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Ausgabe 06 Freundschaft

„Alleine, jeder für sich, hätte das nie geschafft.“

Lesedauer: ca. 10 Min.

Autor: Tobias Liminski | Illustration: Arno Dietsche

„Alleine, jeder für sich, hätte das nie geschafft.“

Wer „Weiße Rose“ hört, denkt zwangsläufig an die Geschwister Scholl. Das liegt auch an der erfolgreichen Verfilmung „Sophie Scholl – Die letzten Tage“ von Regisseur Marc Rothemund. Die weiteren vier Mitglieder des „inneren Kreises“ der Weißen Rose bleiben dadurch nicht selten im Hintergrund. Zu Unrecht, wie Thomas Mertz und Annette Schoeningh in ihren Arbeiten festgehalten haben. Denn die „Weiße Rose“ ist mehr als eine Widerstandsgruppe. Für die beiden Kenner dieses Widerstands in der NS-Diktatur sind die Sechs in erster Linie Freunde.

Annette Schoeningh findet ihren Zugang zur „Weißen Rose“ wie viele andere auch über die Geschwister Scholl. Freunde drücken ihr das Buch „Briefe und Aufzeichnungen der Geschwister Scholl“ in die Hand. „Das Buch hat mir eine Tiefe eröffnet, die ich so nie in dieser Geschichte erwartet hätte. Das ist wirklich eine Tiefe, aus der man leben kann. Meine Freunde und ich sind damals auf sechs Personen gestoßen, die eine so unglaubliche Lebensfreude hatten. Die ihren Sinn im Leben gefunden hatten, die eine tiefere Religiosität leben konnten, ohne dass sie dabei langweilig oder verstaubt wirkten. Das war einfach total faszinierend für uns.“

„Womit beschäftigen sich die meisten Menschen heute? Alles erscheint ihnen wichtig, nur die wichtigste Frage, nämlich die nach dem ‚Sinn des Lebens‘, nicht! Traurige Ironie.“

Annette Schoeningh und ihre Freunde fangen Feuer und wollen mehr aus ihrem neu gewonnenen Wissen machen. Sie planen eine Ausstellung und suchen Kontakt zu den Familienangehörigen der „Weißen Rose“. „Wir waren 15 junge Leute, damals Studenten und junge Berufstätige. Nach der Lektüre des Buches haben einige Freunde von mir am 60. Jahrestag der Hinrichtung von Franz und Sophie Scholl und Christoph Probst in Freiburg eine öffentliche Lesung veranstaltet. Eine zweite Lesung folgte und wen treffen wir? Eine gereifte, wache Dame von 83 Jahren, Anneliese Knoop-Graf, die Schwester von Willi Graf. Damit waren wir natürlich an einer Quelle.“ Anneliese Knoop-Graf wird zur treuen Begleiterin des Freundeskreises. „Machen Sie doch was aus Ihrem Interesse“, spornt sie Annette Schoeningh und die anderen an. Nach und nach werden weitere Zeitzeugen und Verwandte besucht. Die geplante Ausstellung wächst. Viele noch unveröffentlichte und persönliche Fotos und Briefe werden zusammengetragen. „Das ist einfach ein Geschenk, was wir da bekommen haben, vielleicht auch, weil wir von keiner Organisation kamen und eben sehr unbedarft an die Sache rangegangen sind. Für uns alle war das eine ganz besondere, ich möchte fast sagen, leidenschaftliche Zeit“, erinnert sich Annette Schoeningh.

Die weiße Rose

Zwischen 1942 und 1943 verbreitet die Gruppe sechs Flugblätter, in denen sie zum Widerstand gegen das NS-Regime aufruft. Grundlage ihrer Aktionen sind christliche und humanistische Wertvorstellungen. Hans Scholl geht es darum, ein „sichtbares Zeichen des Widerstandes von Christen zu setzen“. Er will am Ende des Krieges nicht „mit leeren Händen vor der Frage stehen: Was habt ihr getan?“. Im Juni 1942 schreiben und verteilen Hans Scholl und Alexander Schmorell die ersten Flugblätter. Die Mitglieder der „Weißen Rose“ wollen über den wahren Charakter des Regimes aufklären und prangern u.a. die Ermordung von 300.000 polnischen Juden an. Das sechste Flugblatt wird der Gruppe zum Verhängnis. Ein Hausmeister erwischt die Geschwister Scholl, während sie die Flugblätter im Lichthof der Universität verteilen.

Vier Tage später, am 22. Februar 1943, werden sie vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und noch am selben Tag mit dem Fallbeil hingerichtet. Mit ihnen stirbt Christoph Probst. Im April 1943 wird 14 weiteren Mitgliedern der „Weißen Rose“ der Prozess gemacht. Alexander Schmorell, Professor Kurt Huber und Willi Graf werden ebenfalls zum Tode verurteilt, die anderen zu Haftstrafen. Auch nach der Ermordung des inneren Kreises wird die Arbeit der „Weißen Rose“ fortgeführt. Das letzte Flugblatt gelangt über Hamburg ins Ausland und wird im Dezember 1943 von britischen Bombern über Deutschland abgeworfen. Thomas Mann spricht in einer nach Deutschland ausgestrahlten Rede in der BBC über die Mitglieder der „Weißen Rose“ als Vertreter eines besseren, anderen Deutschlands, so klein ihre Zahl auch gewesen sei, und versichert: „Ihr sollt nicht umsonst gestorben sein, sollt nicht vergessen sein.“

Weitere Informationen zur „Weißen Rose“ finden Sie auf der Webseite des Weiße Rose Instituts e.V.

Eine Ausstellung für die Freundschaft

Es entstehen zwei Versionen einer außergewöhnlichen Ausstellung. „Die Weiße Rose – Gesichter einer Freundschaft“. Die kleinere Schulversion gibt es in praktischen 27 Roll-Ups. Die Große, die „Freiburger Version“, besteht aus 52 Tafeln. Warum setzen die sechs Freunde ihr Leben im Zeichen der Weißen Rose aufs Spiel? Mit dieser Frage beginnt die Ausstellung. Wer sind die sechs jungen Menschen? Was gibt ihnen die Freiheit, so zu handeln? Welchen Weg legen sie zurück? Wer die Antworten und einen persönlichen Zugang zur Gruppe sucht, ist hier genau richtig. „Die Ausstellung ist sehr sorgfältig recherchiert“, analysiert der gleichnamige Enkel das Werk über seinen Großvater Christoph Probst.

„Hier werden keine fantastischen Sagen erzählt. Es finden sich auch keine Fehler oder Verwechslungen, wie in anderen Ausstellungen. Jeder Einzelne der Gruppe wird gleichgewichtet portraitiert. Und so muss sie auch verstanden werden. Wer sich in die Ausstellung begibt, bekommt eine nahe Verbindung zu den Persönlichkeiten der Freunde. Ihre Leidenschaft für das Leben und die Freundschaft wird beim Betrachten der Tafeln bewusst. Diese gelungene Ausstellung berücksichtigt alle wesentlichen Aspekte.“ Auch Alexa Busch, Enkelin von „Schurik“, wie Alexander Schmorell unter Freunden genannt wird, ist fasziniert: „Ich freue mich sehr, dass die Ausstellung zur Verfügung steht. Zusammen mit dem dazugehörigen Katalog bildet sie eine perfekte Einführung für Schüler und Jugendliche. Selten veröffentlichte Fotos oder die sehr persönlichen Dokumente der Protagonisten, die Briefe und vielen kleinen Notizen schaffen einen sehr direkten Zugang und persönlichen Bezug zu den Protagonisten. Das bewahrt vieles für die Nachwelt, was wir in unserer Familie über unsere Verwandten wissen und weitergeben wollen. Ich bin sehr dankbar.“

„Christoph Probst – Ein Student der Weißen Rose“

Der Journalist und studierte Historiker Thomas Mertz entwickelt ebenfalls schon früh ein Interesse für die freundschaftlich verbundene Gruppe der „Weißen Rose“. Damals ist Mertz Student und mit seinen 23 Jahre genauso alt wie Christoph Probst, als dieser hingerichtet wurde. Ihn fasziniert, wie man mit Anfang zwanzig, verheiratet und drei Kindern, schon so verantwortungsbewusst sein kann. Sich so für das Gemeinwesen einsetzen will, koste es eben auch das Leben. „Über diesen außergewöhnlich charmanten, reifen, sympathischen Menschen wollte ich schreiben. Ich wollte, dass sein Leben, sein Wirken zusammengefasst für jedermann präsentiert wird. Nicht auf 900 Seiten, das liest ja keiner.“ Thomas Mertz lacht, am Ende werden es 196 Seiten. Die braucht es aber auch, um das Leben dieses mutigen jungen Mannes zu beschreiben. Christoph Probst ist ein Freund, wie man ihn sich wünscht. „Was er sagte oder tat, war immer darauf abgestimmt, anderen eine Freude zu machen, ihnen zu helfen“, beschreibt der Enkel seinen Großvater. „Und er konnte sich in fremde Nöte einfühlen wie kein zweiter. Aus dem Bedürfnis heraus zu helfen und zu heilen, entschied er sich, Arzt zu werden. Aus dem Familienleben schöpfte er Freude und Hoffnung“, schildert der Enkel weiter.

Die Keimzelle der „Weißen Rose“

Christoph Probst und Alexander Schmorell sind gewissermaßen die „Keimzelle“ der „Weißen Rose“. Die beiden jungen Männer lernen sich 1935 im Neuen Realgymnasium in München kennen. Es entwickelt sich eine tiefe Freundschaft. Hans Scholl lernen sie in der Studentenkompanie im Sommer 1941 kennen. Seine Schwester Sophie wenige Monate später. Im Frühjahr 1942 werden Hans Scholl und Alexander Schmorell nach Russland abkommandiert und treffen auf Willi Graf. Professor Kurt Huber stößt im Sommer 1942 auf die Gruppe.

Heute sprechen Historiker gerne von einer Widerstandsgruppe. „Das sei ganz natürlich, da man die sechs Freunde irgendwie historisch klassifizieren möchte“, meint Thomas Mertz. „Aber zunächst einmal waren die Sechs ganz eigenständige Persönlichkeiten, die ihren eigenen Lebensweg gegangen sind“, so Mertz weiter. „Die aufwachsen, sich bilden und ein kritisches Bewusstsein entwickeln.“ Und die sich für die schönen Künste interessieren. Alle sind regelmäßige Opern- und Konzertbesucher. Man geht zusammen in Ausstellungen. Alexander Schmorell, Christoph Probst und Sophie Scholl malen. Man trifft sich im Englischen Garten, liest viel. Die Klassiker, aber auch das, was in ihrer Zeit gerade aktuell ist. Bedeutsame Schriftsteller, große Denker, geistige Mentoren. Viele Gedanken von Carl Muth, Theodor Haecker, John Henry Newman fließen in die Gespräche der Gruppe ein.

Was die Freunde bewegt, ist das Geschehen in ihrer Zeit. Sie beschäftigen sich mit ihm und möchten eine Spur hinterlassen, sie wollen nicht einfach im Strom der Geschichte mittreiben. „Man kann die Zeit von damals nicht mit unserer Zeit vergleichen. Damals lebte das Land in einer Diktatur voll Willkür. Wir leben heute in einer freiheitlichen Demokratie. Im Grundgesetz steht genau das, was die Gruppe in ihren späteren Flugblättern angemahnt und gefordert hat. Im Umgang miteinander lebten die sechs Freunde Toleranz, Hilfsbereitschaft und Respekt vor. Das ist wohl auch eine Botschaft an die junge Generation von heute“, ist sich Enkel Christoph Probst sicher.

Christoph Probst (links) und Alexander Schmorell (rechts) sitzen zusammen in der Wanne.

„(...) Du würdest deine Freude an diesen Gesichtern haben, wenn du sie sehen könntest. Alle Kraft, die man dort verschwendet, fließt ungemindert zurück ins eigene Herz.“

- Hans Scholl

Das und mehr geht auch aus den Briefen, die in der Ausstellung zu finden sind, hervor. Thomas Mertz ist sich sicher: „Wir können von den sechs Freunden lernen, echte Freunde zu sein. Die Briefe und Notizen, das was die Verwandten erzählen, zeigen: die Sechs haben sich wirklich umeinander gekümmert. Wir haben ja das Glück, dass sie noch lange Briefe schreiben konnten. Dadurch reflektiert sich ihr Denken, ihr Austausch miteinander. Das ist in unserer Zeit, durch die modernen Medien etwas verloren gegangen. Keiner wird unsere WhatsApp irgendwann einmal auswerten. Aber bei ihnen hat man die Möglichkeit, einiges zu lernen.“ Ähnlich formuliert es auch Annette Schoeningh: „Die Briefe sind unglaublich toll formuliert. In einer Sprache, die wir heute so gar nicht mehr kennen. Eine Sprache, die so intensiv ist, so aussagekräftig, dass sich beim Leser ein unglaubliches Kopfkino abspielt. Man wünscht sich: so eine Freundschaft möchte ich auch leben.“

„Ich glaube, dass das Leben nicht aus reinen Zufällen besteht“, sagt Annette Schoeningh weiter, „wann und wie man sich kennenlernt, das ist kein Zufall. Freundschaft ist ein Geschenk. Die Sechs waren Freunde, ein Freundeskreis. Nicht um irgendwann eine Widerstandsgruppe zu bilden. Aber ihre Freundschaft gab ihnen schließlich auch die Kraft, die berühmten Flugblätter zu formulieren. Sie zu verteilen und damit ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Alleine, jeder für sich, hätte das nie geschafft.“

„Bin ich ein Zufallsprodukt der Evolution oder bin ich doch ein liebender Gedanke Gottes?“

Was den inneren Kreis der „Weißen Rose“ verbindet, ist die Suche nach dem Guten, dem Wahren, dem Schönen. Es ist die Suche nach Gott. „Man kann sagen, das war eine zutiefst ökumenische Gruppe“, erinnert sich Alexa Busch. Die Geschwister Scholl sind Protestanten. Willi Graf ist tief gläubiger Katholik. Christoph Probst ein Freidenker, freireligiös erzogen, der die Natur und die Menschen liebt. Professor Huber ist katholisch. Alexander Schmorell ist russisch-orthodox. Die gemeinsame Suche nach Gott, das gemeinsame Ringen um die Wahrheit, die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur, all diese Themen schaffen ein unzerreißbares Band und verbinden die jungen Menschen über ihren Tod hinaus.

„Wieso bin ich hier auf Erden, was soll das Ganze? Bin ich ein Zufallsprodukt der Evolution oder bin ich doch ein liebender Gedanke Gottes? Wenn ja, was hat das für Konsequenzen? Gibt es ein ewiges Leben, was passiert nach dem Tod? Das alles sind Fragen, die sich diese jungen Leute gestellt haben.“

Thomas Mertz ist sichtlich fasziniert von der Tiefe der Themen, mit denen sich die sechs Freunde befasst haben. Mit seinem Buch „Christoph Probst – Ein Student der Weißen Rose“ will er jungen Menschen heute Mut machen. „Ich kann mir vorstellen, dass gerade so ein junger Mann wie Christoph Probst eine sehr gute Identifikationsmöglichkeit schafft. Er war ein junger Mann, mit ganz normalen Neigungen, Hoffnungen, Wünschen und Träumen, der den Glauben gelebt hat. Er war einfach für die anderen da. Er wusste,
wo er fehlte, wo er gebraucht wurde.“

„Ich kann nur jedem von euch wünschen, dass ihr das Gefühl habt, ihr hättet – wenn ihr am Abend an den Tag denkt – das getan, wozu ihr berufen wart.“

- Joseph Rovan, jüdischer Historiker und Journalist

„Leider ist heute oft zu beobachten, wie jeder „sein Ding durchzieht“, stellt Christoph Probst, der Enkel, fest, „Egoismus, Nationalismus und Intoleranz sind leider weit verbreitet in unseren Tagen. Ebenso auch Rassismus und Antisemitismus. Streng genommen kann man heute selbst Euthanasie und Selektion sehen. Oft kann ich beobachten, wie Jugendliche und junge Erwachsene davon sprechen, sich mit ,Kumpels‘ oder ,Kollegen‘ zum ‚Feiern‘ oder ,Chillen‘ zu verabreden. Der Begriff ,Freund‘ wird vermieden, Möglicherweise aus Angst, Verpflichtungen einzugehen, oder Verantwortung übernehmen zu müssen. Von Herzen kommende Freundschaften mit gemeinsam gelebten Interessen sind leider eher selten geworden.“

Das Leben, die Geschichte, lässt sich nur vorwärts gestalten, verstehen aber ausschließlich rückwärts. Zukunft braucht Erinnerung. Erinnerung braucht Orte und Personen, die uns helfen, die Erinnerung wach zu halten und die Dinge einzuordnen. Damit unsere Geschichte lebendig bleibt und wir die Zukunft gestalten können. Die Ausstellung „Die Weiße Rose – Gesichter einer Freundschaft“ von Annette Schoeningh und die „Christoph Probst-Biographie“ von Thomas Mertz haben ein Stück dazu beigetragen, dass die Freundschaft der Weißen Rose darüber hinaus in die Gegenwart strahlt. „Die Individualität dominiert, es zählen die individuellen Wünsche jedes einzelnen. Ich glaube, dass der Mensch immer wieder Erinnerungen braucht und dass diese sechs Freunde der Weißen Rose genau diese Erinnerungskraft widerspiegeln. Deswegen ist das ein ganz großes Thema für mich“, resümiert die Kunsthistorikerin Schoeningh. „Aber ich glaube auch, für die Welt von heute, für jeden von uns.“