Skip to main content

Redaktion: Stephan Baier I Fotografie: Simon Gehr

Daheim: Wo ist das?

Ein bisschen verstaubt und modrig wirkt der Begriff „Heimat“. Schließlich leben wir im Zeitalter der Globalisierung! Da können wir manches von dem hinter uns lassen, was der Zufall der Geburt uns beschert hat. Aber Heimat ist nicht nur Herkunft, sondern auch Lebenswahl und eigene Entscheidung: Wo wollen wir Wurzeln schlagen? Wo fühlen wir uns beheimatet?

Mutter Teresa, der Engel der Armen von Kalkutta, war in Indien sehr beliebt. Aber nicht bei allen. Ein indischer Hindu-Nationalist pöbelte sie einmal an, sie sei ja gar keine richtige Inderin. Schlagfertig reagierte die kleine, energische Ordensfrau: „Ich bin viel mehr Inderin als Sie Inder! Denn ich habe mich dafür entschieden. Sie hatten gar keine Wahl!“ Tatsächlich hatte die in Skopje geborene Albanerin Agnes Bojaxhiu als junges Mädchen eine abenteuerliche Entscheidung getroffen: Sie entschied sich, nach Indien zu gehen, um dort als Missionarin zu wirken. Die 18 Jahre junge Frau, die Jahrzehnte später als Mutter Teresa zu Weltruhm gelangen sollte, war alles andere als eine Stubenhockerin: Sie verließ ihre Heimat, um in Indien heimisch zu werden.

Ähnlich Josef Freinademetz: Er verließ die heimatlichen Berge Südtirols, um ganz in der chinesischen Kultur heimisch zu werden und in China Christus zu verkündigen. Im Himmel wolle er ein Chinese sein, ist von dem jüngst heiliggesprochenen, eigenwilligen Südtiroler überliefert. Heimat, das ist also mehr als Herkunft! Oft hat Heimat mit eigener Entscheidung und Lebenswahl zu tun. Wie bei Mutter Teresa, bei Josef Freinademetz – oder bei Issa Attallah, einem jungen Syrer, der jetzt gerade in Regensburg seine Ausbildung zum Koch macht.

Ein junger Syrer kocht Knödel in Regensburg

Vor 23 Jahren kam Issa in einem kleinen Dorf nahe Damaskus zur Welt. Er wäre gerne in seiner Heimat Syrien geblieben. Dort, wo auch seine Mutter, seine Schwester und sein Bruder leben. Aber nach dem Abitur wollte ihn das Regime zum Militär einziehen – und das nicht bloß für zwei Jahre Wehrdienst, wie früher in Friedenszeiten, sondern auf unbestimmte Zeit. Töten und sterben in diesem nun bald acht Jahre währenden Krieg? Das wollte Issa nicht! Also verließ er seine vertraute Heimat und machte sich auf einen gefährlichen Weg – wie Millionen Menschen in unserer Zeit. Er floh in die Türkei, von dort über Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn bis nach Bayern. Manchmal musste er auf der Straße schlafen, mehrfach zu Fuß Grenzen überqueren. In Regensburg hat er eine neue Heimat gefunden.

Für Migranten, die sich der Sprache ihres Gastlandes verweigern oder nur herumlungern, hat Issa kein Verständnis. Als er 2015 in Syrien aufbrach, sprach er neben seiner Muttersprache Arabisch nur Englisch und Französisch. Heute spricht er fast fließend Deutsch, lernt fleißig und hat viele Freunde. „Aber Bayerisch kann ich noch nicht reden“, grinst Issa. Als angehender Koch vertieft er sich auch in die bayerische Küche: Knödel, Käsespätzle, Schweinebraten, Schweinshaxen… Die arabische Küche war ihm bereits daheim vertraut. Ein Stück Heimat in der Fremde bot ihm die Kirche. Um genau zu sein: die melkitische Kirche, also jene altorientalische katholische Kirche, die die zweitgrößte katholische Ostkirche im Orient ist. „Die Kirche ist Heimat bei uns in Syrien“, sagt Issa und erzählt von den Spielen und Ausflügen, die er mit seinen Jugendgruppen einst machte.

„Die Kirche ist Heimat bei uns in Syrien“

Jetzt, in Regensburg, trifft er sich gerne mit dem melkitischen Seelsorger, fühlt sich aber auch in der Pfarrkirche ganz wohl. „Am Anfang war es komisch, denn ich verstand nicht alles“, sagt er. Da war nicht nur die sprachliche Hürde, sondern auch die andere Liturgie und Bildsprache. Wir gehen gemeinsam durch die Wallfahrtskirche St. Salvator in Donaustauf, und Issa erklärt mir Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen bayerischen und melkitischen Kirchen. Ein Pfarrer hat ihm die Grundgebete auf Deutsch beigebracht und so manches erklärt. „Die Kirche ist meine Heimat, auch hier in Deutschland“, sagt Issa Attallah. Sonntags geht er zur Messe. Und er betet – wie daheim in Syrien – vor jedem Essen und abends vor dem Einschlafen. Issa zieht den selbst gemachten Rosenkranz hervor, den er um den Hals trägt: „Wenn ich alleine bin, dann bete ich auf Arabisch, weil das für mich einfacher ist.“ Mittlerweile betet er in der Kirche auch mit den Einheimischen auf Deutsch.

Issa Attallah ist dabei, sich in Bayern zu beheimaten. Den ersten Anker dafür bot ihm die Kirche. Aber ganz reibungsfrei war das nicht: „Am Anfang guckten mich manche Menschen an: Was macht denn der in unserer Kirche? – Die dachten, ich sei ein Muslim.“ Issa hat sie aufgeklärt: „Viele Leute aus Deutschland wissen nicht, dass es in Syrien viele Christen gibt – und viele Kirchen.“ Tatsächlich ist das Christentum dort viel länger beheimatet als in Bayern. Seit der Zeit der Apostel nämlich. Manchmal sagt Issa zu seinen jungen bayerischen Freunden: „Jetzt kommt mal mit! Schaut euch mal meine Liturgie an!“ Ein paar konnte er schon überreden: „Die hatten Freude an unseren Liedern und Gesängen.“ Issa vermisst seine Heimat Syrien, vor allem seine Familie. Aber er ist bereit zu einem neuen Leben. Nur eines ist für ihn glasklar: „Ohne Glauben kann ich nicht leben!“

Von einem, der merkte, dass er aufbrechen muss

Wie Issa Attallah war auch Hartmut Constien von Kindesbeinen an im Glauben zu Hause: „Ich bin in einer Familie groß geworden, wo der sonntägliche Kirchgang irgendwie mit dazu gehörte.“ Doch auch er musste einmal loslassen: Er entschied sich, die vertraute konfessionelle Heimat zu verlassen – um sich neu zu beheimaten. Hartmut Constien war lutherischer Pfarrer in Hessen. „Ich habe immer mehr gemerkt: Mensch, für mich selber ist das in der lutherischen Kirche einfach nicht mehr Heimat. Das ist zwar, wo ich herkomme, da fühle ich mich auch sicher. Ich kenne das alles sehr gut und fühle mich mit vielen Formen sehr wohl. Aber ich habe gemerkt, dass ich aufbrechen muss!“

Gemeinsam mit seiner Frau, die ebenfalls Theologin ist, dachte er immer mehr über die katholische Kirche, über ihre Marien- und Heiligenverehrung, über „die katholischen Besonderheiten“ und über seine persönlichen Frömmigkeitsformen nach. Irgendwann war beiden klar: „Wir sind da, wo wir jetzt sind, nicht mehr richtig. Wir müssen jetzt katholisch werden!“

In seiner lutherischen Gemeinde waren viele Gläubige traurig. Manche seiner Amtsbrüder nannten ihn einen Verräter. Andere waren verständnisvoll: „Es gab Leute, die sagten: Wir wünschen euch alles Gute. Wir wissen, das ist euer Weg – und wir begleiten euch im Gebet!“ Anders als Issa Attallah hatte die Familie Constien keine Sprachhürde zu bewältigen. Und doch: „Für meine Kinder war der größte Bruch, dass wir plötzlich von Hessen nach Bayern zogen.“ Über den Kindergarten und die Schule fanden sie rasch neue Freunde. Und sie gewöhnten sich daran, dass der Papa in der Kirche neben ihnen in der Bank saß, und nicht mehr vorne am Altar stand.

Das hat sich mittlerweile wieder geändert, denn Hartmut Constien ist seit Juli katholischer Priester – ein ungewöhnlicher Schritt, so mit Frau und Kindern, aber die Kirche ist ja voll ungewöhnlicher Menschen. Der frühere lutherische Pfarrer und Familienvater ist heute Kaplan in der Pfarreiengemeinschaft Reinhausen-Sallern. In der Mariä-Himmelfahrts-Kirche gerät er richtig ins Schwärmen: „Der katholische Priester muss seine Identität bei Jesus Christus finden. Ihn soll er repräsentieren. Für ihn steht er da vorne. Sein Wort, sein Evangelium hat er zu verkünden. Wenn man als Priester nicht bei Jesus Christus selbst seine Heimat hat, bei ihm und seiner Mutter Maria immer wieder Heimat findet, dann kann man eigentlich kein Priester sein.“ Verdichtet werde das in der Beichte spürbar, wenn der Priester in Jesu Namen sagt: „Ich spreche dich los von deinen Sünden.“ Kaplan Constien erklärt: „Ich stehe an dieser Stelle für Christus ein – ich halte im Zweifelsfall auch für Christus den Kopf hin.“

„Hier sind wir richtig. Hier sind wir geborgen“

Für Christus den Kopf hingehalten haben – im wörtlichen Sinn – die Märtyrer: unter den römischen Kaisern Nero und Diokletian, unter den neuzeitlichen Tyrannen Hitler und Stalin, und auch heute in vielen Ländern der Welt, in denen Christen um ihres Glaubens willen verfolgt werden.

Eigenartig, dass Menschen lieber ihr Leben loslassen als ihren Glauben: Wie sehr müssen sie im Himmel ihre eigentliche Heimat sehen, um diesen Schritt zu gehen!

Hier auf Erden ist Hartmut Constien die katholische Kirche zur Heimat geworden, die große, weltweite Kirche mit ihren vielen Sprachen, ihren unterschiedlichen Riten und Spiritualitäten. Wenn er auf seinen Weg blickt, ist er sicher: „Gott hat seine Hand darüber gehalten.“ Sein Weg sei gesegnet gewesen und habe auch zu einem Ziel geführt, zur Beheimatung in der Kirche. „Ich habe gespürt: Hier sind wir richtig. Hier sind wir geborgen.“

Ob junge Menschen das verstehen könnten, frage ich den einstigen lutherischen Jugendpfarrer. Wenn junge Menschen in der Messe spüren könnten, dass Jesus Christus wirklich leibhaft gegenwärtig ist und sie berührt – dann schon. „Man hat in diesem Bereich einen schweren Fehler begangen. Man hat nämlich über viele Jahre hinweg gemeint, dass man jungen Leuten nichts zumuten dürfe. Ich glaube, man kann jungen Menschen ganz viel zumuten, und sie wollen auch ernst genommen werden! Wenn ich sie ernst nehme, dann kann ich ihnen auch die Schätze des Glaubens wieder aufschließen.“ Junge Menschen seien nämlich „viel spiritueller als man denkt“, fügt Hartmut Constien nachdenklich an.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden