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Ausgabe 04 Freiheit

„Dann zähle ich halt Türen“

Lesedauer: ca. 6 Min.

Autor: Johannes Seemüller | Fotos: Bernhard Spoettel, Ralf Kuckuck

„Dann zähle ich halt Türen“

Clara Klug ist seit ihrer Geburt fast blind. Das hindert die 24-Jährige nicht, trotz vieler Abhängigkeiten selbstbestimmt und erfolgreich durchs Leben zu gehen. Die Münchnerin ist die beste Para-Biathletin der Welt.

Es regnet draußen. Eigentlich wollen wir das Interview und die Fotoaufnahmen im Stadtpark von München-Pasing machen. Aber bei diesem Wetter? Clara Klug öffnet uns die Tür ihrer Wohnung. „Ich glaube, wir machen das besser bei mir in der Küche“, sagt sie freundlich. „Hier ist es gemütlicher, und einen Espresso gibt es auch.“ Bei fast allen Interview-Terminen mit erfolgreichen Leistungssportlern sind private Räume tabu für Journalisten.

Clara Klug kennt solche Berührungsängste offenbar nicht. Kein PR-Mann an ihrer Seite, keine Angst, dass wir ihr Vertrauen missbrauchen. Und das, obwohl sie uns nicht sehen kann. Sie ist fast blind. Während wir unsere Kameras und Mikrofone einrichten, wuselt die junge Frau souverän und sicher durch ihre Wohnung. Sie schlängelt sich an den Stativen vorbei. Als ob sie auf Skiern einen Slalomkurs bewältige. Nur ganz ohne Stock.

Ein Leben ohne Farben und Gesichter

„In geschlossenen Räumen brauche ich den Stock nicht, nur draußen,“ erzählt sie dann, als wir uns am Küchentisch den Espresso gönnen. Claras Augen haben eine leichte Schrägstellung. Sie blickt mich an, aber kann mich doch nicht sehen.

Clara kennt das Leben nur so – ohne Farben und Gesichter, ohne Mimiken und Gesten. Seit ihrer Geburt sieht sie nur leichte Schattierungen. Lebersche Amaurose nennt man diese Erbkrankheit. „Als Kleinkind war mir das wurscht“, erzählt sie. Mit zwei Jahren bekam sie ihre erste Brille. Da hatte sie noch ein Sehvermögen von etwa 15 Prozent. Während ihrer Grundschulzeit ging es damit rapide bergab. „Ich habe Schreiben und Lesen gelernt, indem ich mit dem Gesicht auf dem Blatt lag und mit dem linken Auge versucht habe, die Buchstaben zu erkennen,“ erinnert sie sich. Heute sieht sie weniger als ein Prozent.

Wir sitzen hier in ihrer Küche, um mit Clara darüber zu reden, wie sie ihren Alltag meistert, wie sie im Sport so erfolgreich wurde und wie sie über das Thema Freiheit denkt. Wie frei sie sich fühlt, obwohl sie nahezu blind ist.

Clara ging in Unterschleißheim ins Sehbehindertenzentrum. In der Grundschule lernte sie Punktschrift lesen und schreiben, eignete sich den Umgang mit Laptop und Sprachausgabesystemen an. Sie wollte unbedingt in die Regelschule gehen. Ehrgeizig war sie schon immer.

Ihre Eltern ließen ihre junge sehbehinderte Tochter springen. Im Wissen, dass das Mädchen sich immer wieder verletzen wird. Heute ist die 24-Jährige dankbar, dass ihre Eltern ihr diese Freiheit und Selbständigkeit zugestanden haben. „Ich bin genauso wie alle anderen über den Spielplatz gerannt. Ich habe mich natürlich auch hin und wieder böse angeschlagen und hatte aufgeplatzte Lippen, weil ich gegen irgendeinen Pfosten geknallt bin.“

Als Kind dachte sie nicht so viel darüber nach, was alles passieren könnte. Ihre Sehnsucht nach Freiheit war größer als ihre Angst. Sie wollte sich so ungezwungen und frei bewegen wie ihre sehenden Freundinnen.

Vom Mut, sich Freiräume zu schaffen

In der Pubertät verlor sie einen Teil ihrer Unbekümmertheit. Ihr wurde schmerzhaft bewusst, dass sie anders ist. Sie ging ihren Freunden immer häufiger auf die Nerven. Plötzlich merkte sie: Ihre Freiheit hat Grenzen.

Die Sehbehinderte wurde zur Belastung für die Clique. „Wenn man mit 16 zum ersten Mal versucht, in einen Club reinzukommen, dann will man nicht auch noch die blinde Freundin mitschleppen,“ zeigt Clara heute Verständnis. Trotzdem schwingt in ihren Worten der Schmerz aus dieser Zeit mit. „Ich kam mir etwas abgehängt vor.“

Während sich die eine Tür für sie mehr und mehr schloss, machte Clara eine andere auf. Sie erschloss sich einen neuen Freiraum. Sie konzentrierte sich auf die Schule und lernte viel. „Damit war ich teilweise noch uncooler, aber es hat mir Spaß gemacht. Ich war schnell besser als andere und konnte damit ausgleichen, was mir sonst gefehlt hat.“ Immer wieder klingt er durch bei Clara, dieser unbedingte Wille, dieser Biss und Ehrgeiz.

Dank solcher Tugenden hat sie kürzlich ihr Computerlinguistik-Studium erfolgreich abgeschlossen. Dieser Mut, sich immer wieder neue Freiheiten zu erarbeiten, hat sie auch zur weltbesten Para-Biathletin gemacht. Innerhalb von sieben Jahren katapultierte sich die Hobby-Skilangläuferin Clara Klug in die Weltspitze des Behindertensports. Bei den Winter-Paralympics 2018 im südkoreanischen Pyeongchang holte sie zwei Bronzemedaillen für Deutschland, im März gewann sie bei den Weltmeisterschaften in Kanada dreimal Gold im Biathlon und zweimal Bronze im Langlauf.

Der Guide als Tanzpartner

Möglich wurden diese Erfolge durch Martin Härtl. Der 44-Jährige ist der Begleitläufer von Clara. Der Trainer des Behindertensportverbandes in Bayern hatte 2012 ihr herausragendes Talent entdeckt. Sie lernten sich kennen, stimmten sich ab, erhöhten das Trainingspensum von Jahr zu Jahr, auf nun 20 Stunden pro Woche.

Während des Trainings und während der Rennen läuft Härtl voran, etwa zwei bis drei Meter, Clara im Windschatten hinterher. Verbunden sind sie nur per Herzfrequenzmesser. Clara trägt einen Gurt, Härtl hat den Computer am Handgelenk, kann die Werte der Biathletin ablesen und sie entsprechend steuern. „Das ist die totale Überwachung“, lacht Clara. Sie lacht überhaupt viel.

Der Guide trägt auch einen Lautsprecher am Rücken, über den er spezielle Kommandos gibt – für die Kurven, für einen Abstieg oder eine Abfahrt. In steileren Passagen reicht Härtl seiner Läuferin den Stock nach hinten, damit sie ihn fassen kann. „Wir fahren dann als Skizug hintereinander herunter. Wir kriegen Geschwindigkeiten bis zu 53 km/h auf die Skier,“ erzählt Clara.

In solchen Momenten verlässt sie sich zu 100 Prozent auf ihren Guide. Ein solches blindes Vertrauen würde vielen Menschen Angst machen. Clara nicht. Sie weiß: Nur, indem sie sich vertrauensvoll in die Abhängigkeit von ihrem Begleitläufer begibt, ermöglicht er ihr die Freiheit, diesen Sport auszuüben. Clara hat sich entschieden, beim Biathlon die Kontrolle an Martin Härtl abzugeben und sich fallen zu lassen. Manchmal geschieht dies im wortwörtlichen Sinne. Bei den Paralympics in Pyeongchang stürzte Härtl in einem Rennen, Clara bekam es nicht mit und krachte in ihn hinein. Am Schießstand muss sich Clara allein beweisen. Wenn sie dort ankommt, schnappt sie sich das Lasergewehr mit Infrarotsystem und setzt sich einen Kopfhörer auf. Gezielt wird nach Gehör. Die Zielscheibe sendet ein Infrarotsignal, das in ein Tonsignal umgewandelt wird. Je höher der Ton, desto mehr zielt Clara in die Mitte. Härtl steht dann hinter ihr und kann nur hoffen, dass Clara die Treffer setzt. „Im besten Fall scheißt er mich nicht zusammen, weil ich gut geschossen habe“, sagt sie lachend. Claras Ausdrucksweise ist herrlich direkt.

„Man muss sich sehr gut verstehen“, erzählt sie über das Verhältnis zu ihrem Begleitläufer. „Wenn wir uns anzicken, dann klappt es auch im Wettkampf nicht.“ Auch abseits der Loipe sind Clara und Martin ein eingespieltes Team. Im Mannschaftshotel holt er sie zum Essen ab und hilft ihr beim Buffet. Vieles schafft Clara aber auch allein. Sie hat die Gabe, sich überall schnell orientieren zu können. „Ich finde alleine ins Foyer runter oder weiß, wo die Teamkollegen ihre Zimmer haben. Dann zähle ich halt Türen.“ Türen zählen, statt nach der Zimmernummer schauen zu können. Das ist Claras Welt.

„Ich weiß nicht wirklich, wie ich aussehe“

Martin Härtl ist ein großer, schlanker, durchtrainierter Sportler mit Glatze. Im Internet gibt es viele Bilder von ihm. Die kann sich jeder anschauen. Clara nicht. Sie hat keine Ahnung, wie der Mann aussieht, mit dem sie so viele Monate im Jahr durch die Welt reist, trainiert, Wettkämpfe bestreitet und ihre größten Erfolge feiert. „Ich vermisse es, die Mimik und Gestik von anderen mitzukriegen.“

Weil Claras Augen ihren Dienst verweigern, ist sie umso mehr auf ihre Ohren angewiesen. Sie bekommt mit, wenn ihr Gegenüber gestikuliert oder eine andere Bewegung macht. „Grad haben Sie während des Redens kurz weggeschaut“, sagt sie plötzlich. „Sie hören, wenn ich wegschaue?“ – „Na, wenn ich wegschaue und spreche, klingt meine Stimme ja auch anders.“ Das stimmt. Aber wer achtet schon auf sowas? Clara zum Beispiel.

Ihre Stimme klingt angenehm. Sie spricht dialektfrei, artikuliert so deutlich, als hätte sie früher einmal Sprechunterricht genommen. Ihre grün-blauen Augen wirken fokussiert. Sie trägt blaue Jeans und einen dunkelblauen Hoodie. Ihre roten Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden.

Weiß sie, wie sie selbst aussieht? „Nicht wirklich. Ich habe nur eine Idee von meiner Haarfarbe. Natürlich weiß ich, wie sich mein Körper anfühlt, mein Gesicht. Ich konnte früher im Spiegel eine Zeit lang sehen, dass ich da bin. Ich konnte vielleicht auch etwas von meiner Figur erkennen. Aber die Proportionen sind völlig verzerrt. Ich habe mich nie richtig sehen können.“

Mitleid kann sie nicht leiden

Clara erzählt das sachlich, nicht weinerlich. Obwohl sie allen Grund hätte, mit ihrem Schicksal zu hadern. „Das tue ich auch“, gibt sie zu. „Bei jedem Laternenpfosten, gegen den ich knalle. Dieses Hadern schwingt immer mit. Wenn eh schon alles schiefläuft, und dann verheddere ich mich noch an einem blöd abgestellten Fahrrad, dann kommen mir schon mal die Tränen. Dann habe ich keinen Bock mehr, überhaupt noch weiterzugehen und würde mich am liebsten in meinem Bett verkriechen.“ Wirklich schlimm sei es vielleicht einmal im Monat, sagt sie.

Menschen, die Schweres im Leben durchmachen müssen, weisen häufig Gott die Schuld dafür zu. „Ich mag die Idee nicht besonders, zu sagen: Gott hat mir das auferlegt, um mich zu prüfen“, erzählt Clara. „Ich glaube nicht, dass irgendwelche übergeordneten Mächte etwas mit meiner Behinderung zu tun haben.“ Mitleid kann sie überhaupt nicht leiden. Dann hat sie das Gefühl, dass die anderen Menschen sich über sie stellen. „Das habe ich schlichtweg nicht nötig“, betont Clara. Ihre Stimme klingt jetzt rigoros, und man spürt ihre innere Stärke und Freiheit, sich nicht von der Meinung anderer abhängig zu machen.

Clara will so behandelt werden, wie ihre Familie das tut. Ihre Eltern und ihre jüngere Schwester vergessen gelegentlich, dass sie fast blind ist und lassen sie irgendwo stehen. Ihre Schwester lache sie sogar aus, „wenn ich irgendwo dagegen renn, oder klaut mir das Essen vom Teller.“ Clara mag diesen unverkrampften Umgang.

Wenn andere übergriffig werden

Ihr wurde schon in jungen Jahren beigebracht, für sich einzustehen. Diese Erziehung kommt ihr zugute – auch in unangenehmen Situationen. Was Clara überhaupt nicht mag: von anderen einfach angefasst zu werden. Vier bis fünf Mal passiert ihr das pro Woche. Auch wenn die meisten Leute ihr nur helfen wollen. „In dem Moment erlebe ich das als sehr übergriffig“, betont sie. „Es wäre viel besser, wenn ich gefragt würde, ob man mir vielleicht helfen könne.“

Es muss schlimm sein, immer wieder auf andere Menschen angewiesen zu sein. „Natürlich muss ich oft einstecken und sagen ‚Ich brauche jetzt Hilfe‘, auch wenn ich es nicht möchte. Aber ich habe die Wahl. Ich sage, wann ich Hilfe brauche und wann nicht.“ Im richtigen Moment zu erkennen, dass sie alleine nicht mehr weiter kommt, ist eine von Claras Stärken. Diese oft kleinen Entscheidungen, sich dann helfen zu lassen, eröffnen ihr neue Freiräume.

Ich frage, ob sie sofort mit jedem sehenden Menschen tauschen würde. „Nein“, kommt es wie aus der Pistole geschossen. „Sicher nicht. Jeder hat schließlich sein Päckchen zu tragen“, meint sie. „Aber ich würde vielleicht das Sehen nehmen“, sagt sie mit trockenem Humor.

Zum Schluss möchte ich noch wissen, wo eigentlich die Vitrine mit ihrer beeindruckenden Medaillensammlung steht. So etwas brauche sie nicht, antwortet Clara. „Ich kann die Dinger ja eh nicht sehen.“ Stattdessen lagern die Edelmetalle aus Gold, Silber und Bronze in einem Pappkarton unter ihrem Schreibtisch. „Aus der Schachtel kann ich sie schneller rausnehmen und anfassen.“

In den kommenden Jahren sollen weitere Medaillen hinzukommen. Ihr großes Ziel ist Gold bei den Paralympics 2022 in Peking. Anfang Mai hat sie eine Stelle bei der bayerischen Bereitschaftspolizei angetreten. Zu 90 Prozent wird sie freigestellt, um in der Spitzensportfördergruppe trainieren zu können. Ihr Trainingspensum will sie auf 30 Stunden pro Woche erhöhen.

Keiner sollte auf die Idee kommen, Clara Klug aufzuhalten.

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