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Ausgabe 04 Freiheit

Weisungen, die in die Freiheit führen.

Lesedauer: ca. 8 Min.

Fotos: Shutterstock, Bernhard Spoettel, Elisabeth Fürst

Weisungen, die in die Freiheit führen.

Eine Spurensuche von Stephan Baier

Sie ist schön und schrecklich, stets gefährdet und äußerst zerbrechlich. Unser ewiger Traum und unser ständiges Drama: die Freiheit.

Was artgerechte Hühnerhaltung ist, wissen wir mittlerweile. Aber gibt es auch so etwas wie artgerechte Menschenhaltung? Unser bayerischer Papst, Benedikt XVI., behauptete in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag in Berlin so etwas – wenngleich etwas weniger provokativ formuliert:
„Es gibt auch eine Ökologie des Menschen. Auch der Mensch hat eine Natur, die er achten muss und die er nicht beliebig manipulieren kann. Der Mensch ist nicht nur sich selbst machende Freiheit.“
Ernüchternd für Ideologen, befreiend für uns alle: Der Mensch kann sich nicht einfach selbst erfinden – er muss es aber auch nicht.

Als einzelne Menschen, als Gesellschaft und als Staat müssen wir nicht Gott spielen und Menschen schaffen oder modellieren, sondern lediglich die „Ökologie des Menschen“ achten. In seiner Bundestagsrede versuchte Benedikt XVI. den Politikern zu erklären, warum der Staat wie der Einzelne auf die Natur des Menschen zu achten haben: „Gerade so und nur so vollzieht sich wahre menschliche Freiheit.“ Ganz im Gegensatz zu dem Klischee, das einige Theologen und manche Medien „Papa Ratzinger“ (wie die Italiener den Papst aus Bayern nennen) anhängen wollten, erweist sich Joseph Ratzinger als Lehrmeister der Freiheit. Machen wir uns an seiner Hand also auf die Spurensuche.

Bei Benedikt XVI. finden wir diesen schwergewichtigen Satz: „Die echte Freiheit besteht darin, dass man auf dem Weg der Wahrheit vorangeht, gemäß der eigenen Berufung und im Wissen, dass jeder vor seinem Schöpfer und Erlöser Rechenschaft über sein Leben ablegen müssen wird.“ Der Weg der Freiheit und des Glücks bestehe nicht darin, „allen sich bietenden Moden zu folgen“, auch nicht in einem „Leben in der Äußerlichkeit, im Schein“. Vielmehr gehe es um „unsere Würde als Kinder Gottes, die zur Freiheit berufen sind“. Das klingt schwer und groß zugleich.

GOTTES FREIHEIT IST GRENZENLOS, ABER GEBUNDEN.

Die Theologin Michaela Hastetter bitte ich um Erklärung. Als langjährige Sprecherin des „Neuen Schülerkreises Joseph Ratzinger“ ist sie mit Papst Benedikts Denken ja vertraut. „Freiheit ist und bleibt ein Traum der Menschheit“, sagt die junge Theologin. „Die Freiheit Gottes ist grenzenlos. Wir als seine Geschöpfe haben Anteil an dieser Freiheit, weil wir nach seinem Bild geschaffen sind.“ Beruhigend: Gottes Freiheit sei keine Willkür, sondern „Freiheit der absoluten Liebe, die die Freiheit und Liebe des Menschen sucht“. Das klingt plausibel, denn wenn Gott unsere Liebe will, muss er uns Freiheit gewähren. Zu allerlei können wir gezwungen werden, doch niemand kann gezwungen werden zu lieben.

Aber ist Gott selbst dann noch frei? Hat er sich nicht seinerseits an uns Menschen gebunden? „Gott ist nicht nur Freiheit, sondern er ist Beziehung, er ist Liebe. In dieser Liebe hat er sich an den Menschen gebunden“, bestätigt Michaela Hastetter. Das „Risiko der Liebe“ sei das größte Risiko gewesen, das Gott in seiner Freiheit einging. „Gottes zuvorkommende Liebe“, nennt das der Abt des Zisterzienserklosters Heiligenkreuz im Wienerwald, Maximilian Heim, ebenfalls ein Kenner der Theologie Ratzingers, der sogar mit dem ersten „Premio Ratzinger“ ausgezeichnet wurde. Das Zeichen dieser Liebe sei das Kreuz: „Jesus hat freiwillig für uns das Kreuz angenommen, nicht als Zeichen der Versklavung, sondern der Liebe.“ Erstaunlich: Gott schuf den Menschen, um ihn zu lieben und von ihm geliebt zu werden. Und ließ ihm zugleich die Freiheit, sogar Gott selbst zu vergessen und zu verleugnen.

Stephan Baier spricht mit Professor Hastetter über Gottes grenzenlose Freiheit
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WAS SOLLEN DANN ALL DIE GEBOTE?

Wenn aber Gott unsere Freiheit wollte, warum dann all die Gebote und die Weisungen der Kirche? „Die Zehn Gebote werden von der jungen Generation wieder neu entdeckt: als Weisungen, die in die Freiheit führen“, ist Abt Maximilian überzeugt. Michaela Hastetter ergänzt: „Solange der Mensch selbstsicher ist, scheint er keine Einengung ertragen zu können. Wird er aber müde oder schwach, gerät er in Zweifel.“ Wollte er zuerst frei sein wie ein Fisch im Meer, dann sei er im Moment der Gefahr doch dankbar für die schützende Hafenmauer, den festen Boden unter den Füßen.

Das Bild von der möglichst grenzenlosen Freiheit beginnt zu bröckeln: Sind Freiheit und Bindung vielleicht gar die beiden Pole, die nur gemeinsam zur Selbstfindung des Menschen führen? Die Theologin dreht den Gedanken noch weiter: „Die Selbstentfremdung ist die leidvollste Erfahrung des Menschen heute. Nicht mehr zu wissen, wer man eigentlich ist, die eigene Identität verloren zu haben, die in der Würde liegt, ein Kind Gottes zu sein, dieses Gottes, der dem Menschen nahe sein wollte.“ Bei Joseph Ratzinger finden wir den gleichen Gedanken, aber anders formuliert: „Durch die Sünde beabsichtigt der Mensch, sich von Gott zu befreien. In Wirklichkeit aber macht er sich zum Sklaven. Er entfremdet sich von sich selbst.“

WAS MACHT UNS FREI?

Was also macht uns wahrhaft frei? „Die Wahrheit wird euch frei machen“, antwortet Jesus laut Johannes-Evangelium. Michaela Hastetter erzählt vom heiligen Augustinus, der – als hochbegabter Jüngling, und weit davon entfernt, ein Heiliger zu sein – auf der Suche nach totaler Selbstverwirklichung zunächst einem „Trugbild von Freiheit“ nachgelaufen sei. „Er wurde ein Sklave seiner Begierden.“ Der spätere Bischof und Kirchenlehrer war nach eigener Aussage in seiner Jugend getrieben „vom Wahnsinn wilder Wollust“, durchlebte zwei wilde Ehen, schloss sich zeitweise einer Sekte an, strebte nach Reichtum und Karriere. Dann kam die große Wende: „Er hörte auf, um sich selbst, um sein aufgeblasenes Ego zu kreisen und erkannte, dass sein Glück darin lag, fortan als kleines Ich mit anderen um die göttliche Sonne zu kreisen. Das hat ihn erst wirklich frei gemacht.“ Ach ja, das eigene Ego, steht uns das nicht ständig im Weg?

Stephan Baier spricht mit Abt Maximilian Heim über seine Entscheidung für ein Leben im Kloster.
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RECHTLOSIGKEIT IST UNFREIHEIT

Nun stehen wir Menschen ja nicht als Vereinzelte vor unserem Gott. Wir sind eingebettet in Strukturen, die uns mitunter stützen und helfen, oft aber auch die Luft zum Atmen nehmen. Gleich hinter Furth im Wald lief bis 1991 der sogenannte „Eiserne Vorhang“, die Grenze zwischen zwei politischen Systemen – und zwei unterschiedlichen Auffassungen vom Menschen. Das kommunistische System des von der Sowjetunion dirigierten Ostblocks versuchte, nicht nur das gesamte Leben der Menschen, sondern auch ihr Denken zu bestimmen und zu steuern. Gemäß der Maxime Lenins: „Freiheit ist ein bürgerliches Vorurteil.“ Die kommunistischen Diktaturen in Osteuropa wie die Tyrannen aller Zeiten mühten sich, den Menschen die Freiheit zu rauben. Zutiefst ungerecht sind solche Systeme, die den Menschen der Willkür staatlicher Macht ausliefern. „Denn erst dadurch ist das Volk befreit […], dass es zu einer Rechtsgemeinschaft geworden ist“, schrieb Joseph Ratzinger. „Die Unfreiheit ist die Rechtlosigkeit.“

Recht ist offenbar eine Bedingung für Freiheit. Wo nicht das Recht herrscht, sind wir der Willkür der Mächtigen und der jeweils Stärkeren ausgeliefert. Noch einmal Ratzinger: „Befreiung besteht nicht in der allmählichen Abschaffung von Recht und von Normen, sondern in der Reinigung unserer selbst und in der Reinigung der Normen, sodass sie das menschengemäße Miteinander der Freiheiten ermöglichen.“

Könnte es sein, dass unsere Idee der Freiheit und die in Europa über Jahrhunderte entwickelte Auffassung vom Rechtsstaat eine gemeinsame Wurzel haben?

Der französische Staatsmann Robert Schuman, einer der Gründerväter des vereinten Europas, war davon überzeugt: „Die Demokratie verdankt ihre Entstehung und Entwicklung dem Christentum. Sie wurde geboren, als der Mensch berufen wurde, die Würde der Person in individueller Freiheit, den Respekt vor dem Recht des anderen und die Nächstenliebe gegenüber seinen Mitmenschen zu verwirklichen.“ In vorchristlicher Zeit habe es solche Ideen nicht gegeben, meinte Schuman. In antichristlichen Systemen wie dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus auch nicht, können wir ergänzen.

Ein anderer Vordenker der europäischen Einigung, der in Böhmen aufgewachsene Richard Coudenhove-Kalergi, meinte 1937, als Nazis und Kommunisten daran gingen, Europa in Blut und Tränen zu ertränken: „Die Geschichte des Abendlandes ist die Geschichte des menschlichen Ringens um persönliche Freiheit.“ Auch er bestätigt: Erst das Christentum „verankerte den Persönlichkeitsglauben in der Idee der Gotteskindschaft, den Freiheitsglauben in der Idee der Gottesunmittelbarkeit des Menschen“. Sein Fazit: „Das Evangelium brachte die frohe Botschaft der Einmaligkeit, Einzigartigkeit und Unsterblichkeit der Menschenseele: der Freiheit des Willens.“

Stephan Baier spricht mit Dr. Maria Raphaela Hölscher über ihre Erfahrungen in Albanien.
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FREIHEIT IST NICHT WILLKÜR, SONDERN HAT MIT VERANTWORTUNG ZU TUN

Der christliche Glaube wies damit den Staat in die Grenzen: Der Mensch hat als Abbild Gottes Rechte, die ihm keine Volksabstimmung, kein Staat, keine Nation und keine Klasse verliehen haben – und die ihm deshalb auch keine Volksabstimmung, kein Staat, keine Nation und keine Klasse nehmen können. Die Menschenrechte hat der Staat nicht großzügig gewährt, sondern er muss sie erkennen und anerkennen. „Es gibt Grundlagen unserer Ordnung, die vorgegeben sind. Nicht alles ist Ausfluss menschlicher Willkür und politischer Mehrheiten“, sagt der Europapolitiker Bernd Posselt im Gespräch mit GRANDIOS. Das deutsche Grundgesetz habe man oft als „getaufte Verfassung“ bezeichnet, weil es von der Verantwortung vor Gott und den Menschen ausgeht. „Der Rechtsstaat ist immer in Gefahr, in jeder Generation“, sagt Posselt. Ergänzt aber sogleich: „Es gibt auch Gefahren durch eine Freiheit, die sich von der Verantwortung abkoppelt.“

Joseph Ratzinger drückte das so aus: „Freiheit bedarf eines gemeinschaftlichen Inhalts, den wir als die Sicherung der Menschenrechte definieren können.“ Vor dem Deutschen Bundestag erinnerte Benedikt XVI. an die Diktaturen des 20. Jahrhunderts: „Wir haben erlebt, dass Macht von Recht getrennt wurde, dass Macht gegen Recht stand, das Recht zertreten hat und dass der Staat zum Instrument der Rechtszerstörung wurde.“ Die Aufgabe des Politikers jedoch sei es, „dem Recht zu dienen und der Herrschaft des Unrechts zu wehren“.

Mit einem Politiker, der das so sieht, fahre ich im Auto durch Oberbayern: Ich befrage Manfred Weber, den aus Niederbayern stammenden Europapolitiker, zu seinem Glauben, seinen Überzeugungen und seinen Visionen. „Wer durch Europa reist, erlebt eine große Vielfalt an Sprachen, Kulturen, Geschichte“, sagt er. „Aber es gibt eine übergreifende Gemeinsamkeit: In fast jeder Stadt und fast jedem Dorf steht mittendrin eine christliche Kirche! Dieser Kontinent ist zutiefst vom Christentum geprägt.“ Weber, heute einer der führenden Entscheidungsträger in der Europäischen Union, gerät ins Schwärmen: „Wie wunderbar, vielfältig und schön ist unsere europäische Lebensart! Auf dem gesamten Kontinent genießen wir Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, soziale Marktwirtschaft und die Gleichheit von Frau und Mann: Prinzipien, die unsere Gesellschaften ordnen und lebenswert machen. Diese europäische Lebensart, die ohne die christlichen Fundamente nicht denkbar ist, will ich nicht nur verteidigen, sondern weltweit positiv vertreten.“ Freiheit und Rechtsstaatlichkeit hängen also nicht nur irgendwie zusammen; sie sind Früchte desselben Baumes und haben eine gemeinsame Wurzel: das Christentum.

WAS BRAUCHEN WIR ZU ECHTER SELBSTVERWIRKLICHUNG?

Vielen, gerade jungen Menschen erscheint die Kirche weniger als Botschafterin der Freiheit, sondern eher als Lehrerin einer strengen Doktrin. Das kennt auch der heutige Abt von Heiligenkreuz. Maximilian Heim erinnert sich im Gespräch mit GRANDIOS, wie er als Jugendlicher laut und Türen zuwerfend auf sein Zimmer rannte, als er sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, nicht in die Kirche mitzugehen. Später schlich er sich heimlich aus dem Haus und fuhr mit dem Rad zur Kirche. Und dann – nachdem es nicht mehr Führung durch die Eltern sondern eigener Entschluss war – erlebte er seine erste wirklich offene Beichte: „eine Erfahrung von Freiheit und Befreiung, die selbst meine Umgebung bemerkt hat“.

Mit 22 Jahren trat der gebürtige Kronacher ins Kloster ein. In diesem Alter suchen die meisten ein Maximum an Freiheit; er wählte umfassende Bindung – verpflichtete sich als Mönch zu Armut, Keuschheit und Gehorsam. Die Armut war dabei das geringste Problem: „Geld allein macht nicht glücklich. Das Berechnende war mir immer zuwider“, sagt Abt Maximilian. Herausfordernder war der Verzicht auf eine Freundin, auf Ehe und eigene Kinder. Die Lebensform des Mönchs ist schon eine starke Zeichenhandlung – „gegen die Banalisierung der Sexualität“, wie der Abt erklärt. „Sexualität ist etwas Heiliges, das aber einen Rahmen braucht, damit es den Menschen nicht versklavt und in die Enge führt.“ Und wie steht es um den Gehorsam? „Man übergibt seine Freiheit einem anderen“, und das ganz bewusst, meint der Abt nachdenklich. „Viele Menschen merken gar nicht, wie sehr sie sich selber in ihrem eigenen Willen versklaven lassen.“

Abt Maximilian Heim hat seinen Weg gefunden. Die Gelassenheit und die Fröhlichkeit, die er ausstrahlt, belegen das mehr als alle Worte. Aber lässt sich die Weisheit der Mönche in unseren ganz normalen Alltag übertragen? Die moderne Gesellschaft manipuliere den Menschen, etwa in seinem Konsumverhalten, sagt der Abt. Da werde der Mensch instrumentalisiert und zum Objekt gemacht. Wenn er sich so versklaven lässt, läuft er Gefahr, „nie seine große Berufung zu entdecken“.

Was aber ist seine Berufung? „Unsere Würde besteht darin, dass uns Gott als freie Geschöpfe gemacht hat.“ Unsere Existenz ist nicht zufällig, deshalb sollen wir „auf dem Weg der Wahrheit vorangehen“. „Was brauchen wir zu echter Selbstverwirklichung? Freiheit plus…?“, will ich vom Abt wissen. „Liebe!“, antwortet der Zisterzienser, ohne einen Augenblick zu zögern. Selbstverwirklichung sei „die Verwirklichung der eigenen Berufung“, und das gehe nur mit einem Du: „Der Mensch ist immer auf Gemeinschaft hin angelegt, letztlich auf die Gemeinschaft mit Gott.“