Skip to main content

Autor: Rudolf Gehrig | Illustration: Arno Dietsche

SAC_37VIER

Früher ist man in den Wald gegangen und hat Fangen gespielt – heute spielt man am Computer mit virtuellen Identitäten

Die Tür fällt ins Schloss. Ein Knopfdruck. Der Rechner beginnt zu surren. Jetzt kann es also beginnen, das „wahre Leben“. Erschöpft wirft Sascha(*) seine Tasche aufs Bett und lässt sich in seinen Drehstuhl fallen. Sascha heißt eigentlich anders. Seinen wahren Namen will er nicht genannt sehen. Er steht kurz vor dem Abschluss seines Studiums und will vermeiden, dass ihn jemand identifizieren kann. Bloß kein Stress. Schon gar nicht bei der Jobsuche. Flink ist das Passwort eingegeben, ruckzuck startet das Spiel. Da hat Sascha schon längst sein Headset auf. Heute Abend ist Counter Strike angesagt. „Das ist doch das wahre Leben“, seufzt er zufrieden, während er mit einer Hand zur Dose greift und den Energydrink mit einem kurzen Zischen öffnet.

Wenn Sascha sich durch virtuelle Welten ballert, hat er sich eine neue Identität zugelegt. Ein Pseudonym, ein neues Profil. Seinen „Zockernamen“ gibt er nicht preis. Heute ist er mit vier weiteren Freunden verabredet, die er von der Uni kennt. Sie wollen „Wettkampf“ spielen. Zwei Fünfer-Teams treten gegeneinander an, Terroristen gegen „Counter Terrorists“. Sascha und seine Freunde sind heute Terroristen. Und sie verlieren die erste Runde: „Counter terrorists win!“. „Kann passieren“, murmelt er, trommelt mit den Fingern auf das Mousepad und wartet auf den Beginn der zweiten Runde.

Nach ein paar weiteren Runden und einem schließlich gewonnenen Wettkampf hat Sascha Zeit zum Reden. Er studiert Psychologie, letztes Semester, „hoffentlich“, wie er sagt. Das Zocken im Internet ist für ihn Ausgleich und Entspannung, aber auch sein, wie er sagt, „bequemster Kontakt zur Außenwelt“. Früher ist man in den Wald gegangen und hat Fangen gespielt – heute sitzt man in seiner Freizeit am Computer und verteilt Headshots. Für Sascha ist das normal. „Es gibt sicher den einen oder anderen, der es damit übertreibt und der nichts in seinem Leben hat außer Computerspielen. Aber für mich ist das eine schöne Ergänzung. Ich habe schon viele neue Leute dadurch kennengelernt.“

Bei der Frage, ob Sascha in seiner virtuellen Welt ein anderer ist als in der realen, muss er kurz überlegen. „Ich glaube, ein bisschen ist das so“, sagt er schließlich. „Beim Zocken rede ich mit Leuten, die ich im echten Leben wahrscheinlich nicht einmal anschauen würde. Und umgekehrt wahrscheinlich genauso. Aber hier sind ganz andere Dinge wichtig. Da geht es dann darum: Wer macht die meisten Kills? Wer bringt die meisten Punkte für sein Team? Solche Sachen eben.“ Er zeigt auf ein paar Profile von einigen seiner Spielkameraden. Neben dem Namen und einem selbstgewählten Avatarbild ist auch ein militärischer Rang angegeben. Die Bilder zeigen halbnackte Frauen, Manga-Zeichnungen oder Porträts von Kriegshelden. Die virtuelle Welt hat hierarchische Strukturen. Durch gute Leistung in den Games kann man sich Rang für Rang nach oben arbeiten. „Ist natürlich auch schlau“, lacht Sascha, „das steigert den Suchtfaktor.“

Teamgeist, Geschick und Dominanz sind die entscheidenden Faktoren. Ähnlich wie auf dem Fußballplatz kann ein einzelner, guter Spieler ganze Runden entscheiden und sein Team mitreißen. Durch geschickte Aktionen erarbeitet man sich den Respekt der Kameraden. Kopfschüsse sind das eine, „Messer-Kills“ stehen auf einer anderen Stufe. „Wenn du jemanden messerst, ist das besonders demütigend für den anderen. Du schleichst dich von hinten ran und erstichst ihn. Da brauchst du schon mehr Skills als wenn du ihn mit deiner Knarre wegballerst.“ Er selbst wurde gerade am Anfang seiner Zocker-Karriere öfter mal „gemessert“. „Wahrscheinlich waren das die Leute, die im echten Leben nichts auf die Reihe kriegen.“

Dass im Internet andere Regeln herrschen als im „echten“ Leben, zeigt sich besonders in den sozialen Netzwerken. Gerade bei Facebook, Instagram oder YouTube gibt es viele, die bereitwillig Einblicke in ihre Gefühlswelt geben, von der man sonst nichts mitbekommen würde. Öffentliche Selbstentblößung ist zum Massenphänomen geworden. Andere dagegen bauen sich eine komplett neue Identität auf. Auch hier sind die Motive unterschiedlich. Psychologiestudent Sascha sieht darin kein Problem: Der Mensch neige doch grundsätzlich dazu vorzugeben etwas zu sein, was er nicht ist. „Ob das jetzt bei der Gartenparty beim Nachbarn ist oder auf Instagram, macht keinen Unterschied. Meist geht es uns um Anerkennung.“

Durch das Internet hat sich offenbar nur der Schauplatz geändert, nicht jedoch die Motivation. Doch klar ist, dass in der digitalen Welt die Hemmschwelle, eigene Gefühle und Einstellungen preiszugeben, deutlich niedriger ist. Manche zeigen im Schatten der Scheinidentitäten ihr wahres Gesicht. Gerade auf YouTube wird deutlich, dass dort viele anderen Menschen Beleidigungen an den Kopf werfen, die ihnen im realen Leben vermutlich nicht einmal über die Lippen gekommen wären. Kein Wunder, wenn YouTube auch „Güllegrube des Internets“ genannt wird. Auf der anderen Seite erleichtert das Internet die Kontaktaufnahme mit anderen. Dating-Plattformen verzeichnen hohen Zulauf. Online scheint manches einfacher. Es ist auch einfacher, anderen etwas vorzumachen.

Profis haben Wege gefunden, mit ihrer falschen Identität Profit zu machen. Dabei ist nicht die Rede vom neuen Berufszweig „YouTuber“, bei dem schon junge Menschen sehr viel Geld damit verdienen, dass sie in YouTube-Videos belanglose Details aus ihrem Teenie-Leben preisgeben. Und durch geschicktes Productplacement die Markennamen ihrer Sponsoren präsentieren. Nein; es geht um die kriminellen Machenschaften der sogenannten „Romance Scammer“.

Auch die Polizei warnt mittlerweile vor ihnen. Der „Romance Scammer“ versucht den „digitalen Enkeltrick“: Mithilfe gestohlener Fotos gibt er sich als alleinstehender Soldat, Arzt oder Geschäftsmann aus. Er kommt über die sozialen Netzwerke mit seinen Opfern ins Gespräch, baut eine emotionale Bindung zu ihnen auf, bis er sie eines Tages aus den unterschiedlichsten Gründen um Geld bittet. Dadurch, dass die Story zuvor perfekt gestrickt und mit den verschiedensten Fotos und den abenteuerlichsten Geschichten glaubwürdig untermalt wurde, fallen viele darauf herein.

 

Nicht immer geht es dabei ums Geld. Veronika Schwarz ist vor ein paar Jahren auf einen solchen Betrug hereingefallen. Über das Internet kam sie mit einem Amerikaner in Kontakt. Schon bald waren Gefühle im Spiel. Es zog sich über mehrere Monate hin. Der Mann schickte ihr Fotos und Geschenke. Zu einem Treffen kam es nie. Schließlich stellte sich heraus, dass hinter alldem eine aus Deutschland ausgewanderte Akademikerin stand, die sich mithilfe mehrerer Fake-Profile eine Scheinidentität aufgebaut hatte. Sie hatte keinerlei finanzielles Interesse an Veronika Schwarz. Doch der emotionale Schaden war immens. Veronika Schwarz hat ein Buch über ihre Erfahrungen geschrieben: „Wie meine Internet-Liebe zum Albtraum wurde – Das Phänomen der Realfakes“.

Schwarz stellte fest, dass sie nicht das einzige Opfer solcher „Realfakes“ war. Sie rief den Blog realfakes.net ins Leben, um Opfern zu helfen. Täglich bekomme sie Nachrichten und Hilferufe, sagt sie. Auch von Tätern. 70 Prozent der Opfer
und der Täter seien Frauen, sagte sie in einem Interview. Bei den „Realfakes“ lägen oft psychische Störungen zugrunde, so Schwarz. „Sie erzählen, es sei für sie wie eine Sucht, dem eigenen Leben zu entfliehen, und am Ende fast unmöglich, da wieder rauszukommen. Außerdem spielt der Wunsch nach Macht eine Rolle: Man kann den anderen mit einem Fake-Account gut manipulieren. Manchmal ist es auch ein Weg, seine unterdrückte Sexualität auszuleben, etwa bei lesbischen Frauen, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht outen können. Sexuell motivierte Männer äußern dann irgendwann den Wunsch nach Nacktbildern. Manche rutschen auch einfach so rein: Sie erstellen einen falschen Spaß-Account, kommunizieren mit jemandem und verlieben sich dann im Laufe der Zeit.“

Mittlerweile ist Saschas Computer im Ruhemodus. Den Energydrink hat er gegen eine Dose Bier und eine Zigarette ausgetauscht. Es wird philosophisch. „Ich glaube nicht, dass sich der Mensch an sich durch das Internet geändert hat. Nur die Umstände. Manches ist leichter geworden, anderes eben schwieriger.“ Was das für die Identitätssuche bedeutet?
Sascha zuckt mit den Achseln und pustet Zigarettenrauch durchs offene Küchenfenster. „Ich glaube, du hast durch das Internet viel mehr Möglichkeiten als früher. Eine größere Auswahl. Und vielleicht scheitern deshalb viele daran,
weil sie sich nicht entscheiden können. Manchmal weiß ich ja selber nicht, wer ich eigentlich bin.“ Ganz früher hätten die Männer ihre Identität wahrscheinlich darüber definiert, wer die meisten Mammuts erlegte und die Frauen, wer die sauberste Höhle und die meisten Kinder hatte, sinniert er weiter. Später seien Berufe identitätsstiftend gewesen. Schließlich seien dadurch heutige Nachnamen wie „Müller“, „Schneider“ oder „Bauer“ entstanden. „Aber wenn ich meine Identität heute nur über das Internet verstehen würde oder darüber, wie viele Headshots ich verteilt habe, dann wäre das schon ziemlich arm.“

(*) Name geändert.