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Ausgabe 06 Freundschaft

Berthold, die Politik und ich.

geschätzte Lesedauer: 13 Minuten

Autor: Tobias Liminski | Fotos: Bernhard Spoettel

BERTHOLD,
DIE POLITIK
UND ICH.

Noch immer zählt der frühere SPD-Chef Franz Müntefering zu den bekanntesten Sozialdemokraten. Kurze Sätze, langer Atem: Nicht nur durch seine markanten Formulierungen ist der frühere Bundesminister und Vizekanzler vielen in bester Erinnerung. Über Jahrzehnte prägte er die Geschicke seiner Partei und des Landes mit. Gibt es die Freundschaft in der Politik? Darüber und über die Freundschaften seines Lebens hat GRANDIOS mit Franz Müntefering gesprochen. Seine Antworten waren überraschend unpolitisch.Vielmehr sehr persönlich. 

- GRANDIOS

Sie sagen von sich selbst, Sie seien ein „Alleiner“. Was versteht ein „Alleiner“ unter Freundschaft?

- FRANZ MÜNTEFERING

Also, das mit dem „Alleiner“ wird oft als „Einsamer“ missverstanden. Das bin ich nicht. Ich war nicht einsam in meinem Leben. „Alleiner“ meint eine gewisse Ich-Bezogenheit im guten Sinne. Das hat bei mir damit zu tun, dass ich Einzelkind bin. Ich bin 1940 im Krieg geboren.1946 habe ich meinen Vater kennengelernt. Da war ich 6 ½ Jahre alt. Er war im Krieg, dann in Gefangenschaft, und ich hatte gelernt, alleine zu sein und damit gut zu leben. Es ist eine wichtige menschliche Fähigkeit, allein sein zu können, über sich nachzudenken, sich seiner selbst bewusst zu sein. Ich glaube, viele Menschen sind „Alleiner“, aber sie wissen, wie sich Freundschaft entwickeln kann. Zur Freundschaft gehört ein besonderes Vertrauensverhältnis. Das baut sich nicht so schnell auf. Ein Freund ist mehr als ein netter Kerl, der dir auf die Schulter klopft. Freundschaft muss wachsen. Freundschaft bedeutet eine gewisse Auszeichnung.

Ihren besten Freund haben Sie mit 32 Jahren tragisch verloren. Was hat diese Freundschaft ausgezeichnet?

Ich war wie gesagt Einzelkind. Er war mein Freund. Wir waren zusammen im Kindergarten, in der Schule, wir waren zusammen in einer Partei, wir waren fast Nachbarskinder. Er war bei uns, ich war bei ihm, er hatte zwei Brüder und ich habe mich viele Stunden bei denen rumgeschlagen, wie man so sagt. Meine Mutter war eine kluge Frau und wusste, Kinder brauchen andere Kinder. Sie hat mir eine lange Leine gelassen. Das hat geholfen. 27 Jahre lang haben wir uns bewusst als Freunde verstanden. Das wichtigste Erkennungszeichen von Freunden ist für mich: Du musst nicht irgendwelche Förmlichkeit beachten. Du kannst losreden, wenn man sich trifft. Du weißt, das kannst du dem sagen, der geht da ordentlich mit um. Wir haben uns gut ergänzt, wir hatten unterschiedliche Fähigkeiten. Er konnte nicht gut Fußball spielen, ich konnte nicht so gut mit der Flitsche schießen wie er. Ich konnte auch nicht so schön Scheiben kaputtschmeißen. Das konnte er alles viel besser. Auch in der Schule haben wir uns gut ergänzt. Einer konnte dem anderen bei den Schularbeiten helfen. Die musste immer nur einer machen, der andere schrieb ab. Als er verunglückte, war das für mich ganz schwierig.

„Erst als der Freund weg war, ist mir klar geworden, das ist ein Stück von meinem Leben.“

Wie haben Sie den Verlust verkraftet?

Naja so lange er lebte, war er eine feste Größe in meinem Leben. Er wurde Polizist, ich Industriekaufmann und dann gingen wir zusammen in die Politik. Erst als er weg war, wurde mir klar, das ist ein Stück von meinem Leben. Wenn du mit 32 plötzlich ein Stück des Lebens verlierst, das bisher selbstverständlich war, ist das nicht leicht zu verkraften. Es war mittags, als ich es erfuhr. Ich weiß es noch wie heute. Es hat mich umgehauen, im wahrsten Sinne des Wortes. Immer wieder kam der Gedanke: Jetzt kannst du mit dem nicht mehr sprechen. Mit wem kann ich denn reden? Aber es gibt keinen, der weiß, wie das vor 20 Jahren war oder vor 10 Jahren. Dann wird man vorsichtig. Sicher, es ergaben sich wieder freundschaftliche Beziehungen. Aber es war keiner dabei aus der Zeit, als wir 12 oder 14 waren. Keiner, der so nah gewesen wäre und eben alles wusste. Das prägt einen als Kind. Das kann man nicht nachholen. Die Freundschaft mit Berthold bestand aus gemeinsamen Leben. Sie war nicht intellektuell erzeugt, sondern natürlich gewachsen.

Sie seien nicht so der Kumpeltyp, haben Sie mal gesagt. Was ist der Unterschied zwischen einem Kumpel, einem echten Freund oder einem Kollegen?

Kollege ist das, was ich in der Firma, in der Partei oder im zivilgesellschaftlichen Bereich erlebe. Man arbeitet miteinander. Die gemeinsame Aufgabe schaffte Zusammenhalt. Unter Kollegen findet man auch Freunde, aber das ist nicht dasselbe. Kollegen mag man, man versteht sich, aber es ist doch eher ein zweckorientiertes Zusammenarbeiten. Kumpel sind eigentlich Bergleute, die unter Tage gingen. In anderen Teilen der Republik meint man mit Kumpel Leute, mit denen man einen saufen geht. Aber im Ruhrgebiet hat das Wort Kumpel besondere Bedeutung. Kumpel sind tüchtige Leute, die viel für das Land getan haben und viel ausgehalten haben. Für mich ist das ein sehr sympathischer Begriff. „Da unten kann man nicht anfangen zu diskutieren. Da herrscht ein Vertrauen, Kumpel unter Tage heißt: Füreinander einstehen. Keiner wird alleine gelassen.“

Ist der Kumpel ein Freund?

Nicht automatisch. Kumpel bilden eine Schicksalsgemeinschaft. Wenn du tief unten im Bergwerk arbeitest, bist du aufeinander angewiesen und der, der die Gruppe leitet, hat das Kommando. Da unten kann man nicht anfangen zu diskutieren. Da herrscht Vertrauen. Kumpel unter Tage heißt: Füreinander einstehen. Keiner wird alleine gelassen. Die Kumpel, die unter Tage geschuftet haben, haben nach 1945 Wohlstand ermöglicht. Das war eine Riesensache. Viele sind umgekommen dabei und an Staub-lungen gestorben. Mit dem Wort Kumpel verbindet sich eine ganz eigene Geschichte in unserem Land. Da steckt sehr viel Verdienst drin.

FREUNDSCHAFT IN DER POLITIK

Sie sind früh in die Politik gegangen: 1966 SPD-Mitglied, Bundesgeschäftsführer, Landesvorsitzender in NRW, 42 Jahre Bundestag, Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Bundesminister für Arbeit und Soziales, Vizekanzler, dazu zweimal Bundesvorsitzender der SPD, um nur mal die höchsten Ämter zu nennen. Sie müssen es wissen: Gibt es Freundschaft in der Politik?

Ja, das gibt es auch. Vielleicht nicht in der Rigorosität wie unter Tage, man sucht ja überall den Kompromiss. Der eine versteht mehr von der Wirtschaft, der andere mehr von der Sozialpolitik. Der eine ist der geborene Werbefachmann, der andere von Herzen Außenpolitiker. Daraus muss man dann was Gescheites machen. Natürlich entstehen dabei auch Freundschaften. Wenn du mit 100 oder 200 Leuten in einer Fraktion bist und die alle mal geredet haben, dann lernt man die Persönlichkeit der Kollegen kennen. Man spricht miteinander. „Lass uns mal dahin setzen. Wie hast du das gemeint? Ich erkläre dir das mal gerade.“ So entsteht – nicht zufällig, aber auch nicht zwanghaft – Kollegenschaft und manchmal auch ein bisschen Freundschaften. Manchmal auch über die Parteigrenzen hinaus.

 

Was verbindet? Gleiche Ideen, gleiche Wertvorstellungen, gleiche Handlungsweisen? Sie waren ein Mann kurzer Sätze und klarer Worte. Sie wollten immer ein klares Bekenntnis: dafür oder dagegen. Damit macht man sich nicht nur Freunde in der eigenen Partei.

Man kann sich in der Politik nicht immer so verhalten, dass man mit allen Freund ist. Es geht darum, Probleme zu lösen. Ich habe in der Bundestagsmannschaft Fußball gespielt. Da spielten querbeet Leute aus allen Parteien. Wenn man spielt, ruft man ja nicht, „Herr Dr. X, schießen Sie mal den Ball hierher“, sondern, „Ey, schieß mal den Ball her!“. So bricht sich das schnell runter auf das Persönliche. Man kann zu vielen Sachen unterschiedlicher Meinung sein. Da ist eigentlich nicht die Frage, in welcher Partei einer ist. Der Streit geht oft nur um das Wie. Dass auch noch Eitelkeit eine Rolle spielt, ist eine ganz andere Frage. Wir sind alle nur Menschen. Im Grunde ist es wichtig, dass man beim anderen erkennt: er bemüht sich, das Bestmögliche für das Land zu machen. Im Streit um den besten Weg bleiben manchmal auch Freundschaften über.

Machen es die sozialen Medien leichter, Freundschaften zu schließen?

Als jemand aus dem Sauerland kennt man den Unterschied zwischen Breitwurzlern und Tiefwurzlern. Eichen sind Tiefwurzler, Fichten Breitwurzler. Wenn der Wind bläst, kippen Fichten schnell um, während Tiefwurzler schon mal einen Schubs vertragen können. Es ist ein bisschen arrogant zu sagen, wir waren die Tiefwurzler und jetzt sind die Breitwurzler dran. Ich sage den Jungen nur, lasst euch nicht ablenken von all dem Zeug, guckt euch die Probleme an und geht in die Tiefe. Geht der Sache auf den Grund. Es war früher nicht alles gut und schön und viel an der heutigen Kommunikation ist besser, schneller, unmittelbarer. Aber die heutige Kommunikation hat auch erhebliche Konsequenzen für die Demokratie. Denn die Hierarchie der Entscheidungsprozesse, die für die Demokratie wichtig ist, die gibt es heute oft nicht mehr. Früher wurde unten in den Parteien etwas in den Entscheidungsprozess eingegeben. Das ging über Bezirk und Landesverbände an die Bundespartei und da wurden Beschlüsse gefasst. Dann hatte man einen Kompromiss und der galt. Heute sagt einer was, schickt das los und alle reden darüber. Alle haben eine Meinung zu allem. Einen Diskussionsvorgang, der sich langsam aufbaut, gibt es heute nicht mehr.

Gibt es Freundschaft im Netz?

Man kann auch im Netz Freunde und Freundinnen haben, ganz klar. Aber ich glaube, das hat eine Grenze. 1000 Freunde zum Beispiel, das ist nicht mehr Ernst. Für mich ist eine einstellige Zahl realistisch. Alles andere ist ziemlich willkürliches Zeug. 1000 Freunde: Ne, da wird das Wort inflationär und hat keinen Sinn mehr.

Braucht es so etwas wie Wertegemeinschaft, um befreundet sein zu können? Ist es das, was auch über Parteigrenzen hinweg verbindet?

Die Wertegemeinschaft, die wir in Deutschland haben, geht über die Parteigrenzen hinweg. Das ist der große Vorteil dieser Demokratie und unterscheidet sie von der Weimarer Zeit. Im Grunde vertrauen sich die Parteien, von der AfD mal abgesehen. Das ist eine große Leistung. Da spielt eine große Rede von Wehner 1960 eine Rolle, da spielt Kohl eine Rolle, der sich als Kanzler zu den Ostverträgen bekannte, gegen die er immer war. Ich glaube, bestimmte Grundüberzeugungen sind unentbehrlich, wenn es wirklich um Freundschaft geht – auch in der Politik. Aus meiner Sicht betrifft das vor allem den Umgang mit anderen Menschen, die Solidarität, die Freiheit, die Demokratie.

Freundschaft zwischen Journalisten und Politiker

Gibt es Freundschaften zwischen Politikern und Journalisten? Darf es die geben?

Eine gewisse Distanz zwischen Journalisten und Politikern ist schon ganz gut. Ich habe mich jedenfalls nie auf falsche Kumpelei eingelassen. Wichtig ist, dass man sich darauf verlassen kann: der lockt mich nicht in eine Falle. Ich habe tolle Journalisten kennengelernt. Damals kamen sie noch mit Block und haben mitgeschrieben. Heute haben wir ein digitales Spektakel. Die Dinge ändern sich. Eine veränderte Welt braucht auch eine veränderte Form von Demokratie. Wir können Demokratie nicht so leben wie 1950 oder 1980. Wir müssen deshalb immer wieder fragen, was sind die Bedingungen von 2020? Was muss an welchen Stellen geschehen? Was können wir tun, damit wir keine Präsidialdemokratie werden wie in Frankreich oder in den USA?

Lassen Sie uns über einen reden, der auch gefragt wurde, ob er Ihr Freund ist: Gerhard Schröder. Ohne Sie hätte er als Kanzler die Agenda 2010 in der SPD nicht durchbekommen. Haben Sie dadurch Freunde verloren?

Richtig enge Freunde nicht, zustimmende Kollegen vielleicht. Das war damals keine Frage der Freundschaft. Gerhard Schröder ist mit dem Begriff Freundschaft anders umgegangen als ich. Ich habe weder Karten mit ihm gespielt, noch in diesem Freundeskreis gesessen, weil ich einfach anderes zu tun hatte.

Das hat nicht bedeutet, dass ich an seiner Politik rumgenörgelt hätte. Das wusste er auch. Wir haben zusammenge-halten und uns intensiv ausgetauscht. Aber es war nicht so, dass ich gesagt hätte: Okay, Kumpel, jetzt werden wir best Buddys. Das war eine politische Freundschaft, wie mit Steinmeier, Peer Steinbrück oder Hans Eichel. Sogar Otto Schily hat sich irgendwann an mich gewöhnt und ich mich an ihn. Da habe ich immer das sichere Gefühl gehabt, dass die mich nicht ausgekurvt haben.

„Im Streit um den besten Weg bleiben manchmal auch Freundschaften über.“

Kommen wir nochmal auf Ihre Familie zurück. Sie selbst sind Vater von zwei Töchtern, wie wichtig sind Eltern für das eigene Verständnis von Freundschaft?

Meine Mutter wollte, dass ich Mundharmonika lerne. Mein Vater hat mir einen Fußball geschenkt. Der Fußball hat dann auch gewonnen. Insofern war das zwischen uns geklärt. Eltern sind außerordentlich wichtig in der Kinderzeit. Meine Mutter hat großen Einfluss gehabt. Meine Töchter waren zehn und  sechs Jahre alt, als ich in den Bundestag kam. Da ist man dann nicht mehr so viel zuhause.  Als sie größer waren, hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich immer viel weg war. Da haben sie gesagt: „Naja, also, nebenan bei denen war der Vater immer um 16 Uhr zuhause. Schön war das auch nicht. Wir konnten bei uns mehr machen. Also, mach dir mal keine Sorgen.“

Sie haben Ihre Mutter bis zu ihrem Tod begleitet. Im gleichen Jahr war zuvor bereits Ihr Vater gestorben. Um Ihre an Krebs erkrankte Frau, Anke Petra betreuen zu können, haben Sie sich 2007 sogar aus dem politischen Geschäft zurückgezogen. Sie haben sich enorm eingesetzt. Aus Freundschaft? Aus Liebe?

Ich würde Liebe und Freundschaft in diesem Sinne nicht gleichstellen. Aber den Einsatz schon. Den kann man sich auch bei Freunden vorstellen. Mein Vater ist im Krankenhaus verstorben. Ohne dass ich das ahnte, war ich da und habe mich verabschiedet. Eine Stunde später war er tot. Da sagte meine Mutter, die die eigentlich Kranke war, sie möchte lieber zuhause sterben. Das habe ich ihr versprochen. Dann bin einige Monate von Bonn hin- und hergefahren. Damals habe ich erfahren, wie wichtig es ist, da zu sein. Bei meiner Frau war das auch so. Bei ihr hat die Pflegezeit noch länger gedauert. Das waren sehr intensive Zeiten, aber ich kann mir vorstellen, dass ich das auch für einen guten Freund machen würde.

„Damals habe ich erfahren, wie wichtig es ist, da zu sein.“

Für jemand wie Berthold?

Wenn kranke Menschen sterben, ist man ein Stück weit darauf eingestellt. Man nimmt sich Zeit dafür. Sterben ist eine wichtige Phase im Leben. Für die Menschen, die sterben, aber auch für die, die bleiben. Menschen im Sterben zu begleiten, ist eine prägende Lebenserfahrung. Ich spreche oft mit Menschen darüber und weiß, dass das Thema tabuisiert ist. Die Gesellschaft muss lernen, darüber zu sprechen. Der Tod meines Freundes war brutal plötzlich. Zack weg und aus. Er kam aus der Gastwirtschaft, hat den Weg im Garten abgekürzt, hat sich vertreten, stolperte, ist mit dem Kopf an die Wand gestürtzt und hat sich den Schädel zerschlagen. Das war ein Tod ohne jede Vorwarnung. Das hat mich, wie bei meinem Vater, sehr mitgenommen. Aber Sterben ist eigentlich ein Prozess. Meine Mutter hat mir noch so viel erzählt und Bilder gezeigt. Ich musste mir aufschreiben, was es beim Sterbekaffee zu essen und zu trinken gibt. Sie hat mir diktiert, wen ich auf jeden Fall einladen soll und wen nicht. Wir haben ihren Bruder angerufen, der wohnte in den USA. Sie hat sich bewusst von ihm verabschiedet und ihm gesagt: „Ich sterbe jetzt bald.“ Er hat geheult, sie hat geheult, ich auch. Das ist schlimm, aber das ist Leben. Ich bedauere nicht, dass ich für meine Mutter und meine Frau Zeit hatte. Wenn ich auch Berthold hätte begleiten können, wäre mir das lieber gewesen.

Verändert sich Freundschaft mit dem Alter?

Ganz sicher. Nicht nur die Natur verändert sich. Auch wir Menschen verändern uns. Aber Menschen haben immer das Bedürfnis, zu bestimmten Menschen besonders engen Kontakt zu pflegen. Gerade im Alter geht es um den Unterschied zwischen allein sein und einsam sein. Einsamkeit ist quälend. Das erlebe ich bei älteren Menschen. In der Corona-Zeit konnten wir in Heimen feststellen, was Isolation für die psychische Gesundheit bedeutet. Das spielt sich in vielen Häusern ab, auch ohne Corona. Wir haben in Berlin 51 Prozent Ein-Personen-Haushalte. Das ist in großen Städten keine Seltenheit mehr. Wenn im Alter die Freunde sterben, ist das besonders schmerzlich. Freunde kann keiner einfach so ersetzen. Deshalb muss man den Menschen sagen: Sorgt im Älterwerden für soziale Kontakte. Ob daraus Freundschaften werden, kann ich nicht versprechen, aber hier und da wird es doch Früchte tragen. Wenn man Zeit investiert, wird es auch Freundschaften geben. Dazu will ich ermutigen, weil die Zahl der älteren Menschen, die alleine sind, immer größer wird.

Was würden Sie jungen Menschen in Sachen Freundschaft mit auf den Weg geben?

Habt Mut, auf Menschen zuzugehen. Seid euch bewusst, dass Freundschaft eine tolle Sache ist. Freundschaft ist übrigens kein Geschenk. Man muss etwas dazu beitragen. Sicher, als ich mit vier oder fünf den Berthold kennenlernte, habe ich nicht gesagt: Willst du mein Freund sein? Das hat sich so ergeben und irgendwann war das so. Das hat keiner mehr infrage gestellt. Aber wenn man älter ist, muss man sich darum bemühen. Freundschaften ist – neben der Liebe – die engste Form menschlicher Beziehung, weil sie nicht nach dem Nutzen fragt. Ich wünsche jungen Menschen, dass sie die Bedeutung der Freundschaft erkennen. Richtige Freundschaft ist etwas Ernsthaftes, nicht mal so für eben, sondern für das Leben. Es ist nicht gut, dass der Mensch alleine ist. Das steht auch in der Bibel. Es ist gut, wenn du einen Freund hast oder zwei, drei oder vier. Viel mehr brauchen es nicht sein.

Herr Müntefering, ganz herzlichen Dank für das offene Gespräch!

Ich danke Ihnen für die Initiative und das Thema. Es ist wichtig, dass wir darüber sprechen. Es gibt von Hannah Arendt das schöne Wort: „Politik ist angewandte Liebe zum Leben“. Wenn mich Leute fragen, was brauche ich, wenn ich älter werde, dann sage ich immer: Liebe zum Leben. Und um das Leben zu meistern, sind Freundschaft und Liebe eine große Hilfe.

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