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Lesedauer: ca. 4 Min.

Autor: Markus Reder | Illustration: Arno Dietsche

Halt!

Das „Hamsterrad“ des Alltags dreht sich immer schneller. Die Beschleunigung hat all unsere Lebensbereiche erfasst. Familie, Beruf, Freunde, Beziehungspflege: Irgendwas und irgendwer bleibt immer auf Strecke. Gibt es da einen Ausweg? Lässt sich das Höllentempo drosseln? Eine kleine Anregung zum An- und Innehalten.

Zeit für die wirklich wichtigen Dinge zu haben, gilt vielen als größtes Geschenk überhaupt. Dumm nur, dass genau diese Zeit meist fehlt. Das wirft Fragen auf. Zumindest zwei: Wo ist die Zeit hingekommen, die heute überall fehlt? Irgendwo muss sie ja sein. Und zweitens: Was sind die wirklich wichtigen Dinge, die man tun würde, wenn die Zeit da wäre, die ja leider weg ist? Im Ernst: Das ständige Fehlen der Zeit ist ein massives Problem. Wir hetzen durch unser Leben. Die Wissenschaft spricht vom Phänomen der Beschleunigung. Für den Soziologen Helmut Rosa ist Beschleunigung das Kernelement jeder Modernisierung. Durch das Mehr an Möglichkeiten erhöhe sich auch der Druck, möglichst viel zu machen. Na toll! Heutzutage ist extrem viel möglich, weshalb der Druck entsprechend groß ist. Wobei man darüber streiten kann, ob Druck oder Stress tatsächlich treffende Beschreibungen sind für das Gefühl, wie in einem Hamsterrad durch den Alltag zu rasen, ohne jemals wirklich anzukommen.

Der Paartherapeut Oskar Holzberg nennt es „eine Mischung aus dem ,Zuviel‘-Gefühl unseres überquellenden Lebens, gepaart mit dem ,Zu-wenig-Zeit-haben‘-Gefühl, unter dem mittlerweile fast alle leiden: Arbeit, die wir niemals ganz schaffen. Freunde, die wir niemals alle treffen können. Serien, die wir niemals alle sehen werden. Trends, denen wir niemals allen folgen können, Angebote, die wir nicht annehmen können. Und Millionen Missstände in der Welt, gegen die wir uns eigentlich wehren müssten.“ Mit einem Wort: Holzberg meint das ,Ich-muss-noch-so-viel-machen-und-ich-weiß-jetzt-schon-dass-ich-es-nicht-schaffen-werde‘-Gefühl. Das beschreibt ganz gut, was viele heute belastet. Und dabei handelt es sich keineswegs um psychische Phantomschmerzen.

Wie eine Fahrt im Hochgeschwindigkeitszug: Draußen zieht das Leben vorbei, drinnen wird gearbeitet

Termindruck, Prüfungsstress, berufliche Anforderungen, unerfüllbare Erwartungshaltungen, Familie und Beruf, die Kinder, Schule, Ausbildung, Partnerschaft: all das unter einen Hut zu bringen, ist nicht nur ein organisatorischer Kraftakt, sondern auch ein seelischer. Oft ist das alles kaum zu schaffen. Familien mit Kindern kennen die Erfahrung: Irgendwer oder irgendetwas bleibt meist auf der Strecke. Zumindest fühlt es sich so an. Und dieses Gefühl kommt nicht von ungefähr.

Das Leben gleicht einer Fahrt im Hochgeschwindigkeitszug. Draußen rauschen Bahnhöfe und Landschaften vorbei. Innen schaut man aus dem Fenster und ahnt, was alles sein könnte und wie schön es sein würde, wenn es nur anders wäre. Aber man selbst sitzt mit all den anderen im engen Großraumwagen, den Laptop vor sich, beantwortet überfällige Mails, studiert Akten, werkelt an Seminararbeiten oder schreibt Artikel, die längst abgegeben sein müssten. Mit hängender Zunge durch die Woche, um fix und fertig die rettende Insel Wochenende zu erreichen, wo dann alles erledigt werden muss, was während der Woche nicht geschafft wurde. Spätestens Sonntagabend meldet sich der Montagsblues, weil man weiß: morgen früh beginnt das gleiche Spiel von vorne.

Gibt es eine Exit-Strategie oder heilt erst das Sterbebett?

Das „Hamsterrad“ des Alltags dreht sich mit brutaler Geschwindigkeit und alle hecheln mit. Beschleunigung ist das Phänomen unserer Zeit. Und die digitalen Medien drücken weiter aufs Tempo. Ein Heer von Soziologen, Psychologen, Zeitmanagement-Beratern und Experten der Entspannungsindustrie bieten Erklärung und Hilfe an. Der Erfolg diesbezüglicher Ratgeber-Literatur zeigt zumindest dies: Die Hoffnung, dass es eine Exit-Strategie aus dem Beschleunigungsfuror gibt, lebt. Und so lange noch ein Funke Hoffnung da ist, hat man immerhin noch nicht aufgegeben. Nicht aufgeben: das ist die Voraussetzung für alles.

Wie aber kommt man da raus? Lässt sich das rasende Rad wirklich anhalten? Wer kann da Auskunft geben? Die Australierin Bronnie Ware hat mit ihrem Buch „5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen“ einen Bestseller geschrieben. Was zählt wirklich, wenn das Leben zu Ende geht? Ware wollte das herausfinden. Dazu hat sie Sterbende begleitet. Ihr Buch erzählt von ihren Begegnungen und Gesprächen. Die Antworten sind überraschenderweise wenig überraschend. Aber sie rufen schlagartig in Erinnerung, worauf es tatsächlich ankommt: weniger arbeiten, seine Gefühle besser ausdrücken, mehr Zeit für Familie und Freunde haben, das Leben mehr genießen und den Mut haben, sein eigenes Leben zu leben.

„Ist das mein Leben – oder kann das weg?“

Wahrscheinlich gibt es kaum jemanden, der dem nicht zustimmen würde. Warum also bis zum Sterbebett warten, um sich Gedanken darüber zu machen, was man hätte ändern wollen, wenn noch Zeit gewesen wäre? Veränderung ist möglich. Und zwar jetzt und nicht irgendwann. Dem Rad der Beschleunigung in die Speichen zu greifen, erfordert keinen einmaligen monströsen Kraftakt, sondern Beharrlichkeit und Ausdauer. Veränderung braucht viele kleine Schritte und die Bereitschaft nach innen zu hören.

„Wir werden zu den für uns wichtigen Dingen nur gelangen, wenn wir keine Zeit mehr mit den unwichtigen Dingen verbringen“, meint Paartherapaut Oskar Holzberg. Womit wir gewissermaßen bei der Schlüsselfrage sind: „Ist das mein Leben – oder kann das weg?“ (Holzberg) Das kann jeder nur für sich selbst beantworten. Dafür muss man sich ehrlich Rechenschaft geben: Womit verbringe ich meine Zeit? Was raubt mir Kraft? Was lässt mich aufleben? Was will ich wirklich?

Veränderung beginnt von innen

Das Leben von Unnützem zu entrümpeln und Zeitdieben das Handwerk zu legen, erfordert Aufmerksamkeit sich selbst gegenüber und Konzentration. Eben nicht rennen, weil alle rennen, sondern anhalten, um innezuhalten. Was ist notwenig? Was ist mir wirklich wichtig? Lebe ich oder werde ich gelebt? Wo schütten wir mit Betriebsamkeit und Aktivitäten nur unsere innere Leere zu? Lassen wir solche Fragen überhaupt an uns heran? Antworten können schmerzhaft sein. Das Leben entschleunigen heißt auch: Grenzen setzen und „Halt!“ sagen, wo einen unerfüllbare Erwartungen zu überrollen drohen. Sich der eigenen Begrenztheit stellen – auch das gelingt nur, wenn man nach innen hört. Sich jeden Tag wenigstens fünf Minuten Zeit zu nehmen, um auf die Stimme des eigenen Herzens zu hören, kann mehr verändern als man ahnt.

Je mehr wir hetzen statt zu leben, desto wichtiger ist es, „Halt!“ zu sagen. Desto mehr sind wir auf Menschen angewiesen, die Halt geben: Familie, Freunde, Menschen, die es gut mit einem meinen, bei denen man sich anhalten kann. Halt gibt auch der Glaube. Sich von Gott geliebt zu wissen, befreit vom Druck, immer neue Höchstleistungen liefern zu müssen, um sich wertvoll zu fühlen. Immer besser, immer mehr, immer schneller. Geschenkt! Darauf kommt es nicht an. Der Glaube gibt Gelassenheit. Er befreit von Leistungs- und Diesseitsdruck und öffnet Perspektiven und Horizonte. So reißt der Himmel auf – selbst an stressschwarzen Tagen, an denen das Hamsterrad der Verpflichtungen wie wild surrt. Anhalten, wenigstens einen Moment innehalten und nach den wahren Schätzen des Lebens fragen. „Denn wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz.“ (LK 12, 34). Die wahren Schätze sind allesamt Geschenke – wie das Leben selbst und die Liebe.