Skip to main content
Ausgabe 04 Freiheit

Stell dir vor, es herrscht Terror, und keiner schaut hin.

Lesedauer: ca. 6 Min.

Autorin: Michaela Koller | Titelbild: Getty Images: Liliboas

Stell dir vor, es herrscht Terror, und keiner schaut hin.

Christenverfolgung nimmt weltweit dramatisch zu. Trotz Massenmorden, Massakern und militantem Christenhass bleibt der große internationale Aufschrei aus. Droht der Religionsfreiheit ein blutiges Ende? Menschenrechtsanwältin Maria Anthony will sich damit nicht abfinden. Dafür wird sie mit dem Tod bedroht. Aufgeben will sie dennoch nicht. GRANDIOS hat sie in Pakistan getroffen.

Hass kennt keine Feiertage: Mehr als 250 Menschen rissen die Attentäter in Sri Lanka an Ostern in den Tod. Drei Anschläge galten Kirchen, drei trafen Hotels, die zum Osterfrühstück geladen hatten. Im Hof der Zionskirche spielten gerade Kinder, als sich ein Selbstmordattentäter genau dort in die Luft sprengte. Triumphierend bekannte sich eine Gruppe des Terrornetzwerks „Islamischer Staat“ (IS) zu dem Massenmord.

Die hohe Opferzahl hat viele schockiert. Für einen Augenblick hat sie die Aufmerksamkeit auf ein Thema gelenkt, das selten Schlagzeilen macht. Dabei nehmen Verfolgung und Diskriminierung von Christen weltweit zu. Schon jetzt sei 2019 eines der blutigsten Jahre für Christen, beklagt das internationale katholische Hilfswerk „Kirche in Not“. Doch Morde, Vertreibung, Schikanen und Unterdrückung ereignen sich oft abseits der öffentlichen Wahrnehmung.

Verschlafen wir einen Völkermord?

Ein von der britischen Regierung in Auftrag gegebener Bericht stellte kürzlich fest: die Christenverfolgung in vielen Ländern habe nahezu „Völkermord“-Ausmaße erreicht. Der britische Außenminister Jeremy Hunt meinte dazu, offenbar habe man die Christenverfolgung verschlafen. Verwundern kann das nicht: Selbst nach dem Terror von Sri Lanka vermieden es westliche Spitzenpolitiker davon zu sprechen, dass die Anschläge Christen galten.

Unterdessen wird die Blutspur des Hasses länger und länger. Nach Anschlägen in Burkina Faso Mitte Mai schlug der Bischof von Kaya, Theophile Nare, Alarm: „Die Situation wird immer schlimmer. Es ist klar, dass man die christliche Präsenz beseitigen will“, sagte Theophile Nare. Innerhalb weniger Tage hatten Islamisten 16 Christen ermordet.

Setzt sich für Religionsfreiheit ein: Menschenrechtsanwältin Aneeqa Maria Anthony.
Foto: The Voice Society

„Christen werden getötet wie Hühner“

Mit dramatischen Worten flehte der Erzbischof von Kaduna um Hilfe der internationalen Gemeinschaft für Nigeria: „Christen werden getötet wie Hühner“, beschrieb Matthew Man-Oso Ndagoso die Situation in seinem Land. Wieder seien hunderte Christen getötet worden. Ganze Dörfer seien zerstört. Tausende seien vor radikalen Fulani-Hirten geflohen. Zudem hält die Gewalt der islamistischen Terrorgruppe „Boko Haram“ Nigeria in Atem. Rund 2,2 Millionen Menschen sind auf der Flucht. Immer wieder werden Frauen und Mädchen entführt, gequält, vergewaltigt.

Auch im Nahen Osten hält die Bedrohung an. Zwar gab es militärische Erfolge gegen den IS im Irak und in Syrien. Doch die mörderische Ideologie des IS ist damit keineswegs besiegt. Christliche Gemeinden bluten aus – seit Jahren.

Viele Schicksale erreichen die Weltöffentlichkeit nicht. Wenn doch, dann nur als kurze Notiz. Wer erinnert sich noch an die Angriffe islamistischer Rebellen auf eine Missionsstation in der Zentralafrikanischen Republik? Wer spricht noch vom Anschlag auf die Kathedrale von Solo auf den Philippinen mit 20 Toten? Wer weiß noch von den Übergriffen nationalistischer Hindus auf eine katholische Schule in Indien? All das hat sich in diesem Jahr ereignet. Die Liste des Grauens ließe sich lange fortsetzen. Seit Jahren machen Hilfswerke und Menschenrechtsorganisationen auf das Drama der Christenverfolgung aufmerksam. Aber der große Aufschrei der internationalen Politik angesichts von Morden und Massakern, von Unterdrückung und Diskriminierung ist bislang ausgeblieben.

Pakistan: Asia Bibi ist frei, inhaftierte Christen leiden umso mehr

Die Freilassung von Asia Bibi war eine der wenigen positiven Meldungen aus Ländern, in denen Christen leiden. Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich seit der Ausreise Bibis aus Pakistan die Lage dort verschlechtert hat.

„Seit Asia Bibi von der angeblichen Beleidigung des Propheten Mohammed freigesprochen wurde und ihr Heimatland Pakistan verlassen konnte, leiden dort andere inhaftierte Christen umso mehr“,

betont die pakistanische Menschenrechtsanwältin Aneeqa Maria Anthony. Seit Jahren macht sich Anthony für Religionsfreiheit stark und setzt sich für die Rechte der christlichen Minderheit ein. Wir haben die couragierte Anwältin in Pakistan getroffen.

Schon die Umstände unserer Begegnung zeigen, wie heikel die Lage ist. Gleich nach der Ankunft in Lahore verschwinden wir ins Hotel, um uns umzuziehen. Wir schlüpfen in die traditionelle pakistanische Kleidung mit Pluderhose und Tunika. Ich lege die Dupatta, eine Art Schal, über Haare und Schulter. Dann fahren wir mit dem Auto in den Stadtteil, in dem die Anwältin lebt. Seit 2003 arbeitet sie als Strafverteidigerin am Lahore High Court.

„Geht schnell hinein, dreht euch nicht erst um!“, warnt uns Imran (Name geändert, A.d.R.). Wir folgen seiner Anweisung und huschen ins Gebäude. Besucher sollte hier besser niemand erkennen. Sie könnten zur Zielscheibe islamistischer Fanatiker werden. Imran fährt weiter, um die Anwältin von einem Termin abzuholen. Er ist Mitarbeiter von „The Voice Society“, einer Menschenrechtsorganisation, die Anthony mitgegründet hat. „The Voice Society“ bietet Mittellosen, die wegen ihres Glaubens diskriminiert werden, kostenlose Rechtshilfe und ermöglicht Kindern bedürftiger christlicher Familien den Schulbesuch.

Zielscheibe islamistischer Fanatiker

Nach einer Stunde öffnet sich das Tor zum Innenhof des Hauses. Imran rollt mit dem Auto herein. Hinten öffnet sich die Tür. Anwältin Anthony steigt aus und breitet die Arme zum Willkommen aus. Die große, rundliche Enddreißigerin trägt ihr langes schwarzes Haar offen über ihrem bunten Salwar Kameez, der Landestracht Pakistans. Ihre mokkabraunen Augen leuchten. Die Frau strahlt Lebensfreude aus. Das passt eigentlich nicht zu der Situation, von der ihre Besucher erfahren: Nicht aus Bequemlichkeit, aus Sicherheitsgründen verlässt sie ihr Haus nur hinter den getönten Scheiben ihres Autos.

„Mit den Drohungen, die wir erhalten haben, könnten wir ein Regal mit Aktenordnern füllen“, sagt sie. Drei Mordanschlägen ist sie bereits entkommen. Einmal habe die Bedrohung ein solches Ausmaß angenommen, dass sie sich monatelang mit ihrem Mann und den beiden kleinen Kindern verstecken musste. Im Winter 2015/2016 hatten Islamisten sie als Feindin des Islams gebrandmarkt. In Aushängen in der Stadt riefen sie zum Mord an ihr und ihr nahestehenden Personen auf.

Die Menschenrechtsanwältin Maria Anthony und die Autorin des Beitrags Michaela Koller.
Foto: The Voice Society

Gejagt, verprügelt und bei lebendigem Leib verbrannt

Der Mordaufruf stand im Zusammenhang mit ihrem juristischen Erfolg im Fall eines christlichen Ehepaares: Shama und Shahzad Masih. Die beiden waren Zwangsarbeiter in einer Ziegelei. Anfang November 2014 verbreitete sich dort das Gerücht, Shama habe Seiten aus einem Koran verbrannt. Shama war damals im fünften Monat schwanger. Ein islamischer Geistlicher beschuldigte sie der Gotteslästerung. Hunderte Menschen eilten herbei, um das vermeintliche Verbrechen zu rächen. Der aufgebrachte Mob jagte Shama und ihren Mann. Sie rissen ihnen die Kleider vom Leib und prügelten mit Schuhen, Stöcken und Steinen auf sie ein. Darauf warfen sie die beiden in einen brennenden Ziegelofen. Zeugen zufolge lebte Shahzad noch, ehe er im Ofen verbrannte. Shama war schon zuvor tot.

Als Anwältin vertrat Anthony die Kinder des Paares. 106 Menschen mussten wegen des Lynchmordes hinter Gitter. Islamisten schäumten vor Wut. In den Augen dieser Fanatiker gelten nicht nur vermeintliche Gotteslästerer als todeswürdig, sondern alle, die ihnen helfen. Also auch Angehörige, Nachbarn oder Verteidiger. Selbst Richter gerieten bereits in ihr Fadenkreuz.

Wer sich einsetzt, lebt gefährlich

Über Fälle von Christen zu berichten, die derzeit in Pakistan in Haft sitzen, erweist sich als schwierig. Selbst pakistanische Kirchenvertreter bitten westliche Journalisten um Zurückhaltung. Es könnte Betroffene in noch größere Schwierigkeiten bringen. Öffentlichkeit kann hilfreich sein, aber auch riskant. Wer sich in Pakistan für Christen einsetzt, lebt gefährlich. Zwei hochrangige Politiker wurden ermordet, weil sie sich für die Freilassung von Asia Bibi eingesetzt hatten, die man zu Unrecht der Gotteslästerung beschuldigt hatte.

Das in Pakistan geltende strikte Gesetz gegen Gotteslästerung (Blasphemiegesetz) ist für religiöse Minderheiten lebensgefährlich. Oft wird es benutzt, um persönliche Rechnungen zu begleichen. Kritik am Islam gilt als Beleidigung Gottes. Darauf stehen hohe Haftstrafen oder der Tod. So wie die Gesetze angewendet werden, bieten sie eine Steilvorlage für Falschbeschuldigungen.

Der „Fall Asia Bibi“ machte weltweit Schlagzeilen. Als die Familienmutter 2010 zum Tode verurteilt wurde, war das nicht abzusehen. Im Oktober 2018 kam es nach über acht Jahren Haft zum Freispruch. Ende Januar wurde Bibis Freispruch bestätigt. Von einem Leben in Freiheit konnte auch nach dem Urteil durch den Obersten Gerichtshof Pakistans keine Rede sein. Bibi musste sich weiter verstecken. Erst vor Kurzem konnte sie ausreisen. In Kanada hat sie Asyl gefunden.

Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit stärken

Während Bibi nach ihrem Freispruch untergetaucht war, hielten Hilfsorganisationen Kontakt. Darunter das weltweite katholische Hilfswerk „Kirche in Not“. Als päpstliche Stiftung geht es dem internationalen Hilfswerk nicht nur um die Freiheit der Christen.

„Religionsfreiheit ist ein universales Menschenrecht. Wo Christen verfolgt werden, sind vielfach auch andere religiöse Minderheiten betroffen“,

sagt Berthold Pelster gegenüber GRANDIOS. Pelster ist Experte für Religionsfreiheit beim deutschen Zweig des Hilfswerkes. „Wo Religionsfreiheit eingeschränkt ist, werden immer auch andere Rechte unterdrückt“, erklärt er. Etwa Meinungs-, Presse- oder Versammlungsfreiheit. Der Einsatz für verfolgte Christen diene der Stärkung der Menschenrechte insgesamt.

Religionsfreiheit sei eng mit Rechtsstaatlichkeit verbunden, betont Pelster. Die Situation unterdrückter und verfolgter Christen lasse sich dauerhaft nur verbessern, wenn Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit gefördert würden. Das komme allen Menschen und Religionsgemeinschaften zugute. Es sei ein Gebot der Menschlichkeit, auch auf andere Gruppen hinzuweisen, die ebenso wegen ihres Glaubens verfolgt und diskriminiert würden. Gerade vor dem Hintergrund einer immer säkularer werdenden Gesellschaft sei dies dringend nötig. Viele Menschen verschlössen heute die Augen vor religiöser Diskriminierung.

Wie dramatisch die Lage weltweit ist, dokumentiert der Bericht „Religionsfreiheit weltweit“ von „Kirche in Not“.

Demnach leben 61 Prozent der Weltbevölkerung in Ländern, in denen das Menschenrecht auf Religionsfreiheit nicht respektiert wird. In 38 Ländern kommt es zu schwerwiegenden Verletzungen der Religionsfreiheit.

In 18 dieser Länder hat sich die Lage seit 2016 nochmals verschlechtert. Zu diesen Ländern gehören etwa Indien, China, der Iran und die Türkei. Beim Grad der Verletzungen der Religionsfreiheit unterscheidet der Bericht zwischen Diskriminierung (21 Länder wie Ägypten, Kasachstan, Vietnam und Russland) und offener Verfolgung (17 Länder, zum Beispiel Myanmar, Eritrea, Sudan und Usbekistan). Die Gründe für Diskriminierung und Verfolgung sind unterschiedlich. Als Hauptursachen nennt der Bericht: Islamischen Radikalismus, extremen Nationalismus oder autoritäre Ideologien. Weil der christliche Glaube Freiheit und Würde jeder einzelnen Person betont, verbreitet sich mit ihm ein Freiheitsverständnis, das jedem totalitären Herrschaftsanspruch widerspricht. Diktatoren und Potentaten, die die Freiheit des Individuums bekämpfen, ist das ein Dorn im Auge. In Nordkorea etwa kann schon der Besitz einer Bibel mit dem Tode bestraft werden.

Das Geheimnis der Freiheit ist der Mut

Das Leid der Verfolgten anerkennen, Hassverbrechen brandmarken: So sehen die ersten Schritte auf dem Weg zu mehr Gerechtigkeit aus. Das sieht auch Menschenrechtsanwältin Anthony in Pakistan so. „Der Fall von Shama und Shahzad war der erste in Pakistan, bei dem Täter, die Christen verfolgt haben, bestraft wurden. Für die christliche Minderheit war das ein großer Erfolg“, betont sie. Ihr selbst wurde nach dem Urteil mit Mord gedroht. Rund drei Monate tauchte sie unter. Drohungen könne sie nicht abwenden, sagt sie. „Also haben wir gelernt, damit zu leben.“ Auch in einem aktuellen Fall wurde die Anwältin bedroht – von den Klägern, mitten im Gerichtssaal. Radikale Islamisten würden den gleichen Druck auf Richter ausüben, beklagt sie.

Als Anthony 2009 mit ihrer Arbeit begann, war ihr klar, dass die Bedrohung sie begleiten würde. „Das ist meine Berufung“, habe sie damals gespürt. Davon ist sie nach wie vor überzeugt. Der Glaube, der viele Christen in Gefahr bringt, ist auch Quelle ihrer Kraft. Die Anwältin kämpft weiter für Gerechtigkeit und Religionsfreiheit. Sie will den Starrsinnigen und Fanatikern widerstehen. Aufgeben kommt für sie nicht infrage, nur weil es Mächtigeren so gefällt. „Solange uns Gott beschützt, fühle ich mich sehr ermutigt, diese Arbeit zu tun“, sagt sie zum Abschied und strahlt.