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Redaktion: Benedikt Bögle und Markus Reder

Du bist, was du isst

Bayern ist schön. Ach was, Bayern ist schöner. Im Freistaat sind die Berge höher, die Wiesen grüner, die Trachten fescher und sogar die Kühe glücklicher. Das Bier ist süffiger, das Essen besser und der Himmel weiß-blauer. Mir san mir! Aber wer san mir eigentlich? Eine etwas ungewöhnliche Spurensuche.

Bierzelt, Dirndl, Blasmusik

Das ist Bayern. So sieht man das zumindest im Ausland. Und das Ausland beginnt – genau genommen – gleich jenseits des Weiß­wurst­äquators. Doch wo verläuft der, an Donau oder Main? Trennt er Bayern vom Rest der Welt oder Altbayern von Franken? Es lebe das Klischee. Aber im Ernst: Je weiter man weg ist, umso einfacher ist es. In New York, Rio, Tokio genügen Lederhose und Maßkrug und jeder weiß: Ah, Bayern.

„Bayerische Kultur ist ein Exportschlager“, betont Gunther Hirschfelder, der in Regensburg die Professur für vergleichende Kulturwissenschaft innehat. „Im Ausland setzt man deutsche Kultur mit bayerischer Kultur gleich.“ Stimmt so zwar nicht, aber das juckt keinen Ami und keinen Chinesen, der in Lederhose zum Oktoberfest anreist.

Je genauer man hinsieht, desto komplizierter wird die Sache. Zwischen dem gemeinen Unterfranken und den Ureinwohnern Altbayerns klafft schon sprachlich ein kaum zu überwindender Graben. Abgesehen von derart gravierenden Sprachbarrieren in ein und demselben Bundesland: Auch mentalitätsmäßig hat der Nordbayer mit dem Bewohner der Alpenregion etwa so viel gemeinsam, wie der Kormoran am Altmain mit dem Murmeltier auf der Alpspitze. Beides sind Tiere – beides sind Bayern. Wer oder was ist also Bayern? Die Frage ist nicht so leicht zu beantworten. Obwohl es einfache Antworten gibt.

„Sie sind Bayern“, hat Bayerns Ministerpräsident Söder zu Sebastian Schweinsteiger gesagt, als er ihm den Bayerischen Verdienstorden verliehen hat. Ach so! Aber wenn Schweini Bayern ist, was ist dann mit Dirk Nowitzki, Bully Herbig, Barbara Schöneberger, Benedikt XVI., Ludwig Erhard, den Scholl-Geschwistern, Jakob Fugger, König Ludwig und Kaiser Franz? Sind die nicht auch alle Bayern?

Bayern ist weiß-blau und ziemlich bunt zugleich. Bayern bedeutet Herkunft, Heimat, Lebensgefühl – für Einheimische wie für Zugroaste. Keine Frage: Der Freistaat ist ein Land der Gegensätze. Aber solche Gegensätze erweisen sich als weniger schroff, je länger man in Bayern lebt. Die sprichwörtliche „Liberalitas Bavariae“ bedeutet eben nicht Weißwurstigkeit und „Anything goes“. Sie ist Ausdruck enormer Integrationskraft, die umso stärker ausfällt, je tiefer man in der eigenen Kultur verwurzelt ist.

Wo wir gerade bei der Weißwurst sind. Tatsächlich ist Essen ein wichtiger kultureller Faktor. Das behaupten nicht nur Wiesenwirte, Biergärtner und Edel-Gastronomen. Das sagt auch die Wissenschaft. Einer der führende Köpfe auf dem Gebiet der Kultur-Kulinarik ist der Regensburger Professor Gunther Hirschfelder. „Oper ja, Bratwurstsemmel nein“, das ist mit Hirschfelder nicht zu machen. Für den Kulturwissenschaftler ist Kultur kein wertender Begriff. Er unterscheidet nicht zwischen „Hochkultur“ und „Alltagskultur“. Gerade der Alltag ist sein Forschungsgegenstand. „Das reicht vom Bleistift bis zum Regensburger Dom, vom Witz in der Straßenbahn bis hin zur Alltagsdiskussion über die Heilige Schrift“, sagt der Professor gegenüber GRANDIOS.

Für Hirschfelders Forschungsarbeit ist das Essen von großer Bedeutung. Der Mann hat sich gewissermaßen in die bayerische Esskultur verbissen. „An der Art und Weise, wie und was Menschen essen, kann man viel über die Entwicklung der gesamten Kultur ablesen“, sagt Hirschfelder. Du bist, was du isst, sozusagen. „Menschen werden geboren, heiraten, sterben – all das passiert aber nur einmal im Leben. Gegessen und getrunken wird in jeder Kultur an jedem Tag.“ Deshalb erforscht Gunther Hirschfelder dieses Thema. Wir reden hier also nicht von Weißbiermeditationen, sondern von wissenschaftlichen Erkenntnissen.

Was im Wirtshaus heute auf den Tisch kommt, war früher Mangelware: „Die großen Fleischmengen entsprechen nicht der Realität des früheren Bayern. Bis ins 20. Jahrhundert hinein aß man eher Mehl- oder Kartoffelspeisen“, sagt Hirschfelder. Allerdings auch nicht den beliebten Kaiserschmarrn oder Apfelstrudel. Dafür brauchte man nämlich weißes Mehl und das war im eher ärmlichen Bayern lange Mangelware. Bayern war ein landwirtschaftlich geprägtes Land, das über viele Jahrhunderte hinweg mit Armut zu kämpfen hatte – vom heutigen Wohlstand keine Spur. Mitte des 20. Jahrhunderts änderte sich das: Plötzlich war Fleisch für jeden in großen Massen bezahlbar. „Es war damals auch eine Reaktion auf die lange Zeit der Armut, dass man viel Fleisch gegessen hat.“

Na dann Prost!

Untrennbar mit der bayerischer Kultur verbunden ist das Bier. Tatsächlich hat Bier eine lange Tradition in Bayern. „In Bayern spielte Alkohol eine besonders große Rolle“, sagt der Kulturwissenschaftler. Im 19. Jahrhundert verbreiteten sich vielerorts Abstinenz-bewegungen. Das war in Bayern kaum vermittelbar. „Wein spielt für die Eucharistie eine überragende Rolle. Deswegen konnte man Alkohol in Bayern und anderen katholischen Regionen weniger stark kritisieren. Die Abstinenzbewegung entwickelte sich eher im angelsächsisch-calvinistischen Raum.“

Untrennbar mit Bayern verbunden ist das Tragen von Tracht. Besonders kultiviert wurde das aber erst im späten Kaiserreich, erklärt Hirschfelder. „Im Zuge der Militarisierung Deutschlands wurden Uniformen immer wichtiger.“ Die heutigen Bierzelt-Trachten erinnern ihn eher an Fasching. Sie seien eine „Chiffre für Karnevalismus“, meint er.

Die Globalisierung hat die Welt unübersichtlich gemacht. Die Folge: Eine wachsende Sehnsucht nach Regionalität und Tradition. Das verändert Alltags- und Esskultur. Ausländische, exotische Küche ist auf dem Rückzug. Mittlerweile sieht Hirschfelder auch hier einen Trend zum Regionalen: „Das Fremde wurde vom Exotischen zum Bedrohlichen. Dann sehnt man sich nach Tradition, nach dem Heimischen. Das sieht man in der Gastronomie besonders stark.“

Klischees aus der Tourismuswerbung

Nun hängt bayerische Identität nicht an Bier und Brotzeit. Wenngleich das maßgeblich dazugehört. Wenn das aber nicht alles ist, was macht Bayern so besonders, so einzigartig? Professor Dieter Weiß, der in München Bayerische Geschichte und vergleichende Landesgeschichte lehrt, verweist auf die Landesausstellung 2018. „Mythos Bayern“ lautete der Titel. Woher kommt dieser Mythos? Er gehe in Teilen auf die Fremdenverkehrswerbung des ausgehenden 19. und 20. Jahrhunderts zurück, erklärt Weiß gegenüber GRANDIOS. „Dabei wird Bayern in der Werbung, wie offenbar im Bewusstsein von Menschen weltweit, mit Oberbayern identifiziert.“ Zu Essen, Trachten, Blasmusik kämen noch die Königsschlösser. In der jüngeren Vergangenheit spiele für die internationale Bekanntheit auch noch der FC Bayern eine wesentliche Rolle, betont der Historiker.

Alles nur Klischees, Tourismuswerbung und der FCB? Mitnichten. „Neben den genannten Klischees gehen wesentliche Elemente des Bayernbildes tatsächlich auf das 19. Jahrhundert und Fördermaßnahmen des Königshauses zur Etablierung einer bayerischen Nation und Ausbildung einer bayerischen Identität zurück“, sagt Weiß. „Neben der Förderung von Volkstrachten und Volksmusik gehörte auch das Bemühen um die bayerische Kultur dazu.“ Heute drückt sich bayerisches Heimatbewusstsein unterschiedlich aus. Mit Blick auf die jüngere Generation nennt Weiß den Einsatz für die Natur, die Freude am Feiern in Tracht, die zunehmende Begeisterung für Volksmusik in modernen Formen und für den Dialekt.

Und was macht dann bayerische Identität aus? Der Professor verweist auf die Verfassung: „Die Bayerische Verfassung von 1946 beginnt mit dem Bekenntnis, dass eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Menschenwürde zu einem Trümmerfeld geführt habe.“ Der Historiker sieht drei wesentliche Punkte, die für ihn Bayern ausmachen: „Eine freilich gebrochene, mehr als tausendjährige Tradition – Bayern ist einer der ältesten Staaten Europas. Das Bekenntnis zu Gott. Die Achtung der Menschenwürde.“ Der katholische Glaube habe Kultur und Leben im Freistaat nachhaltig geformt, so der Historiker.

Tradition, Geschichte und Glaube prägen bayerisches Bewusstsein. Welche Rolle spielt das heute noch? Alte Selbstverständlichkeiten lösen sich auf. Kirchen werden leerer. Man sollte dennoch die Prägekraft, die von Brauchtum und religiösen Festen ausgeht, nicht unterschätzen. Auch das stiftet Identität. Keineswegs nur bei Kirchgängern. Davon ist der Amberger Stadtpfarrer Thomas Helm überzeugt. Als Beispiel verweist er auf das „Mariahilfbergfest“. Neben dem Altstadtfest eines der wichtigsten Großereignisse des Jahres in Amberg. Eine Woche lang steht „der Berg“ im Mittelpunkt. „Es ist diese eigentümliche Verbindung von geistlicher und weltlicher Feier, die das Bergfest so besonders macht. Wenn man während der Abendandacht schon den Duft der Bratwürste riecht und man sich danach ganz selbstverständlich in geselliger Runde im Bierzelt trifft“, sagt Pfarrer Helm. „Die Menschen kommen von weit her. Man kommt nach Hause, um sich mit der Familie oder mit Freunden von früher zu treffen. Der Mariahilfberg ist für die Amberger zweifellos ein Stück ihrer Identität und auch ihr Stolz.“ Das gelte auch für diejenigen, die sich nicht als religiös bezeichnen, meint der Pfarrer.

Feste wie das in Amberg, gibt es viele in der Oberpfalz, ja überall in Bayern. Im Feiern kommen Geistliches und Weltliches zusammen, da begegnen sich Tradition, Glaube und Alltagskultur. All diese Feste verbindet das urbayerische Bewusstsein, dass Leib und Seele zusammengehören. Das ist kein Klischee aus der Tourismuswerbung.