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Ausgabe 03 Identität

Haben wir alles nicht gewusst

Redaktion: Manfred Lütz I Illustration: Carina Crenshaw

Haben wir alles nicht gewusst

Wirklich wichtig oder wertloser Wissensmüll? In Zeiten von Social Media und Fake News ist das immer schwerer zu durchschauen. Der Durchmesser einer Klobürste ist völlig egal. Aber warum helfen wir Menschen in Not? Wer hat eigentlich die Toleranz erfunden? Und was hat die Vergangenheit mit unserer Identität zu tun? Wir halten die Geschichte des Christentums für einen großen Skandal. Die Fakten sagen anderes. Ich kannte sie nicht. Und Sie?

Wussten Sie, was der durchschnittliche Durchmesser von Klobürsten ist? Wissen Sie, seit wann es Klobürsten gibt, und dass die ersten Klobürsten nicht in Europa, nicht in Amerika, sondern in China eingesetzt wurden? Wenn Sie so etwas wissen, können Sie wahnsinnig viel Geld verdienen bei Günther Jauch oder in irgendeiner anderen Quizshow. Es gibt heute eine unglaubliche Masse an wertlosem Wissensmüll, der sich übers Internet ins Unendliche vermehrt. Und wenn es dann mal tatsächlich um Wichtiges geht, kann man Fake News oft nur schwer unterscheiden. Das aber ist gefährlich. Denn so können unbemerkt menschenverachtende Meinungen in die allgemeine Öffentlichkeit einsickern. Man kann inzwischen alles behaupten, auch wenn es völlig falsch ist, und am Ende glauben es alle, wenn man sich nur geschickt genug anstellt. Was da im Meer des gleichgültigen Wissens Meinungs-Giftmüll herumschwimmt, kann man am Ende vom allgemeinen Müll, aber auch von echtem wichtigen Wissen nicht mehr unterscheiden.

Wichtig ist, dass man in unserer Gesellschaft Menschen in Not hilft, dass man Behinderte fördert, dass man jedem Menschen eine Chance gibt, egal welcher Hautfarbe, Rasse oder Religion er ist. Dass man also tolerant ist und die Menschenwürde achtet, die Menschenwürde jedes Menschen. Doch warum eigentlich?

Das muss man wirklich wissen, dann wenn man das vergessen sollte, dann würde sie irgendwann grundlos wieder abgeschafft, eine solche grundlose Achtung vor einer grundlosen Würde. Vor allem, weil sie ziemlich teuer ist, diese Menschenwürde, wenn tausend Helfer in der Schweiz einen einzigen verunglückten Menschen aus einer Höhle retten. Man braucht also gute Gründe, die Menschenwürde jedes einzelnen Menschen für unantastbar zu halten, wie es in unserem Grundgesetz heißt. Aber kennen Sie welche?

Die Achtung vor der Menschenwürde ist nämlich ganz und gar nicht selbstverständlich. Die alten Griechen haben erfreulicherweise die Demokratie erfunden, aber von der Menschenwürde jedes Menschen hatten sie noch nie etwas gehört. Die Freiheit der Bürger in der griechischen Demokratie funktionierte nämlich nur – mit Sklaven, tausenden Sklaven. Und auch die römische Staatsordnung baute ganz auf Heerscharen von versklavten Menschen. Ganz natürlich sei die Sklaverei, meinte einer der größten griechischen Philosophen, Aristoteles. Und tatsächlich gibt es weltweit keine Kultur ohne Sklaven. Die Indianer hielten Sklaven, Sklaverei gab es in China und Indien. Und niemand widersprach, nirgends. Auch im Islam gab es nie eine Opposition gegen die Sklaverei. Erst 1963 wurde der letzte Sklavenmarkt in Saudi-Arabien auf westlichen Druck geschlossen. Was aber hat dazu geführt, dass die Sklaverei abgeschafft wurde? Die Aufklärung natürlich! – Dachte ich.

Jede Kultur hatte ihre Sklaven

Die römische Staatsordnung baute ganz auf Heerscharen von versklavten Menschen.

Da las ich vor einigen Jahren das Buch „Toleranz und Gewalt“ des international bekannten Historikers Arnold Angenendt und war total überrascht. Es gibt eine umfangreiche Sklavenforschung, die zum Ergebnis gekommen ist, dass die Aufklärer eben gerade nicht die Sklavenbefreiung bewirkt haben. Manche Aufklärer hatten selber Sklaven, so George Washington und Thomas Jefferson, die Väter der amerikanischen Demokratie. Dagegen stellt der amerikanische Soziologe Rodney Stark fest, „dass von allen Weltreligionen, eingeschlossen die drei großen Monotheismen, allein das Christentum die Vorstellung entwicklete, Sklaverei sei Sünde und gehöre abgeschafft.“ Wie das? Das Christentum sei eine Erlösungs-, das heißt Befreiungsreligion. Deswegen resümiert der Harvard-Soziologe Orlando Patterson: „So wurde das Christentum die erste und einzige Weltreligion, die zum höchsten religiösen Ziel die Freiheit erklärte.“ Wussten Sie das? Ich wusste das nicht.

Zwar zeigten auch im Christentum die Impulse zur Sklavenbefreiung erst mit der Zeit Wirkung. Aber schon im 4. Jahrhundert setzen sich die großen christlichen Theologen, die Kirchenväter, für den Freikauf von Gefangenen ein.

Im Frühmittelalter verschwinden in Europa – als einzigem Platz auf der Erde – die Sklavenmärkte, es entstehen einige Orden, deren Ziel es ist, Sklaven freizukaufen, und am Ende sind es im 19. Jahrhundert christliche Sekten, wie die Quäker, die die Sklavenbefreiung vollenden. Jeder Christ müsste das eigentlich wissen und könnte da doch zur Abwechslung mal ein bisschen stolz auf seine Altvorderen sein. Aber Christen neigen heute dazu, sich sicherheitshalber für ihre eigene Geschichte zu schämen – ohne sie freilich zu kennen.

Das aber ist das Problem für die ganze Gesellschaft. Jürgen Habermas, Deutschlands wichtigster Philosoph, der sich selbst für „religiös unmusikalisch“ erklärt hat, forderte jüngst „rettende Übersetzungen“ der jüdisch-christlichen Begrifflichkeit von der Gottebenbildlichkeit des Menschen, um den Menschenwürdebegriff, den zentralen Begriff unserer Gesellschaftsordnung, zu begründen. Tatsächlich hat der einflussreiche Philosoph Peter Singer die These vertreten, Schimpansen seien schützenswerter als späte Alzheimerpatienten, denn es komme doch auf die geistigen Fähigkeiten an, und da sei der Schimpanse nun einmal überlegen. Die Gesellschaft könnte viel Geld sparen, wenn sie Alzheimerpatienten und geistig Behinderten einen „würdigen Tod“ ermöglichen würde.
Wollen wir das?

Menschenwürde

Sind Schimpansen schützenswerter als späte Alzheimerpatienten – denn es komme doch auf die geistigen Fähigkeiten an?

Ob wir Christen oder Nichtchristen sind, gehört nicht die Achtung vor der Würde jedes Menschen zu unserer Identität, zu unserem deutschen, zu unserem europäischen Selbstverständnis?Aber was haben wir, wenn wir in die lieben braunen Augen eines Schimpansen schauen, denn für ein schlagendes Argument dagegen, die Zoos besser auszustatten und dafür die Altenheime auszudünnen? Die christliche Gottebenbildlichkeit, sagt der Atheist Jürgen Habermas. Wenn wir aber nichts mehr wissen über die christlichen Wurzeln unserer Gesellschaften, dann laufen wir Gefahr letztlich nicht mehr zu wissen, wer wir sind.

Die Christen selber sind da übrigens nicht immer sehr hilfreich. Sie haben sich angewöhnt, sich ungetrübt von jeder Sachkenntnis für Kreuzzüge, Hexenverfolgung, Inquisition und die sonstigen heiklen Themen lebhaft zu entschuldigen, was immer ganz sympathisch wirkt, aber niemandem wirklich weiterhilft.

Es war kein Christ, sondern der Linkenpolitiker Gregor Gysi, der schon vor Jahren sagte, er sei Atheist, aber er habe Angst vor einer gottlosen Gesellschaft, weil der die Solidarität abhanden kommen könne, Solzialismus sei schließlich nichts anderes als säkularisiertes Christentum. Von Atheisten müssen Christen sich inzwischen daran erinnern lassen, dass Mitleid eine christliche Erfindung ist. Die Heiden hatten kein Mitleid. Menschen in Not waren von den Göttern geschlagen. Behinderte oder anderweitig missliebige Kinder wurden im Gebirge ausgesetzt, wo sie elendig verhungerten, oder sie wurden zur beliebten Kinderprostitution abgerichtet. Die Christen taten das radikale Gegenteil. Sie stellten die Menschen in Not in den Mittelpunkt, denn in ihnen konnte man Christus, das heißt Gott selber, begegnen. Sie waren gegen Abtreibung und Kindstötung. Krankenhäuser sind christliche Erfindungen. Wussten Sie das? Aber wenn heute Eltern mit behinderten Kindern sich die Frage gefallen lassen müssen, ob das denn nötig gewesen sei, wenn alte Menschen langsam den Druck verspüren, in der Schweiz „würdevoll“ sterben zu sollen, um den Kindern nicht mehr zur Last zu fallen, dann verliert diese Gesellschaft tatsächlich ihre Identität, dann wird es wieder eiskalt hierzulande, dann siegen die Trumps, Dieter Bohlens und Heidi Klums, für die Geld, Erfolg und der Größte zu sein einzige Ziele des Lebens sind. Da macht man sich dann über Behinderte nur noch lustig und verachtet offen die Armen, die Erfolglosen und die kleinen Leute, denen es in diesem Leben nicht so gut geht. Wollen wir das?

Identität

Sollten Geld, Erfolg und der Größte zu sein die einzigen Ziele des Lebens werden?

Und dann ist da noch das Reden von der nationalen Identität. Es gibt die sogenannte „Identitäre Bewegung“, die ein selbstgebasteltes Phantasieproduktals deutsche Nation verehrt, und Pegida, die das christliche Abendland gegen den Islam verteidigen will, aber so wenig Ahnung vom Christentum hat, dass die Leute in der Adventszeit bereits Weihnachtslieder anstimmen. Doch Menschen, die das christliche Abendland hochleben lassen und gleichzeitig brüllen „Deutschland, Deutschland über alles“, sind schlicht nicht informiert. Denn auch Internationalität ist eine christliche Erfindung. Für die Stammesreligionen galt nur der eigene Stamm etwas, und Menschen anderer Stämme hatten keinerlei Rechte. Die Christen dagegen glaubten an einen einzigen Gott, der alle Völker gleichberechtigt geschaffen hat. Das hatte revolutionäres Potential. Karl der Große war ein brutaler Machtmensch, der ein Sexualleben führte wie Mick Jagger, aber seine große Leistung war tatsächlich die Christianisierung der Germanen, die dafür sorgte, dass die germanischen Völker sich nicht mehr gegenseitig die Köpfe einschlugen.

Die Reichstheoretiker Karls verkündeten, es gebe „nicht mehr Aquitanier und Langobarden, Burgunder oder Alemannen“, alle seien eins in der einen Kirche Christi. Das war Programm. So entstand Europa. Und weil im Neuen Testament die Fremden besondere Wertschätzung erfuhren, entstanden bereits im frühen Mittelalter Xenodochien, Fremdenherbergen. Deswegen sind Christen, die fremdenfeindlich oder gar Rassisten sind, im Grunde überhaupt keine Christen, sie nennen sich bloß so.

Schließlich ist auch Toleranz eine christliche Erfindung. „Tolerantia“ im klassischen Latein hieß „Lasten tragen“, Baumstämme zum Beispiel, und die Christen machten daraus: Menschen anderer Meinung ertragen. Das sagt die Sprachgeschichtsforschung.

Man muss nicht alles wissen. Aber man sollte wissen, woher wir kommen, man sollte die christliche Identität unserer Gesellschaft kennen, selbst als Atheist. Und dazu gehört auch, dass man weiß, warum die Kreuzzüge zwar ein Skandal, aber keine heiligen Kriege zur Verbreitung des Glaubens waren, dass auch die mittelalterlichen Ketzerverbrennungen ein Skandal waren, zumal sie einer ausdrücklichen Weisung Jesu widersprachen, an die man sich immerhin 1000 Jahre lang gehalten hatte, dass die Hexenverfolgungen erstaunlicherweise, wie neueste Forschungsergebnisse zeigen, von der modernen weltlichen Justiz betrieben und von Kirchenleuten beendet wurden, dass dagegen die Inquisition Hexenverfolgungen verhindert hat. All das sagt nicht der Vatikan, sondern das sind unbestrittene Ergebnisse neuester Forschung, erbracht von womöglich atheistischen Wissenschaftlern. Wussten Sie das?

Identitäre Bewegung

Menschen, die das christliche Abendland hochleben lassen und gleichzeitig brüllen „Deutschland, Deutschland über alles“, sind schlicht nicht informiert.

Mein Großonkel Paulus van Husen war Mitglied des „Kreisauer Kreises“ im Widerstand gegen Hitler. Er setzte aus seiner katholischen Überzeugung heraus sein Leben ein gegen eine Diktatur, die nach seiner Auffassung der christlichen Sicht des Menschen radikal widersprach. Er überlebte zufällig und kämpfte nach dem Krieg ebenso engagiert für den Aufbau eines demokratischen Rechtsstaats. Er war entschieden der Auffassung, dass das ohne eine christliche Grundlage auf Dauer nicht funktionieren könne.

Niemand muss den durchschnittlichen Durchmesser von Klobürsten kennen, aber jeder, der aktiv an dieser Gesellschaft teilnehmen will, muss über die Geschichte des Christentums Bescheid wissen. Gewiss, es gab Skandale in der Kirchengeschichte. Vor allem ist Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch katholische Priester viel schlimmer als anderer Missbrauch, ein totaler Vertrauensbruch, der oft auch religiöses Vertrauen nachhaltig zerstört. Das alles darf man nicht kleinreden.

Aber es ist ein Skandal, wenn man die Christentumsgeschichte nur als Skandalgeschichte kennt, denn das stimmt einfach nicht. Es steht viel auf dem Spiel: Nur wenn man seine Geschichte kennt, kann man eine gesunde Identität wahren. Das ist wichtig für ein gutes Leben.

Toleranz

Toleranz ist eine christliche Erfindung: Menschen anderer Meinung ertragen.