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Ausgabe 04 Freiheit

Wird Gott virtuell?

Lesedauer: ca. 6 Min.

Autor: P. Justinus Pech OCist | Illustrationen: Arno Dietsche

Wird Gott virtuell?

Wenn wir unsere Freiheit nicht am Computer abgeben wollen, sollten wir endlich anfangen, uns mit Künstlicher Intelligenz zu befassen.

Nicht aus Angst vor dem Fortschritt, sondern aus Begeisterung für die Zukunft.

Mischt Euch ein!

Selbstfahrende Autos, Pflegeroboter, lernfähige Supercomputer: Künstliche Intelligenz (KI) macht rasante Fortschritte. Wir stecken mitten in einer gigantischen technologischen Revolution. Sie kommt auf leisen Sohlen, aber das Ausmass der Veränderung wird atemberaubend sein. Das zeichnet sich längst ab: Visionäre entwickeln kühne Pläne. Investoren wittern Milliarden-Geschäfte. Und die technischen Möglichkeiten scheinen geradezu grenzenlos. Schon jetzt melden Medien immer weitergehende Erfolge. Wohin führt das alles? Wird man diese Entwicklung am Ende noch kontrollieren können? Solche Fragen will dieser Beitrag zumindest vorsichtig anreissen. Aber der Reihe nach.

Was genau ist gemeint, wenn von KI die Rede ist? Unter Künstlicher Intelligenz (im Englisch-en: artificial intelligence) versteht man einen Teilbereich der Informatik. Dieser beschäftigt sich mit maschinellem Lernen und dem Automatisieren von intelligentem Verhalten von Maschinen. Dabei greift dieses Forschungsgebiet heute auf alle Lebensbereiche des Menschen über. Es geht nicht nur darum, eine Maschine intelligent zu machen. Ziel ist es, das Leben des Menschen komplett zu verbessern und zu verändern. Der sogenannte Transhumanismus geht noch einen Schritt weiter. Er versucht den Menschen durch eine Mensch-Maschine-Verknüpfung zu optimieren. Dieser Fortschritt hat zwei Seiten.

Die Revolution ist längst in vollem Gang

Am Beispiel Smartphone wird das konkret. Das Smartphone ist aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Es bringt fantastische Vorteile, aber es kann auch jeden, der es nutzt, überwachen und dessen Verhalten steuern. In nur zehn Jahren hat das Smartphone unser Leben, beziehungsweise unsere Verhaltensweisen bereits tiefgreifend verändert. Wie und was wir kommunizieren, gestaltet sich anders. Angefangen bei den Geboten der Höflichkeit bis hin zu unserer Arbeitswelt und unserem Konsumverhalten.

Auch in anderen Bereichen sind solche Entwicklungen absehbar. Teilweise sind sie schon konkret. In Japan werden in der Altenpflege verschiedene Formen von Pflegerobotern eingesetzt. Diese Pflegeroboter sind in der Lage, sich lernend auf das Verhalten der Senioren einzustellen. In der Radiologie machen computergestützte Verfahren den Ärzten Konkurrenz: Tumorerkrankungen erkennen sie auf dem Bildmaterial mindestens so gut wie ausgebildete Mediziner. Auch die Arbeit von Juristen könnte zu 25 Prozent durch KI ersetzt werden, schätzen Experten. Im Marketing kann jeder heute schon den Einfluss der KI spüren. Man muss nur genau beobachtet, welche Werbebanner und Werbemails einem zugehen. Die verschiedenen digitalen Assistenten wie Siri, Cortana und der Google Assistent ziehen derweil in immer mehr Haushalte ein. Dort verändern, beziehungsweise steuern, sie unser Verhalten. Und das ist nur der Beginn der technischen Veränderungen, die durch KI möglich sein wird.

Speicher- und Rechnerkapazitäten entwickeln sich immer weiter. Damit werden viel mehr Rechenoperationen möglich. Das eröffnet neue Anwendungsgebiete. Doch darf der Mensch alles, was er kann? Wie weit wollen wir dabei gehen? Wie jede technologische Innovation hat auch KI negative Folgen, die bedacht werden müssen. Gerade wenn wir vieles nicht absehen können.

Ohne menschliches Zutun: Computer entwickeln EINE eigene Sprache

Machen wir einen simplen Vergleich. Nehmen wir als Beispiel den Einsatz von Antibiotika. Wer an einem bakteriellen Infekt erkrankt ist und ein Antibiotikum verschrieben bekommt, weiß dessen Wirkung zu schätzen. Aber wir wissen heute auch: Bei immer mehr Menschen wirken Antibiotika nicht mehr. Man spricht dann von Antibiotikaresistenz. Bereits 1945 warnte Alexander Fleming, einer der Entdecker des Penicillins, vor einer zu breiten Anwendung. 2016 wurden in den USA 80 Prozent der Antibiotika in der Tiermast eingesetzt. Da kann es nicht verwundern, wenn immer mehr antibiotikaresistente Keime gefunden werden. Bei Antibiotika wissen wir, was wir tun und welche Auswirkungen das haben kann. Im Bereich der KI sind die Folgen noch nicht klar zu beschreiben.

Eine Grenze der Anwendungen hat sich bei einem Versuch gezeigt. Eine Forschungsgruppe hat zwei sogenannte Chatbots – das sind textbasierte Dialogsysteme – miteinander verhandeln lassen. Während dieses Austausches rückten die Computer von der Benutzung der englischen Sprache ab. Ohne Zutun der Forscher entwickelten sie ihre eigene Sprache. Die Beobachter konnten diese Kommunikationsform nicht mehr nachvollziehen. Für die Computer war sie verständlich. Denn die daraus entwickelten „Handlungen“ ergaben innerhalb des Systems einen Sinn. Der Fehler für diese Sprachentwicklung lag bei den Programmierern. Sie hatten den Computern nicht vorgegeben, die englische Sprache zu benutzen. Die Entwicklung selbststeuernder, also autonom fahrender, Autos wirft interessante Fragen auf.

Computer sind demnach in der Lage, eine eigene Sprache zu entwickeln und in dieser auch mit anderen Computern zu kommunizieren.
Sie können also selbstständig lernen und sich weiterentwickeln. Was in diesem Beispiel vielleicht noch etwas banal klingt, kann im größeren Zusammenhang schwerwiegende Auswirkungen haben. Ein Blick in die Automobilbranche zeigt das.

Kleine Programmierfehler, schwerwiegende Folgen

Nehmen wir als Beispiel Autos von Tesla. Diese Autos sammeln auf jeder gefahrenen Strecke Informationen. Sie speichern diese ab und teilen sie mit allen anderen Tesla-Autos. Stellt man den „Autopilot“ ein, verfügt ein Tesla bereits über Informationen zu einer Strecke, wenn nur ein anderer Wagen dort bereits entlanggefahren ist. Spannend ist die Frage, wie diese Technik in kritischen Situationen reagiert. Was passiert, wenn diese Autos komplett autonom fahren?

Ein klassisches Beispiel: Soll ein Fußgänger oder der Fahrer eines Fahrzeugs in einer Konfliktsituation Schaden nehmen? Was geschieht, wenn Programmierer keine eindeutigen Befehle erteilt haben, wie oben beim Beispiel mit der Sprachverwirrung? Wie soll der Computer mit Blick auf Konfliktsituationen programmiert werden? Nicht, dass Programmierern kein ethisches Grundverständnis unterstellt werden soll. Aber da werden weitreichende Entscheidung von Einzelpersonen oder kleinen Teams getroffen. Entscheidungen von solcher Tragweite unterliegen sonst gesamtgesellschaftlichen Debatten, beziehungsweise der ethischen Abwägung der handelnden Person. Kann man Verantwortung einfach so delegieren? Und wer ist dann wofür verantwortlich?

Elon Musk rechnet mit Kriegen um technologische Vorreiterrolle

Damit kein Missverständnis entsteht: Es geht nicht darum, eine technologische Entwicklung schlecht zu reden! Vielmehr müssen wir uns – vielleicht sogar als Weltgemeinschaft – mit dieser Entwicklung auseinandersetzen. Denn diese Problematik betrifft uns alle. Im gesamtgesellschaftlichen Diskussionsprozess, in dem auch die Kirche ein Ideengeber sein könnte, kommt dieses Thema leider noch immer viel zu kurz. Nicht nur bezogen auf die Auswirkungen, die diese technologische Revolution haben wird.

Eine skeptische Stimme zum Thema KI ist Elon Musk. Der Gründer von SpaceX und Miteigentümer von Tesla Cars sowie SolarCity (2016 von Tesla übernommen) warnt vor den jetzt stattfindenden Entwicklungen in diesem Bereich. Auch er fordert eine breite Diskussion. Musk gilt als Vordenker. Als unternehmerischer Visionär hat er einen wesentlichen Beitrag zum technologischen Fortschritt geleistet. Als Kenner der Entwicklung von KI hat sein Wort Gewicht. Musk treibt die Frage nach der weltweiten Vorherrschaft um. Er ist überzeugt: Wem der endgültige Durchbruch bei der Entwicklung der KI gelingt, der wird einen uneinholbaren informationstechnologischen Vorsprung haben. Ganz gleich, ob das ein Unternehmen oder ein Staat ist. Musk geht noch weiter. Er hält Kriege um die technologische Vorreiterrolle für wahrscheinlich.

Stephen Hawking: Rechner werden intelligenter sein als Menschen

Mit seiner KI-Skepsis steht Elon Musk keineswegs allein. Kritische Äußerungen kommen auch von anderen renommierten Fachleuten. Etwa vom Physiker Stephen Hawking oder von Microsoft-Gründer Bill Gates. Der 2018 verstorbene Physiker Stephen Hawking ging davon aus, dass Computer in 100 Jahren intelligenter als der Mensch sein werden. Gates hat in einem offenen Brief seine Sorgen über Entwicklungen im KI-Bereich zum Ausdruck gebracht.

Ein KI-Vordenker wie Raymond „Ray“ Kurzweil (Google) rechnet damit, dass wir um das Jahr 2029 das Gehirn scannen und auf einer externen Festplatte duplizieren können. Die Frage, die sich daran anschließt: Was machen wir mit dieser externen Datenplatte? Setzen wir sie einem Roboter ein, der das Antlitz des Datenspenders trägt? Inwieweit wird es gelingen, dass dieses Wesen ein Bewusstsein entwickelt? Und welche Rechte werden ihm zugesprochen?

Ein Supercomputer, der Gedanken lesen kann

Auch eine andere futuristische Entwicklung lässt sich technologisch weiterdenken: So wie wir heute bereits kundenspezifische Informationen auf unseren Smartphones erhalten, könnten wir noch weitergehend gesteuert werden. Die Integration des Smartphones in eine Brille oder auch ein Implantat im Kopf wird nicht mehr ausgeschlossen. Wenn es die Rechnerleistung zulässt, könnte am Ende ein Supercomputer stehen, der unsere Gedanken „lesen“ kann und uns steuert. Damit gäbe es eine über uns stehende Kraft, die uns mit dem versorgt, was wir brauchen. Provokativ ließe sich fragen: Wird „Gott“ damit virtuell? Spätestens an dieser Frage spürt man, wie herausfordernd und spannend diese Entwicklungen werden.

Es ist höchste Zeit, sich damit intensiv auseinanderzusetzen. Hier könnte sich für gesellschaftliche Gruppen, auch für die Kirche, eine Möglichkeit bieten, einen Diskussionsprozess in Gang zu bringen. Damit stünde sie nicht als ein technologischer Verweigerer dar, der den Fortschritt bekämpft, sondern als die Institution, die auch künftig ein gutes Zusammenleben aller Menschen will. Ein Global Player, der über eine 2000-jährige Erfahrung verfügt, wie Menschen aus verschiedenen Kulturen und Denkschulen sich vereinigen können, besitzt einen nicht zu überbietenden Schatz. Hier liegt für die Verantwortlichen in der Kirche noch großes Potenzial. Das sollte man heben. Einen solchen Think Tank zu gründen und auszustatten wäre für die Kirche in Deutschland kein Problem. Doch es scheint, als spiele dieses Thema keine Rolle. Bischöfe sind auch keine Alleskönner. Sie sind dafür da, eine Diözese zu führen und den Glauben zu verkünden. Von daher soll hier kein falscher Eindruck entstehen. Das Thema könnte aber gerade für die jungen Christen, deren Zukunft es betrifft, ein spannendes Denk- und Arbeitsfeld sein.

Pater Justinus Pech OCist (*1973) ist ein Ordengeistlicher,
katholischer Theologe und Wirtschaftswissenschaftler.

Seit zehn Jahren ist er Zisterzienser und zur Zeit als Ökonom im Kloster Stiepel (Bochum) tätig und leitet dort das Institut für Führungsethik. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich Coaching von Führungskräften und der Konzeption und Leitung von Seminaren zu Führungsfragen.