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Ausgabe 05 Geschenk

Ganz schön (schwierig)

Lesedauer: ca. 4 Min.

Autor: Katharina Fassler | Illustration: Andrea Paro

Ganz schön (schwierig)

Jeder Mensch hat das Potential, das Schönste aus sich zu machen. Dafür muss man sich selbst annehmen können. Mit all den Makeln und Defiziten, die man empfindet. Das ist gar nicht so einfach. Aber man kann es lernen. Der Blick nach oben kann dabei hilfreicher sein als Botox. Gedankenanstöße.

Nächstes Jahr werde ich 40. In der Mitte des Lebens angekommen, schaut man nach vorne und blickt zurück. Da gibt es Themen, die begleiten einen seit langem. Mich selbst annehmen und wertschätzen können, ist so ein Thema. Offensichtlich geht das nicht nur mir so. Selbstannahme ist omnipräsent: Keine Frauenzeitschrift ohne Schönheitstipps, Unmengen an Frauenliteratur zu Selbstbewusstseinscoaching und Bodyoptimierung. Schön und selbstbewusst – bis ins hohe Alter: Alles kein Problem. Echt nicht? Meine Alltagserfahrung sieht anders aus. Ich erlebe viele Menschen, die sich sichtlich unwohl fühlen in ihrer Haut, die ihren Körper perfektionieren wollen oder noch als Erwachsene ständig Bestätigung von außen suchen. Manche sind enorm leistungsorientiert, um die innere Unzufriedenheit mit sich selbst durch äußere Anerkennung zu kompensieren.

Beschäftigt das eigentlich auch Männer?

Sich selbst annehmen, so wie man ist, mit all den äußeren und inneren Makeln, mit all den empfundenen Defiziten und Schönheitsfehlern, das beschäftigt offenbar vor allem Frauen. Befassen sich eigentlich auch Männer mit Selbstannahme? Waschbrettbauch, Muskeln, Umgang mit Wut, Ablehnung, Misserfolg… Themen gäbe es genug. Aber man hört nicht viel. Fällt es Männern leichter, sich selbst anzunehmen? Vielleicht. Oder sie geben ihre Schwierigkeiten einfach nicht so zu und sprechen nicht darüber. Was dann auch wieder so ein typisches Männer-Ding wäre, über das Mann sich mal Gedanken machen könnte. Für Frauen jedenfalls ist Selbstannahme ein Megathema. Und eines, das nie wirklich an ein Ende kommt.
Im Laufe der Zeit musste ich lernen, ganz unterschiedliche Dinge anzunehmen, zu akzeptieren, zu lieben und manchmal auch zu verändern. Angefangen mit der Annahme meines Körpers, meines Charakters, meiner Emotionen, meiner Lebensgeschichte, meiner Grenzen, bis hin zur Annahme meiner Entscheidungen.

Im Meer der Markenklamotten den eigenen Stil finden

Meine erste bewusste Auseinandersetzung mit dem Thema Selbstannahme begann mit der körperlichen Veränderung in der Pubertät. Wie ging das? Mich als Frau annehmen und eine positive Haltung zu meiner Weiblichkeit entwickeln, zu meiner Periode, meiner weiblichen Sensibilität und zu meinen Sichtweisen? Ich hatte das Glück, dass mir meine Mutter großen Freiraum ließ, meinen eigenen Stil zu entwickeln. Manchmal empfand ich den Freiraum als zu groß und hätte mir mehr Anleitung für einen modischen Stil gewünscht. Selbst das pinkfarbene Ballkleid aus dem Secondhandladen, das ich reaktionär auf dem Abiball trug, brachte mir eher bewundernde Blicke ob meines Mutes ein. Auf der anderen Seite mein Vater und meine Wiener Großmutter, die gerne mit mir loszogen, um mich schick einzukleiden. Meine Großmutter kaufte mir meinen ersten Hut. Es gab nichts Peinliches und keinen falschen Geschmack. Dazu hatte ich eine recht heterogene Peer Group, deren Zugehörigkeit nicht durch die gleichen Markenklamotten hergestellt wurde. Bis Mitte 20 habe ich mit meinem Stil herumexperimentiert. In den letzten 20 Jahren habe ich einen unkomplizierten, alltagstauglichen, bei Bedarf auch glamourösen Stil gefunden. Aber das war kein einfacher Weg.

Es geht nicht nur um Äußerlichkeiten

Sich selbst annehmen zu können, geht weit über Äußerlichkeiten hinaus. Selbstannahme ist untrennbar mit dem Körper verbunden, trifft aber einen inneren Kern des Menschen. Ich erinnere mich an jugendliche innere Unsicherheit und daran, wie ich diese Unsicherheit durch lautes Dröhnen nach außen übertönte. Irgendwann half mir eine geistliche Übung, die innere Beziehung zu mir stärker wahrzunehmen. Die Übung war einfach: An einem ruhigen Platz hin und wieder die Augen schließen und mir Gott als liebenden Vater, liebende Mutter vorstellen. Der Sinn dieser Übung bestand darin, mich darauf einzulassen, dass der wohlwollende, mich rundherum liebende Blick Gottes auf mir ruht. Auch im Studium war das ein tägliches Ritual, manchmal sogar in einer Kirche. Blickkontakt nach „oben“ suchen, sich bewusst machen: „Ich bin, so wie ich bin, durch und durch von Gott geliebt“: Das verändert die Sichtweise, das ändert die Eigenwahrnehmung. Dieser Blick nach oben half mir, mich bewusst wahrzunehmen, bei mir selbst zu bleiben und nicht mehr so sehr auf die anderen zu schauen.
Voraussetzung dafür, sich selbst annehmen zu können, ist das Wahrnehmen seiner selbst. Wer bin ich? Wie bin ich wirklich? Was spüre ich? Dabei können auch Atemübungen, Stimmübungen oder ein Body-Scan – ein inneres Durchgehen des Körpers – weiterhelfen. Was nicht wahrgenommen wird, kann auch nicht angenommen werden.

Sehe ich wirklich mich im Spiegel? Oder die, die ich gerne wäre?

Bevor wir uns selbst anschauen, werden wir angeschaut. Durch unsere Eltern. Wie hat meine Mutter auf mich geblickt? Wie ist der Blick des Vaters auf mich gewesen? War es ein liebender, ein hektischer, ein abwesender, ein wohlwollender oder ein verletzender Blick? Oder eine verletzende Tat? Da lohnt es sich, genauer hinzusehen. Wie blicke ich selbst auf mich? In manchen Fällen kann es notwendig sein, sich psychotherapeutische Unterstützung zu suchen oder mit geistlicher Begleitung an der spirituellen Perspektive zu arbeiten. Denn der innere Blick ist durch den Blick von außen mitgeprägt. Daher können auch die Medien einen starken Einfluss auf den Blick haben, mit dem wir uns im Spiegel anschauen. Sehe ich da wirklich mich oder sehe ich die, die ich gern sein würde, weil ich mich mit denen in den Medien vergleiche? Entfalte ich meine eigene Persönlichkeit oder passe ich mich Modeerscheinungen an?
Jeder Mensch hat das Potential, das Schönste aus sich zu machen, sei es körperlich, intellektuell oder emotional. Davon bin ich überzeugt!

Gedanken, die das Körpergefühl beeinflussen

Das beginnt mit der Wahrnehmung der gegebenen Tatsachen. Auf die Wahrnehmung folgt die Selbstannahme. Aus dieser liebevollen Annahme erwächst eine Kraft: Ich kann mich verändern. Ich kann mich mit einem liebenden Blick neu sehen lernen. Dankbarkeit, ein positiver, gütiger Blick auf mich und die Umwelt, mehr Lebensmut: All das hat konkrete Auswirkungen. Gute Gedanken beeinflussen nach und nach mein Körpergefühl. Und umgekehrt. Sanftheit und Behutsamkeit mir selbst gegenüber können körperliche und seelische Verhärtungen weich werden lassen.
Um seinen eigenen Stil entwickeln zu können, hilft es, sich mit Farben, Stoffen, Stilen zu beschäftigen, die zu der eigenen Persönlichkeit passen. Es lohnt, sich Zeit dafür zu nehmen. Auch mit professioneller Unterstützung. Wie entlastend, nicht jeder Mode hinterherrennen zu müssen oder sich vom Diktat der Masse uniformieren zu lassen. So kann man sich als einzigartige Person mit seiner unvergleichlichen Haut-, Haar- und Augenfarbe wertschätzen und seine Besonderheiten herausstellen. Auch ein paar Besuche bei einer Kosmetikerin habe ich im Nachhinein als hilfreich wahrgenommen, um ein positives Selbstgefühl zu entwickeln.
Sich als individuelle Persönlichkeit wahrzunehmen hat eine natürliche Grundlage. Besonders für Frauen ist es wichtig, biologische Vorgänge zu kennen und wertzuschätzen. Eine neuseeländische Studie der Universität Wellington fand heraus: Empfinden Frauen ihre Menstruation eher als etwas Negatives anstatt als Teil ihrer Weiblichkeit und Fruchtbarkeit, so sind psychische Verstimmungen eher möglich. Interessant ist auch die Studie des Markt- und Meinungsforschungsinstituts Ipsos, das 19.000 Personen im Alter von 18 bis 74 Jahren zu Schönheitsidealen und Körperpflege befragt hat. Demnach orientiert sich jede zweite Frau an den Schönheitstipps ihrer Mutter oder Freundin. Nur jede siebte holt sich Schönheitstipps aus Online-Videos oder von Instagram.

Jede Falte hat eine Bedeutung

Ab vierzig, so habe ich gehört, soll man an Falten, Mimik und Hautbeschaffenheit dem Menschen ansehen, wie sein Charakter, seine inneren Werte, seine Gedanken sind. Das gilt übrigens auch für Männer. Nach der traditionellen chinesischen Medizin hat jede Falte eine Bedeutung. Sie zeigt Laune, Temperament und Umgang mit den Herausforderungen des Lebens an. Sicher, dagegen kann man Botox spritzen. Aber das macht das Leben, das seine Spuren hinterlässt, im Nachhinein nicht schöner. Das Gesicht dafür umso lebloser. Ist nicht die eine oder andere Falte wie eine Landkarte der Kämpfe, die es zu bestehen gab und eher Auszeichnung als zu verheimlichende Peinlichkeit?
Ich finde es anstrengend, mir immer wieder neu Gedanken darüber machen zu müssen, welche Farbe ich meinen Haaren gebe, ob ich mir noch ein Tattoo stechen lasse oder ob es monatlich eine neue Lidschattenfarbe sein muss. Wenn ich mich geliebt fühle wie ich bin, dann brauche ich keine ständige äußerliche Selbstvergewisserung. Im besten Fall weiß ich tief in mir drin, dass ich schön bin und jeder Mensch schön sein kann. Diese individuelle Schönheit ist ein Geschenk, das ich annehmen darf. Gelingt mir das, bin ich nicht darauf angewiesen, mich krampfhaft aufzuhübschen. Die Ipsos-Studie hat auch herausgefunden, dass 65 Prozent der in Deutschland Befragten Frauen dann als schön empfinden, wenn diese humorvoll sind. 64 Prozent, wenn sie selbstbewusst sind. 63 Prozent, wenn sie intelligent sind. Make-Up, der Status oder körperliche Merkmale sind weitaus weniger relevant.
Es ist sinnvoll, darüber nachzudenken, an was es sich zu arbeiten lohnt. Vielleicht meine Einstellung, Gewicht, Ernährung, Bildung, Routinen, Denkmuster oder falsche Gewohnheiten? Und man sollte genau hinschauen: Wo habe ich bereits resigniert? Ist das wirklich unveränderbar? Wichtig ist aber auch, zu lernen, was man akzeptieren sollte. Ach, und es ist keine Schande, sich helfen zu lassen: beim Körpertherapeuten, Sprecherzieher, Ehe-Lebens-Familienberater, einem Farb- und Stilberater oder durch Sport. Eine Schande ist es, unzufrieden, unglücklich oder gar resigniert zu sein mit einem Teilaspekt in seinem Leben und sich nicht helfen zu lassen, zu verdrängen, zu vertuschen, zu ignorieren. Dafür sind wir nicht auf der Welt. Denn jeder Mensch ist als Tempel Gottes zur Fülle des Lebens berufen.