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Ausgabe 04 Freiheit

Wann ist Freiheit wirklich frei?

Lesedauer: ca. 6 Min.

Autor: Martin Priller | Illustrationen: Carina Crenshaw

Wann ist Freiheit wirklich frei?

Greta nimmt sich die Freiheit. Greta Thunberg ist gemeint, das Mädchen mit dem Schulstreik fürs Weltklima. Lassen wir einmal alles weg, was bei „Greta“ und „Schulstreik“ und „Klima“ so aufploppt: Ob man das gut finden soll oder wie das mit der Schulpflicht ist, ob wir mit ihr und ihrem Thema sympathisieren oder nicht, wer das eigentlich alles steuert und inszeniert und all diese Diskussionen und Fragen…

Wir lassen das alles gedanklich beiseite und konzentrieren uns auf diese eine Sache: die Freiheit. Greta nimmt sich die Freiheit, freitags Zeit von der Schule „abzuzweigen“ und sich für die Rettung des Weltklimas einzusetzen. Das ist mal ein starkes Statement: selbstbestimmt, mutig, frei. Die Freiheit musst du dir erst mal nehmen: dich frei machen von Vorschriften und Konventionen; dich frei machen von vermuteten und tatsächlichen Reaktionen der anderen; dich frei machen von der Furcht vor Sanktionen oder auch nur vor der Blamage… Ein Mädchen, das die Schule schwänzt und sich mit einem handgemalten Pappschild ganz allein dem Klimawandel entgegenstellt, scheint ein wirklich erstaunlich freier Mensch zu sein. Nur, Greta sag’, bist du wirklich frei? Kommst du aus dieser Kiste jemals wieder raus, falls du mal wolltest? Bist du vielleicht eine Gefangene der Freiheit, die du dir genommen hast?

Wie ist das mit der Freiheit?

Wenn man sich umhört: „Was bedeutet für dich Freiheit?“, dann bekommt man Antworten zu hören wie: „Freiheit ist für mich: tun und lassen können, was ich will.“ Oder: „Frei bin ich, wenn mir niemand Vorschriften macht.“ Echt jetzt? Mehr nicht? Natürlich erleben wir oft das Gegenteil: dass wir eben nicht tun und lassen können, was wir wollen, sondern einer Fülle von Zwängen, Vorgaben, Erwartungen und Pflichten ausgesetzt sind und uns entsprechend unfrei fühlen.

Das mag sein. Das kennen wir aus den frühesten Kindheitserinnerungen: Das Kleinkind will noch spielen – Mama sagt, es muss ins Bett. Ein Jugendlicher will ein Computerspiel, das alle in der Klasse haben, obwohl es erst ab 18 ist – Papa erlaubt’s nicht. „Wartet bis ich groß bin, wenn ich mal erwachsen bin, dann kann ich tun und lassen, was ich will und niemand macht mir Vorschriften!“ Das erweist sich als Trugschluss, wie jeder weiß, der Ü18 ist. Aber die Vorstellung von Freiheit ist dann trotzdem: tun und lassen, was ich will? Ist da die Freiheit nicht irgendwie in den Kinderschuhen stecken geblieben? Ist das nicht eine etwas infantile oder zumindest pubertäre Vorstellung von Freiheit? Werd’ erwachsen, Freiheit!

Frei – oder doch nicht?

Was könnte das heißen? Wann ist Freiheit „erwachsen“? In der Zeit der Aufklärung hat der französische Philosoph, Schriftsteller und Pädagoge Jean-Jacques Rousseau (in: Die Träumereien des einsamen Spaziergängers, 1776) einmal geschrieben: „Je n’ai jamais cru que la liberté de l’homme consistât à faire ce qu’il veut, mais bien à ne jamais faire ce qu’il ne veut pas.“ Möglichst wörtlich (wenn auch etwas holprig) übersetzt: „Ich habe nie geglaubt, dass die Freiheit des Menschen darin besteht zu tun, was man will, aber sehr wohl darin, niemals zu tun, was man nicht will.“ Das scheint doch einen Schritt weiter zu führen. Da ist Freiheit nicht bloß: Ich will von Vorschriften ungestört meinen Willen durchsetzen. Sondern Freiheit heißt für Rousseau: Werte und Ideale frei entwickeln und dann auch danach leben können, also frei sein vom Zwang etwas tun zu müssen, das diesen Werten widerspricht.

Das ist gar nicht immer so ganz unproblematisch, wie es auf den ersten Blick aussieht. Zum Beispiel hat einer die Idealvorstellung, ein ehrlicher Mensch zu sein und immer die Wahrheit zu sagen. Freiheit könnte dann aber bedeuten, eine verletzende Bemerkung einer charmanten Notlüge vorzuziehen: „Ich hab zugenommen.“ – „Ja, fett bist du geworden.“ Oder vielleicht doch lieber: „Du siehst gesund aus?“ – Vorsicht vor einer absolut gesetzten, rücksichtslosen Freiheit! Immerhin: Rousseaus Freiheit kennt Ideale und hat den Mut zur Entscheidung. Er muss auch etwas investieren, um frei zu sein, er muss für seine Freiheit etwas riskieren. Im Extremfall kann das den Kopf kosten. Fragt die Christen in den ersten zwei Jahrhunderten, die sich die Freiheit nahmen, in der heidnischen Staatsreligion vor der Statue des göttlichen Kaisers die Opfergabe zu verweigern, weil für sie allein Christus der göttliche Herr ist. Da wird Freiheit aber mal ganz schnell erwachsen. Unter den frühchristlichen Märtyrern waren damals viele junge und sehr junge Menschen.

Ist also Entscheidungen zu treffen (mit allen Konsequenzen) Kennzeichen einer reifen, „erwachsenen“ Freiheit? Wir leben in einer freien Gesellschaft. Die Freiheit zeigt sich gerade darin, dass wir die Freiheit der Entscheidung haben. Nicht nur an der Wahlurne. Sondern permanent in allen Lebenslagen. Das hat Folgen: Du willst Joghurt kaufen? Triff deine Entscheidung zwischen dreißig Sorten: Marke, Fettgehalt, Geschmacksrichtung, mit oder ohne Zucker, cremig oder fest… Der Markt der Möglichkeiten ist nahezu unbegrenzt. Du hast die Wahl. Entscheide frei! – Aber sind wir dabei wirklich frei?

Mittlerweile gibt es schon Theorien, die besagen, dass die schier unbegrenzten Möglichkeiten am Ende wieder unfrei machen. Der amerikanische Psychologe Barry Schwartz („The paradox of choice“, 2004) stellt die These auf: Wenn du unter dreißig Sorten Joghurt einen auswählst (oder meinetwegen drei), trauerst du möglicherweise den siebenundzwanzig anderen hinterher, für die du dich nicht entschieden hast. Wer eine Entscheidung für etwas trifft (und sei es etwas so Banales wie Joghurt), entscheidet sich gleichzeitig gegen die vielen Alternativen (die immer in der Überzahl sind). Das ist fies. Aber es ist die Realität: Ich kann an der Kinokasse unter fünf verschiedenen Filmen frei wählen. Aber wenn ich dann entschieden habe, den Film in Saal 3 anzusehen, werde ich die anderen vier Filme nicht sehen. Jedenfalls nicht an diesem Abend. Schwartz hat einen Begriff für dieses Phänomen geprägt: „Paradoxon der Wahlmöglichkeiten“. Die Freiheit der Entscheidung hat, wenn ich sie nutze, eine Begrenzung meiner Entscheidungsfreiheit zur Folge. Wer in Freiheit eine Entscheidung trifft, nimmt sich selbst die Freiheit für all die anderen potenziellen Entscheidungen. Bei manchen Menschen löst das Panik aus. Verrückt? Nein, leider wahr.

Holen wir noch einmal Greta heran. Sie wirkt nicht gerade panisch, was ihre Freiheit angeht. Vielleicht, weil auf sie zutrifft, was Psychologen denen raten, die unter dem „Paradoxon der Wahlmöglichkeiten“ leiden: Die große Auswahl gedanklich reduzieren und die dann getroffene Entscheidung gut finden. Das Gefühl abschütteln, etwas verpasst zu haben, sondern wertschätzen, was man frei gewählt hat. Greta weiß, was sie will und wofür sie steht.

Man sieht schon: Freiheit will regelrecht erkämpft und erarbeitet werden. Sogar da, wo sie überhaupt nicht eingeschränkt wird. Aber das ist nur ein Problem mit der Freiheit. Es gibt auch noch andere Formen von versteckten Unfreiheiten dort, wo nach außen alles nach Freiheit aussieht: Da gibt es die Getriebenen, die ihre Freiheitsidee bis zum Äußersten verfolgen: „Ich kann nicht anders.“ Aber bist du dann noch frei, wenn du nicht anders kannst? Greta, wie ist das? Oder man erlebt manchmal Formen von Freiheit, die das Nachdenken und Entscheiden einfach übergehen: Sich treiben lassen, in den Tag hinein leben. Das kann schon mal ein Konzept für Urlaubstage sein.

Aber ist das Freiheit, wenn mein Leben ein Produkt zufälliger Ereignisse und Begegnungen wird? Oder die typischen Mitläufer, die für die Freiheit auf die Straße gehen, aber nicht aus Überzeugung und freier Entscheidung, sondern weil alle das machen und weil das gerade gut ankommt und weil ich nicht aus dem Rahmen fallen und als Spielverderber dastehen möchte. Ist das Freiheit? Dazu könnte man Gretas Freunde mal befragen. Und dann sind da noch die Zeitgenossen, die ihre Freiheitsrechte erkämpfen wollen, indem sie für andere nach Verboten rufen. Die merken noch nicht einmal, dass ihr Freiheitsverständnis ein Widerspruch in sich ist. Wohin man auch schaut: Die Freiheit stellt überall ihre Fallen auf, die dir am Ende die Freiheit rauben. – Heißt das jetzt, dass es Freiheit gar nicht gibt? Am Ende ist sie nur eine Idee, eine Utopie, ein immer unerreichbares Ideal?

Freiheit zur Entscheidung vs. Entscheidung zur Freiheit

Nelson Mandela saß in seinem Kampf für die Freiheit und Rechte der schwarzen Bevölkerung in Südafrika 27 Jahre als politischer Gefangener in Haft. An den Tag, an dem er das Gefängnis als freier Mann verließ, erinnerte er sich so: „As I walked out the door toward the gate that would lead to my freedom, I knew if I didn’t leave my bitterness and hatred behind, I’d still be in prison.“ „Als ich aus der Zelle durch die Tür in Richtung Freiheit ging, wusste ich, dass ich meine Verbitterung und meinen Hass zurücklassen musste, oder ich würde mein Leben lang gefangen bleiben.“ – Freiheit, die 27 Jahre im Gefängnis gereift ist. Mandela musste sich, um wirklich frei zu werden, bewusst für die Freiheit entscheiden. Freiheit ist hier nicht in erster Linie die Freiheit, Entscheidungen zu treffen. Die war ihm lange Zeit genommen. Sondern er trifft die Entscheidung, frei sein zu wollen. Freiheit nicht als Anspruch, den ich erhebe (man muss mir meine Freiheit geben), sondern eine (manchmal geradezu heroische) Entscheidung, ein Verzicht auch, ein bewusster Akt. Dieser Akt ist dem Menschen möglich, weil er Verstand und Willen hat, zur Empathie fähig ist, zur Selbstreflexion und zu ethischem Handeln. Wir Menschen gehorchen nicht einfach tierisch blind unseren Instinkten und Trieben, sondern bringen die Freiheit schöpferisch zur Anwendung, die in uns menschliche Geschöpfe hineingelegt ist.

Freiheit und Wahrheit

Da schimmert jetzt natürlich der biblische Schöpfungsglaube durch und das christliche Menschenbild, das sich daraus ergibt: Frei ist der Mensch, weil Gott ihn als freies Wesen erschaffen hat. Aber die Freiheit ist kein Selbstläufer. Man muss seine Freiheit in die Hand nehmen. Freiheit muss gelebt (manchmal erlitten) werden. Freiheit ist mehr als nur die Freiheit von äußeren Zwängen. Freiheit ist auch mehr als bloß die freie Wahl zwischen beliebigen Möglichkeiten. Freiheit wird dann echte Freiheit, wenn sie sich nach dem Wahren streckt. Freiheit tut sich mir dann auf, wenn ich ganz übereinstimme mit der Wahrheit, die ich gesucht und erkannt habe und für die ich geradestehen möchte. Wenn im Einklang ist, was ich will und was ich tue und was ich bin. Das ist eine Freiheit, die größer ist als mein Ich (vor allem größer als mein Ego!) und größer als meine begrenzten Möglichkeiten. Entgrenzte Freiheit; Freiheit, die an das Unendliche heranreicht. Wer seine Freiheit für die Wahrheit einsetzt, der ist wirklich frei – zumal, wenn er an Christus glaubt („Ich bin die Wahrheit und das Leben“, Joh 14,6). Wer frei ist, der kann loslassen, weil ihm die Wahrheit Halt gibt. „Die Wahrheit wird euch frei machen“, sagt Jesus ja auch (Joh 8,32). Wer eins ist mit der Wahrheit, ist wahrhaft frei. Freiheit ist „tun und lassen können“, vor allem lassen. Loslassen, gelassen sein, gelöst… – erlöst! Was wir Christen „Erlösung“ nennen, hat viel mit Freiheit zu tun. Das ist nichts Weltfremdes, definitiv nicht.

Die eigene Begrenzung überwinden, eins mit der Wahrheit sein, das Unendliche berühren – wenn wir die eingeforderten und in Anspruch genommenen, tatsächlichen oder vermeintlichen Freiheiten (auch die eigenen!) darauf hin einmal abklopfen, wird rasch klar, wo wir nur von „Freiheit“ reden und wo wirklich Freiheit ist.

Mich würde interessieren, was Greta dazu sagt.