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Eine Kurzgeschichte von Jürgen Liminski

Zeit des Vergessens

Gibt es Schlimmeres, als sich selbst zu verlieren? Ja, wenn man aufhört zu lieben. Was man von Alzheimer-Patienten lernen kann.

Korbinian hielt es nicht mehr aus. Noch waren die Worte der Predigt nicht verklungen, da ging er raus, fast stürmte er auf die Straße. „Der konn a guat redn,“ keuchte er, auf seinen Lieblingsitaliener zustapfend, „was weiß der scho vom Umgang mit Alzheimer-Leit“. Plötzlich hielt er inne. „Verdammt, i hob sie vergessen, bin selber schon deppert.“ Er machte kehrt, lief die Treppe des Hintereingangs vom Dom hoch und eilte zurück. Da saß sie noch, in ihrem Rollstuhl, und lauschte den Domspatzen. Es war für sie immer ein Erlebnis, schon seit ihrer Jugend. Vielleicht, weil er als zehnjähriger Junge früher auch da stand im weiten Altarraum, in der vierten Reihe, der dritte von links. Seine Stimme sei immer so rein gewesen, sagte sie neulich, als ob man im Dom bei den gewaltigen Himmelstönen zwischen Orgel und Gesang die einzelnen Stimmen heraushören könnte. Mütter können das, hatte sie ihm geantwortet. „Mütter können noch viel mehr“, hatte sie hinzugefügt und auf den Marienaltar gezeigt. Jetzt saß sie wieder da und lauschte. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass er wütend weggegangen war – und wenn, dann hatte sie es schon vergessen. Aber die Klänge aus der Vergangenheit, sie hallten im Gedächtnis wider, und manchmal sang sie auch mit. „Schau“, sagte sie, „der da in der vierten Reihe, der dritte von links, wie süß der singt.“

Sie war immer noch eine noble Frau mit ihren gepflegten Haaren, den diskret lackierten Fingernägeln, ihrem unschuldigen Lächeln und ihren 76 Jahren. Sie las viel, vergaß aber das meiste gleich wieder, historische Romane oder Biografien allerdings begeisterten sie, auch wenn sie nicht mehr alles verstand. Dann sprach sie aber gern auch ein paar Sätze auf Französisch oder Englisch, so wie sie es in der Schule gelernt hatte, ein paar Jahre nach dem Krieg, und sie erinnerte sich noch gut an die Lehrer, den Monsieur Dupont und Mrs Kelly. Die waren längst gestorben, so wie ihr Mann Maximilian. Max war verunglückt, da war Korbinian gerade fünf Jahre alt und noch im Kindergarten.

Max und Korbinian hatten in den wenigen Jahren ihres gemeinsamen Lebens viel unternommen. Max fuhr damals ein Motorrad, mit dem er später auch verunglückte, und wenn er abends damit nach Hause kam, durfte Korbinian die letzten Meter bis in die Garage vorne sitzen und den Lenker halten. Da war er ganz groß. Nach dem Unfalltod hatten sie ihm zuerst erzählt, der Papa sei auf einer langen Reise, in Paris und in der ganzen Welt. Später, als Korbinian mit seinen Fragen keine Ruhe gab, ist die Mutter dann mit ihm auf den Friedhof gegangen und hat ihm gesagt: „Da ist er, aber seine Seele ist weit weg, unterwegs“. Korbinian hatte sie nur verständnislos angeschaut. Das sah die Mutter nicht, weil die Tränen wie ein Schleier den Blick trübten.

Aber als er am nächsten Tag nicht vom Kindergarten nach Hause kam, obwohl der ja nur um die Ecke lag, hatte sie ihn erst lange gesucht, bis sie auf die Idee mit dem Friedhof kam. Dort fand sie ihn. Er kniete am Grab und grub mit seinen Kinderhänden ein Loch, am Rand war schon ein kleiner Haufen. „Er war jetzt lange genug weg, da unten in Paris“, erklärte er und in seinen großen Augen war Freude zu sehen. „Er soll jetzt wieder nach Hause. Mama, du bist doch auch traurig“. Daran konnte sich Mutter gut erinnern, an die erdigen Hände, die großen Augen voll Freude und später voll Ernst, als sie ihm erklärte, dass Papa nicht mehr kommen werde, dass das Motorrad auch nicht mehr kommen werde und dass sie jetzt bald arbeiten müsse, er in die Schule käme und lernen müsse. Dann könne er sich später auch ein Motorrad kaufen. Solche und andere Geschichten erzählte sie jetzt oft. Sie wiederholte sie immer wieder. Sie vergaß ja, dass sie die gleichen Geschichten erst gestern oder vorgestern erzählt hatte. Sie lebte in diesen Geschichten, die Vergangenheit wurde Gegenwart, so wie beim hellen, silbernen Klang der Domspatzen. Dort hatte er später ein Zuhause für den Tag gefunden, weil es dort auch eine Betreuung für den Nachmittag gab.

Der Prediger stand jetzt am Altar, die Orgel stimmte an, die Spatzen sangen das Sanctus von Palestrinas Missa „Papae Marce“. Wie sanft hatte er damals seine Stimme einfließen lassen, wie kräftig war der Chor der kleinen Kehlen erklungen. Das Sanctus und noch mehr das Gloria der „Papae Marcelli“ hatten ihn immer weit getragen, zu seinem Papa. Mutter hatte ihm erzählt, dass er auf seiner Reise im Himmel angekommen sei. Der Gedanke hatte ihn getröstet, es war eine endgültige Klärung. Vielleicht auch ein Stück Verklärung, aber das war allemal besser als das seelenzermürbende Hoffen und Warten von Hans, seinem Chorfreund, dessen Vater eines Tages einfach mit einem großen Koffer in der Hand wegzog. Alle Jungs verklären ihren Papa, hatte der Domkapellmeister der Mutter erklärt. Sie bräuchten Vorbilder und sei es nur in der Erinnerung. Das helfe bei der Unterscheidung zwischen Gut und Böse, zwischen Recht und Unrecht. Ohne Vorbilder käme keiner durchs Leben. Die Mutter hatte genickt. Sie hatte längst gemerkt, dass Korbinian sich in seine Welt zurückgezogen hatte und dort eigene Beziehungen lebte. Es gab für ihn viele Vaterfiguren, ein Mosaik an Vätern. Natürlich, der eine fehlte, der mit ihm sprach und ihm die Welt erklärte und warum das Motorrad schneller fuhr als ein Laster, obwohl es doch kleiner war. Korbinian fand Ersatzvorbilder in den Helden von Comics, als die noch zwischen Gut und Böse klar unterschieden. Mit ihnen machte er im Kopfkino Erfahrungen, ging an die Grenzen, rettete die Welt, so wie Väter es mit ihren Söhnen oft machen. Mütter sind vorsichtiger, vielleicht auch realistischer, sie scheuen das Risiko. Später las er in einem Buch über Bindungen und Beziehungen, die Mutter führe das Kind zu den Menschen, der Vater zu den Leuten.

All das schoss Korbinian in Sekunden durch den Kopf, als er seine Mutter da alleine den Domspatzen und Palestrina lauschen sah. Bald würde sie ihn vielleicht nicht mehr erkennen. Und auch ihr Verhältnis zu sich selbst würde sich ändern, ihre Identität würde sich wandeln. Sein verstorbener Freund Gregor, der Benediktiner in Weltenburg, hatte ihm mal eine Definition von Identität genannt. Sie stammte von einem spanischen Philosophen und Soziologen, José Ortega y Gasset, und lautete: „Yo soy yo y mis circunstancias“ – „Ich bin ich plus meine Umstände.“ Diese Umstände änderten sich, aber die Person bliebe. In der Person wohne die Identität, meinte Gregor, aber es gebe halt ab und zu neue Möbel, neue Nachbarn, neue Häuser. Seine Mutter kam mit den neuen Situationen und den Menschen nicht mehr zurecht. Im Netz hatte er dann bei seinen Recherchen zu Alzheimer gelesen: „Die hirnorganisch bedingte Einschränkung vor allem der intellektuellen Fähigkeiten sowie der zeitlichen, örtlichen und situativen Orientierung schreitet unterschiedlich schnell voran.“ Jetzt hatte sie schon Schwierigkeiten beim Briefträger, obwohl der doch schon seit Jahren immer wieder ein Wort mit ihr gewechselt hatte. Sie siezte ihn auf einmal wieder, so dass Korbinians Frau Karin dem guten Mann die Situation erklären musste. So erging es auch anderen, und so ging im Alltag ein Beziehungslicht nach dem anderen aus. Aber der Mensch findet seine Identität in seinen Beziehungen, hatte ihm Gregor geschrieben, als er ihn um Rat fragte. Das sei zuerst die Beziehung zu Gott, dann zum Kreis der Familie und dann zu dem der Freunde und Bekannten. Jetzt wurden die Kreise enger. „Wann wird sie auf sich selbst zurückgeworfen sein?“, fragte sich Korbinian. Gregor hatte ihm mal auf einer Kanufahrt auf der Donau gesagt – da war er schon ein paar Jahre bei den Benediktinern – das Entscheidende einer Beziehung sei das Du und der Kern des Dus sei die Person, die existiere auch in schwacher Verhüllung, etwa wenn jemand schlafe oder eben nicht ganz bei sich sei. Und jetzt fiel es ihm auf. Der Priester hatte etwas Ähnliches gesagt, vorhin in seiner Predigt. Alte und Kranke seien nicht wertlos, nur weil sie nicht mehr produktiv sein könnten. Sie seien eine Chance für mehr Menschlichkeit in dieser Gesellschaft, ja sie lehrten uns Menschlichkeit, weil sie und ihre Umstände uns zwingen, die Person zu sehen, auch wenn sie uns nicht mehr erkennt. Das sei die unbekannte, die vergessene Leistung der Alzheimerkranken. Sie zwängen uns zur Achtung der Würde, mithin zur Menschlichkeit. Sie appellierten an unsere Fähigkeit zu selbstloser Liebe, zu einer Liebe, die kein „Danke“ und überhaupt keine Antwort mehr erwarte. Sie erinnerten uns durch ihre Präsenz an fundamental menschliches Verhalten, ohne dass wir unseren zivilisatorischen Standard und unseren Fortschritt vergessen könnten. Sie wüssten nicht mehr, was sie tun – und gerade deshalb schuldeten wir ihnen Dank.

Hehre Sätze, hatte Korbinian gedacht. Was weißt du schon, wie schwierig es ist, wenn die Person vergisst auf Toilette zu gehen, wenn sie aggressiv wird, gerade gegenüber den Liebsten, wenn die Gemütsschwankungen lichte Momente bringen und sie erkennen, dass sie vielleicht eine Last sind und sie darüber in Traurigkeit verfallen? Hehre Sätze, abstrakte Welt der Philosophen und Theologen. Die Wut war hochgekocht und er brauchte Luft, einen Schnaps oder sonst was beim Italiener, bei Michele. Jetzt war er wieder da und schaute auf seine Mutter. Weiß sie noch, wer sie ist? Die Messe war beim Agnus Dei angelangt, wieder schwangen die Stimmen der Spatzen kraftvoll durch den Dom. Korbinian liebte dieses Stück, vor allem die Passagen, die schließlich im Flehen um Frieden erhoben blieben – Dona nobis pacem. Gern hätte er auch mal etwas Frieden und Ruhe gehabt, allein zu sein mit seiner Karin und den zwei Buben. Aber konnte er Mutter noch alleine lassen? Mit Karin war er sich einig: Wir werden sie nicht ins Heim geben, sie nicht auf eine Reise schicken, deren Ziel sie nicht kennt. Von Gregor hatte er mal eine kleines Büchlein geschenkt bekommen mit dem Titel: „Familie – Ort der Wiederkehr“. Hierher kehren alle zurück. Aus Paris und seiner erdigen Unterwelt. Aus der Vergangenheit. Aus dem Vergessen. Es ist der Sehnsuchtsort. Es ist auch der Platz für die Emotionen, für die Schwachen, die Empfindsamen und die Demenzkranken. Denn, so erinnerte sich Korbinian an eine Passage aus dem Buch, die eigentlich menschlichen Fähigkeiten, Liebe, Vertrauen, Milde, Barmherzigkeit, Dankbarkeit, Freundlichkeit, Solidarität, Freude über den Moment der Gemeinsamkeit – all das bleibe auch beim Demenzkranken lange erhalten. Sich um Alzheimerkranke zu kümmern, gehe nicht ohne Liebe. Schon deshalb solle die Mutter in der Familie bleiben. Aber sie waren sich auch im Klaren darüber, er und Karin, dass die Pflege zu Hause Grenzen kenne, medizinische und seelische. Nur, so weit waren sie noch nicht.

Der Prediger setzte zum Segen an. Die Mutter bekreuzigte sich. Gleich würde sie ihn fragen, wer das war und was er gesagt habe. Er nahm sich vor, ihr geduldig zu antworten und bei Michele einen Kaffee für sie und sich zu bestellen. Dort sollten sie auf Karin und die Buben warten und dann einen Ausflug machen. Auch in der Natur wurde sie immer lebendig, die Vögel und der Geruch von Wald und Wiese weckten Erinnerungen. Das Ich ist auch die Erinnerung des Körpers. „Wir haben keinen Körper, wir sind Körper“, hatte der Prediger auch gesagt, irgendeinen weisen Mann zitierend. Hören, Riechen und Schmecken gehörten zu den Sinnen, die der Mensch zuerst entwickele und zwar noch im Mutterleib. Das bleibe. „Doch net so übel, der Prediger, hat jedenfalls a G’fui für die Leit“, sagte Korbinian zu sich selbst. Mutter schlief jetzt. Korbinian schob sie ins Freie und schaute um sich. Neben ihm schob ein Priester eine alte Frau im Rollstuhl vorbei. Es war der Prediger. Freundlich sprach er zu ihr, er nannte sie Mama. Die alte Frau lächelte.