet auf den Lippen in die Gaskammern marschiert sind. Sie wussten, dass Gott nicht einschritt. Aber sie priesen ihn und vertrauten ihm! Das ist Urvertrauen.

Wird dieses Urvertrauen durch Missbrauch und Enttäuschungen zerstört oder nur verschüttet?

Wenn man nachdenkt, was den Menschen zum Menschen macht, kommt man auf Attribute seiner Geistigkeit: geistige Freiheit und persönliche Verantwortung, Erfindungsgeist und Schöpfungskraft, die kontinuierliche Suche nach Sinn und Werten, die unaufhörliche Sehnsucht nach dem Guten, Wahren und Schönen – nach dem Heil. Diese Suche und diese Sehnsucht sind dem Menschen so tief eingepflanzt, dass sie sich in sämtlichen Kulturen und Epochen in Mythen, Riten und Gottesbildern spiegeln. Wie der Durst ein Beweis für die Existenz von Wasser ist, wie das Auge ein Beweis für die Existenz von Licht ist, so ist die Sehnsucht des Menschen nach einem alles umfassenden Sinn des Ganzen ein Beweis dafür, dass es Dementsprechendes geben muss. Diese Ahnung nennt man Urvertrauen. Es ist dem Menschen dank seiner Menschlichkeit und Geistigkeit in die Seele eingraviert. Wenn Kinder allerdings Demütigungen, Beschämungen, Missbrauch und Gewalt erfahren, wird ihr Urvertrauen erschüttert und verschüttet.

Was verhindert die Verschüttung des Urvertrauens?

Ein Milieu der Zugewandtheit, Beständigkeit, Verlässlichkeit und Friedlichkeit. Friedenswilligkeit bedeutet nicht, dass sich immer alle bestens vertragen, sondern dass man achtungsvoll miteinander redet, einander ernst nimmt, Kompromisse schließt, im Konfliktfall Niveau hält und nicht primitiv zurückschlägt. In so einer Umgebung lernt das Kind, dass alles wieder gut werden kann. Ehrlichkeit tut Not. Was Kinder verstehen, können sie eher verarbeiten.

Spricht nicht allzu viel gegen Vertrauen: Lüge, Betrug, Korruption, Untreue?

Diese Frage ist für Kleinkinder schon in den Märchen beantwortet: Sei vorsichtig, es gibt auch Bösewichter, Verführer, die Schlimmes im Schilde führen! Hochaktuell stellt sich die Frage, inwieweit man Informationen, Aussagen und Kommentaren aus dem Internet trauen kann. Im Wirrwarr der News und Fake News lässt sich die Wahrheit kaum mehr herausfinden.

Wir leben in keiner heilen Welt, aber wer unbeirrt Ausschau hält nach dem Wertvollen, Liebenswerten und Erhaltenswerten in ihr, wird ohne Zweifel reichlich fündig werden.

Elisabeth Lukas

Wie entsteht eigentlich Selbstvertrauen?

Beim Selbstvertrauen geht es um eine angemessene Realitätseinschätzung der eigenen Ressourcen. Bei der Selbstunterschätzung bleibt man bedauerlicherweise unter seinem leistbaren Höhenflug, bei der Überschätzung stürzt man im überzogenen Höhenflug ab. Psychotherapeuten möchten ihre Klientel vor beiden Gefahren bewahren, wobei sie es eher mit den depressiven, zögerlichen, wankelmütigen Personen zu tun haben. Ein ausgeprägtes Selbstvertrauen spendet auch die Sicherheit, dass eigene Entscheidungen ausgeführt und umgesetzt werden, was mit seelischer Gesundheit und Zufriedenheit korreliert. Es gibt nämlich die krisenträchtige Tendenz zu „Lippenentscheidungen“, die ständig in der Schwebe hängen. Daran kranken viele Menschen. Sie nehmen sich etwas vor, handeln aber nicht danach. Wer sich etwas vornimmt, aber dann kneift, gelangt bald zur Ichbewertung: „Ich tauge nichts! Auf mich ist kein Verlass!“ Das deprimiert und drückt das Selbstvertrauen in den Keller.

Wie kann man sich die Fähigkeit zu vertrauen erarbeiten, wenn sie fehlt?

Im Unterschied zum Tier verfügt der Mensch über eine Selbstdistanzierungsfähigkeit, die ihn instand setzt, sich selbst ein Stück vorauszueilen. Das ist nicht leicht, aber machbar. Denken wir an einen Alkoholiker: Wie kann er seiner Sucht entrinnen? Nur, indem er zunächst einen Tag „trocken“ bleibt. An diesem Tag leistet er einen Vorschuss auf sein freies Ich. Er lebt so, als wäre er nicht alkoholabhängig. Vielleicht schafft er einen zweiten Tag, eine Woche, ein Jahr. Oder denken wir an ein Paar im Konflikt. Sie beschuldigt ihn, rüde und gemein zu sein; er beschuldigt sie, unerträglich und zänkisch zu sein. Die Feindschaft wächst. Was kann jeder zurBeziehungsbesänftigung unternehmen? Keiner kann warten, bis sich der andere ändert. Da würde er lange warten! Aber er kann sich selbst ändern, indem er auf den anderen mit der ausgestreckter Hand zugeht, ein Signal in Richtung Zugeständnis erbringt. Der heilsame Mechanismus des „sich selbst ein Stück voraus Seins“ funktioniert ebenso im Fall verlorenen Vertrauens: Der Betreffende kann es nur zurückgewinnen, indem er gegen allen inneren Widerstand in ein vertrauensvolles Leben hineinschlüpft und sich überraschen lässt.

Wie geht Gottvertrauen?

In tausenden Therapiegesprächen habe ich beobachtet, dass sich die Bilder, die sich Menschen entwerfen, auffallend ähneln. Ist ihr Selbstbild verfinstert, so ist es auch ihr Menschenbild, ihr Weltbild und ihr Gottesbild. Sie halten von sich nicht viel, verachten ihre Mitmenschen, bespötteln die Welt, und sollten sie eine Gottheit in Erwägung ziehen, dann ist es ein strafender Götze. Umgekehrt erstrecken sich auch optimistische Bilder vom Selbst über die Mitwelt bis hin zu einem gnädigen Gott. Es ist, als würden Menschen im Lauf ihres Lebens eine Art „Leinwand“ ausrollen, auf die sie später sämtliche Ereignisse projizieren. Ist es eine blütenweiße „Leinwand“, dann leuchten ihre Erlebnisse darauf bunt auf, und sogar düstere Erlebnisse haben noch ihre glänzenden Tupfer. Ist es eine dunkelgraue „Leinwand“, dann verschatten sich ihre sämtlichen Erlebnisse, und nicht einmal die Highlights liefern Grund zum Jubeln. Wird etwa ein Mann beruflich befördert, aber seine „ausgerollte Leinwand“ ist von eingedunkelter Kategorie, dann denkt er an Neid, Missgunst, Rivalität und lästige Zusatzaufgaben, die ihm diese Beförderung einbringen wird. Wird einem Mann beruflich gekündigt, aber seine „ausgerollte Leinwand“ ist von lichter Kategorie, dann tröstet er sich mit dem Gedanken, dass er jetzt die Chance hat, einen günstigeren Job zu erlangen oder eine Fortbildung zu starten. Demnach hängen unsere Gottesbilder nicht bloß von Erläuterungen ab, die uns die Religionen bieten, sondern zu einem Großteil von unseren seelischen Zuständen und geistigen Einstellungen, mit denen wir alles ringsum beurteilen. Es gibt aber Zeugnisse von Personen, die ihr gesamtes Überzeugungsspektrum umgekrempelt und ihr Dasein in revolutionär neue Bahnen gelenkt haben. Wenn sie gefragt wurden, was der Auslöser dafür gewesen sei, konnten sie es nicht verstandesmäßig erklären. Sie seien einem Traum, einer urtümlichen Eingebung folgend ins Gottvertrauen hineingesprungen – und aufgefangen worden.

Ist Vertrauen letztlich eine Fähigkeit, ein Talent oder eine Entscheidung?

Im Letzten ist es eine Entscheidung. Bei einem Vertrauensakt kann man grundsätzlich nie wissen, ob er gerechtfertigt ist. Wüsste man es, bräuchte es das Vertrauen ja nicht. Im Prinzip ist jede Entscheidung ein Vertrauensakt. Entschließt man sich etwa zu einer bestimmten Berufswahl, weiß man nicht, ob man sie nicht eines Tages bereuen wird. Entscheidet man sich zu einer bestimmten Partnerwahl, weiß man nicht, ob sie sich als tragfähig erweisen wird. Entscheidung und Vertrauen, Ungewissheit und Wagnis, gehören zusammen, ebenso wie Vertrauensmangel und Entscheidungsmangel parallel laufen. Allerdings gibt es Phänomene, die man nicht willentlich bei sich erzeugen kann: Man kann nicht wollen wollen, so merkwürdig das klingt. Man kann auch nicht lieben wollen, glauben wollen, hoffen wollen – und auch nicht vertrauen wollen. Alle diese Phänomene haben einen „Vorgänger“: Wertvolles lockt das Wollen hervor. Liebenswertes lockt die Liebe hervor. Glaubwürdiges lockt den Glauben hervor. Vertrauenswürdiges lockt das Vertrauen hervor. Wir leben in keiner heilen Welt, aber wer unbeirrt Ausschau hält nach dem Wertvollen, Liebenswerten und Erhaltenswerten in ihr, wird ohne Zweifel reichlich fündig werden.

Liebe Frau Lukas, ganz herzlichen Dank für Ihre Zeit und die spannenden Ausführungen!

Sehr gerne!

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