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Ausgabe 02 Hoffnung

Der Himmelsöffner

Autor: Jürgen Liminski | Bilder: Bernhard Spoettel

Der Himmelsöffner

Pater Leodegar war Krankenhausseelsorger. Ein halbes Jahrhundert lang hat er Sterbende begleitet – bis an die
„Schwelle des Übergangs“. Wie tröstet man in der Trostlosigkeit? Was sagt man, wenn nur das Herz sprechen kann?
Und was zählt am Ende wirklich? Pater Leodegar erinnert sich und zieht die Bilanz seines Lebens.

Es ist Aschermittwoch. Pater Leodegar hat noch Spuren des Aschenkreuzes auf der Stirn, Zeichen aller Vergänglichkeit. Zeichen aber auch der Überwindung aller Vergänglichkeit. „Unsere Zeit ist begrenzt, aber die Sanduhr des Lebens, die bei jedem irgendwann abläuft, ist kein Problem“, sagt er mit ernstem Lächeln. „Im Gegenteil, diese Zeituhr verbindet uns, wir haben sie alle.“ Der Besucher schaut ihn fragend an. Eigentlich wollte er von Pater Leodegar wissen, wie er in dem halben Jahrhundert als Krankenhausseelsorger Sterbende bis zum Ende begleitet, wie er ihnen Hoffnung vermittelt hat. „Wir sind alle nur auf Zeit hier,“ wiederholt der 87-Jährige und blickt ins Weite, wie wenn vor seinem inneren Auge ein Film abliefe. Es sind viele Filme, Bilanzen des Lebens.

„Unsere Zeit ist begrenzt, aber die Sanduhr des Lebens, die bei jedem irgendwann abläuft, ist kein Problem.“

In diesem halben Jahrhundert hat er im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Regensburg tausende, zehntausende Menschen an die „Schwelle des Übergangs“ – so nannte Franz von Assisi den Tod – begleitet. Wie viele waren es wohl? Pater Leodegar weiß es nicht. „Ich hab es nicht notiert, sie nicht gezählt, für mich zählte immer nur der Mensch, der vor mir lag.“ Pro Tag seien es etwa zwei gewesen, sagt er. Grob geschätzt müssten es also um die 35.000 gewesen sein. Der Pater hat im Laufe seines Lebens eine Kleinstadt in den Himmel gehievt. „Nein, nein“, wehrt er ab. „Städte kommen und vergehen, der Mensch bleibt, der hat eine Seele.“ Das sei die Botschaft, die er allen zu vermitteln versucht habe. „Unsere Zeit hier auf der Erde ist begrenzt, aber das gilt nur für den Körper, die Seele lebt ewig.“ Das habe er allen gesagt, katholisch oder nicht katholisch, gläubig oder nicht gläubig.

Alle habe er besucht auf der Palliativstation. Und natürlich habe es Sterbende gegeben, die ihm sagten: „Gloaben tu i gornix, und wenn’s mi verdonnert.“ Er hat das immer respektiert und nur geantwortet: „Sie bleiben ein Geschöpf, ein Geschöpf Gottes. Gott liebt auch sie. Sie werden nicht verdonnert.“ Nur selten hätten auch diese Kranken ihn nicht wiedersehen wollen. „In meinem Habit als Ordensmann brauchte und konnte ich meine Gedanken nicht verstecken. Wenn ich die Tür aufgemacht habe, wussten alle, wer da kommt.“

Circa 35.000 Menschen hat Pater Leodogar bisher beim Sterben beigestanden

Mit 22 Jahren war er in den Orden eingetreten, „1953 im November.“ Er hatte eine Lehre als Drogist absolviert und wollte nun Krankenhausseelsorger werden. „Mein Abt sagte, ich solle erst das Abitur nachmachen und dann studieren und Priester werden. Es ist ja etwas ganz anderes, wenn man auch die Krankensalbung spenden kann.“ Pater Leodegar mag den Ausdruck Sterbesakramente nicht. Das klinge wie das dumpfe Klatschen, wenn die letzte Schaufel Erde auf den Sarg fällt. „Es ist aber nur eine Hilfe, um wirklich bei Gott anzukommen.“ Die meisten Schwerkranken seien dafür offen gewesen. Im Angesicht des Endes sieht man diese letzte Hoffnung mit anderen Augen. „Vertrauen Sie der Liebe Gottes,“ habe ich ihnen gesagt. „Und wo es Hoffnung gibt, da stirbt man auch in Frieden.“

Gruß vom Jenseits

In den vielen Jahren sei es ihm immer „wichtig gewesen, die Freude der Hoffnung zu vermitteln.“ Letzte Hoffnung klinge so dramatisch, als klammere man sich verzweifelt ans Leben. Aber es sei doch nur eine Zeitfrage. Die Hoffnung selbst sei eine zeitlich begrenzte Tugend, so wie der Glaube. Entscheidend sei die Liebe, „die gibt’s ewig. Darauf freuen wir uns. Gott wäre nicht zu verstehen, wenn er uns diese Freude nicht mitgegeben hätte. Das Ziel der Schöpfung ist doch die Vollendung in der Liebe, die Überwindung des Leids.“ Das habe er seinen Sterbenden mitgeben wollen. Etliche hätten noch beichten wollen, „es entlastet, wenn man’s ausspricht. Aber es muss frei sein. Und Freiheit braucht Überzeugung.“ Er selber gebe nur Zeugnis, überzeugen müssten sich die Menschen selbst. Im Mittelalter hat Bernhard von Clairvaux das einmal so gesagt: „Gott kann nicht leiden, aber er kann mitleiden.“ Dasein in der Einsamkeit: So hat Pater Leodegar getröstet.

„Jetzt red’ mit Deiner Mama. Sie lebt bei Gott und einmal kommst Du auch dahin.“

Dasein auch in der Trostlosigkeit. „Es ist echt bitter“, sagt er, „wenn die Mutter stirbt und das Kind am Bett steht.“ Kinder hätten ein „inneres Gespür für ewiges Leben.“ Er habe dem kleinen Jungen damals gesagt: „Jetzt red’ mit Deiner Mama. Sie lebt bei Gott und einmal kommst Du auch dahin.“ Der Junge habe stumm genickt. Dann sei er mit dem Papa gegangen. – „Haben Sie sich in solchen Situationen nicht gefragt: ‚Lieber Gott, musste das sein?‘“– „Diese Frage stellen wir uns alle. Dafür gibt es nur eine Antwort: Wir leben hier auf Zeit. Wir kommen mit dem Leid nur zurecht, wenn wir wissen, wir sind geschaffen für die Liebe.“
Das erinnert an Benedikt XVI. In dessen Hoffnungs-Enzyklika „Spe salvi“ (2007) heißt es: „Nicht die Vermeidung des Leidens, nicht die Flucht vor dem Leiden heilt den Menschen, sondern die Fähigkeit, das Leiden anzunehmen und in ihm zu reifen, in ihm Sinn zu finden durch die Vereinigung mit Christus, der mit unendlicher Liebe gelitten hat.“ Weiter schrieb der damalige Papst, „niemand von uns ist imstande, die Macht des Bösen aus der Welt zu schaffen, die immerfort Quell von Leiden ist. Das kann nur Gott: Nur ein Gott, der selbst in die Geschichte eintritt, Mensch wird und in ihr leidet. Wir wissen, dass es diesen Gott gibt und dass daher die Macht in der Welt da ist, die die Schuld der Welt hinwegnimmt.“

Billiger Trost, Vertröstung auf das Jenseits? Was ist, wenn die Unschuld selbst stirbt, wenn ein Kind dahingeht? Pater Leodegar hat dann in der Kapelle gesessen und gefragt: „Ein Kind, Gott, ein Kind, ja, Herrschaften, musste das Kind jetzt sterben?“ Es waren Erfahrungen, die ihn „mehr gelehrt haben als das Studium. Danach kann man nicht zum Alltag übergehen.“ Und die Mutter, der Vater, die Angehörigen? In solchen Situationen müsse man jedes Wort abwägen. „Ich kann nicht einer Mutter, die weint, von der Fülle des Lebens reden. Ich habe ihr gesagt, für mich sei der große Gewinn des Lebens zu wissen, dass wir nur auf Zeit hier sind. Und wenn sie dann gesagt hat, ‚er ist nimmer da, unser lieber Bub,‘ dann hab ich ihr geantwortet: ‚Weinen Sie, schreien Sie auch ruhig. Und reden sie mit ihm. Sie hören ihn nicht, aber er hört Sie. Er lebt, er lebt jetzt bei Gott.‘“ Das sei wichtig gewesen für sie: Zu wissen, dass ihr Sohn bei Gott lebe. „Das hat sie getröstet, das habe ich immer wieder erlebt. Wenn solche Worte auf Glauben stoßen, dann ist das wie ein Stück erfüllte Hoffnung, ein Gruß vom Jenseits. Mütter und Kinder haben dafür einen besonderen Sinn.“

„Vertrauen Sie der Liebe Gottes, habe ich ihnen gesagt. Und wo es Hoffnung gibt, da stirbt man auch in Frieden.“

Bei jungen Menschen sei die Trauer immer groß, „weil das Sterben so weit weg ist. Bei den Alten rechnet man schon damit. Aber für alle gilt – ob jung oder mit hundert Jahren – ich sage es allen: Du lebst ewig. Was uns zu Menschen macht, ist die Seele. Die muss man in ihrer Ganzheit sehen. Einen Teil verbringt sie hier auf Erden, den anderen in der Ewigkeit. Wenn es nicht so wäre, würde ich sagen: Lieber Gott, da hast Du Pfusch mit uns Menschen gemacht.“

Mit den Augen der Liebe

Hart sei der Tod ohne Versöhnung. Die Zurückgebliebenen machten sich dann Vorwürfe. Das Kind sei andere Wege gegangen, groß geworden, im Groll weggezogen, „jahrelang herrschte Schweigen, erst der Unfall hat die Familie am Bett wieder vereint. Aber sie konnten nicht mehr reden, die Tochter lag da im Koma. Dann hieß es: Ach, hätten wir doch noch telefoniert, irgendwie miteinander geredet. Dann am Bett, vor dem reglosen Körper fragen sie sich: Haben wir versagt? In solchen Momenten der Leere muss ich reden, ihnen sagen, dass es Hoffnung gibt, dass Gott die Tochter aufgenommen hat.“ „Konnten Sie diesen Angehörigen sagen, dass Gott gutmache, was sie versäumt hätten?“ Die Antwort kommt spontan, fast erschreckt: „Des darf ich net sagen. Das geht nicht. Ich weiß es ja nicht. Ich kann nur versichern, dass die Seele ewig lebt und es die Seele ist, die uns zu Menschen macht. Und dass die Tochter lebt.“ Das würden die meisten verstehen und dann mit ihm reden, eindringlich, so als ob er die Worte nach oben weiterreichen würde. Es ist die Hoffnung, die die Lebenden mit den Dahingegangenen verbindet. Denn die Hoffnung weist immer über den Tod hinaus.

Manchmal ist Reden nicht mehr möglich. Dann müsse das Herz sprechen. Pater Leodegar hat viele Hände gehalten, bis zum Schluss, und in den Augen den dankbar-scheidenden Blick zurück gesehen. „Manchmal sah man auch nichts.“ Dann sei er oft in den Garten des Krankenhauses gegangen und habe gebetet und gehofft, dass der Mensch im Glauben gegangen sei. Mutter Teresa hat einmal gefragt: „Die Menschen hungern nach Gott. Die Menschen sehnen sich nach Liebe. Sind wir uns dessen bewusst? Wissen wir das? Sehen wir das? Haben wir Augen, um es zu sehen?“

Pater Leodegar hat diese Augen. Sie sehen die Sehnsucht. Immer hat er versucht, in dieser Sehnsucht die Seele zu entdecken. Deshalb weiß er: „Es gibt keine typischen Situationen des Sterbens. Jeder Tod ist anders. Aber heute sterben mehr Menschen in Einsamkeit als früher.“ Und in den Städten sei das noch häufiger als auf dem Land. Das Krankenhaus in Regensburg hat einen großen Einzugsbereich, „es kommen viele vom Land, aus den Dörfern. Das war in München anders.“ Pater Leodegar hat auch ein paar Jahre in München Sterbende begleitet. „Vielen dort war der Glaube fremd, ihre Einsamkeit war besonders bedrückend.“ – „Was haben Sie da gesagt?“ – „Wenn die mit mir reden wollten, habe ich ihnen gesagt: Sie werden erwartet – in Liebe.“ Ganz einfühlsam habe man da sein müssen. Ob diese Sterbenden mehr Angst gehabt haben als andere? „Es reichte oft der erste Blick, dann wusste ich, wo er steht,“ antwortet der Pater. „Ich habe versucht, ihnen die Angst zu nehmen, sonst kann man sich innerlich nicht öffnen.“ – „Was hilft gegen die Angst?“ – „Die Barmherzigkeit, das Wissen um die unfassbare Barmherzigkeit.“

„Wie definiert man Barmherzigkeit?“ – Pater Leodegar von den Barmherzigen Brüdern hat viel darüber nachgedacht. „Das ist konkrete Nächstenliebe, mit Kopf, Herz und Hand.“ In der Barmherzigkeit vollende sich schon ein Stück Hoffnung auf Erden, weil sie auf Ewigkeit zielt. „Es ist eine Haltung“, sagt Leodegar, „eine Lebenseinstellung. Es muss eine Haltung sein, auch bei den Pflegern.“ Das habe er immer beobachtet: Wer diese Haltung habe, wer seinen Dienst mit Herz und Hand erfülle, der sei auch zufriedener. Wer nur mit den Händen arbeite, der mache einen Job.
Das spüre auch der Patient.

Fahrstuhl nach oben

Die Erfahrung, einem Menschen beim Sterben geholfen zu haben, war für Pater Leodegar immer „Erfüllung von Hoffnung.“ Hoffnung sei der „Fahrstuhl“ nach oben gewesen. Wer Hoffnung habe, für den öffne sich der Himmel, da gebe es für ihn keinen Zweifel, sagt der Pater mit dem seltenen Namen – „den haben die Oberen mir gegeben, weil ich aus Graisbach bei Eichstätt, dem Dorf des heiligen Leodegar komme.“

„Sie haben für viele Menschen den Himmel geöffnet.“ – Der Pater winkt ab. Er schlägt vor, auf den kleinen Friedhof des Klosters zu gehen, er gehe gern und oft dahin. „Das Wasser rauscht, die Zeit steht still“, sagt er. Sehnsucht nach dem Himmel? „Ich freue mich des Lebens.“ Ob er mit den Brüdern auf dem Friedhof rede oder mit seiner Schwester, die zwanzig Jahre älter war und ihn so sehr geliebt habe. „Joa, mit denne red’ ich schon.“ Pater Leodegar lebt jetzt seit einem guten halben Jahr im Tagungshaus des ehemaligen Klosters Kostenz und ordnet seine Sachen: Bücher und Hefte des Studiums, Aufzeichnungen, Gedanken, Erinnerungen. Eigentlich braucht er sie nicht, aber es sind Notizen des Lebens, Notizen der Hoffnung. Nach einem halben Jahrhundert mit Sterbenden weiß er: Wer hofft, der lebt und stirbt anders; wer hofft, der betet anders; wer hofft, der liebt anders. Vielleicht schreibt er noch ein Büchlein, aber das müsse er erst noch mit seinen Freunden besprechen, im Kloster und auf dem Friedhof. Alles eine Frage der Zeit, der Sanduhr des Lebens.

„Ich freue mich des Lebens.“