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Lesedauer: ca. 4 Min.

Erzählt von Joachim Sina | Fotos: Familienbesitz Sina

Meine Schwester

Ich habe eine Geschichte zu erzählen. Die Geschichte des Lebens meiner Schwester. Meiner älteren Schwester, knapp 13 Monate älter als ich. Ihre Geschichte ist ein wichtiger Teil meiner Geschichte, denn wir waren schon als kleine Kinder sehr eng verbunden und sind es immer geblieben. Die Geschichte des Lebens meiner Schwester erfüllt mich mit Freude, mit ihrem Lachen, ihrer kindlichen Fröhlichkeit, ihrem Mut und ihrem großen Kampfgeist, wann immer ich an sie denke.

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Ich lasse die Geschichte, die ich zu erzählen habe, am Tag ihrer Beerdigung beginnen. Mit den Worten, die ich in meiner Erschütterung in der Kapelle für sie sprach: „Der liebe Gott hat Dich schwer geprüft. Trotzdem hast Du fest an ihn geglaubt. Dafür hat er Dir den schönsten Platz im Himmel reserviert.“ Ihr Tod ist nun bald zehn Jahre her. Mein Leben ist weitergegangen und wird weitergehen, reich gesegnet an Kindern, Liebe, Gesundheit und Glück.

Je älter ich werde, desto mehr begreife ich, wie sehr ich vom ersten Tag an durch das Leben mit dieser Schwester geprägt wurde. Wie dankbar ich dafür bin. Wie stolz ich auf sie bin. Welch ein Geschenk ihr Leben für mich war und ist. Gesund geboren, gesund aufgewachsen – das ist für die meisten Menschen normal. Durch das Aufwachsen mit meiner Schwester war es bei mir anders. Ab dem Beginn meines bewussten Lebens wusste ich, dass sie anders war als ich und die anderen Kinder. Sie konnte nicht gehen. Ihre Beine sahen anders aus als bei anderen Kindern. Sie konnte sie nicht bewegen. Sie war von der Brust an abwärts gelähmt.

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Schwere Operationen, fast immer auf Leben und Tod

Als wir klein waren, fand ich es normal. Ich konnte laufen, sie hatte Räder. Ich schob sie. Überall dorthin, wo ich hinlief. Wir hatten eine fröhliche Kindheit. Eine innige Beziehung. Teilten uns das Kinderzimmer. Doch von Anfang an gehörten auch Trennungen zu unserem Leben. Immer wieder musste meine fröhliche Schwester wochenlang in Krankenhäusern sein, wo sie schwere Operationen über sich ergehen lassen musste. Oft in anderen Städten. Meist am offenen Schädel. Fast immer auf Leben und Tod.

Dann kam die Schule. Ich ging auf eine andere Schule als sie. In ihrer Schule waren alle Kinder behindert. So sahen wir uns an den Nachmittagen und genossen unsere Unbeschwertheit.

Später wurde das Leben komplizierter für uns beide. Wir kamen in die Pubertät. Mein Radius hatte sich über die Jahre stets vergrößert. Ich streifte mit anderen Jungs durch den Wald, zog mit dem Fahrrad immer größere Kreise um das Elternhaus. Fuhr mit dem Bus zur Schule in die Innenstadt. Die gemeinsamen Stunden wurden weniger. Meine Schwester konnte hier nicht mit, verbrachte stattdessen viel Zeit am Klavier oder immer wieder auch in Krankenhäusern und Reha-Einrichtungen.

Rauchen, Bier und Rock 'n' Roll: Da kam sie nicht mehr mit

Die Pubertät brachte ihr die ersten schweren Depressionen. Mir die ersten unerfüllten Lieben zu Mädchen, aber auch Anflüge von Gewissensbissen. Warum sie und nicht ich? Wie viel Glück darf ich empfinden? Wie sehr darf ich mein Leben leben und sie zurücklassen?

Vieles von dem, was ich trieb, stieß plötzlich auf ihr Unverständnis. Heimliches Rauchen, Bier trinken, Rock ‘n’ Roll und lange Haare, Ablösung vom Elternhaus. Da kam sie nicht mehr mit. Dafür war sie zu sehr in ihrem Körper gefangen. Damit beschäftigt, zu überleben, die permanenten Schmerzen zu ertragen, die immer stärker wurden und nie mehr verschwinden würden.

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Ich machte Abitur, sie hatte die Schule nicht beendet können, wegen der häufigen langen Unterbrechungen durch lebensnotwendige medizinische Eingriffe. Und weil ihr Körper von Jahr zu Jahr gebrechlicher wurde, sie schon als junge Erwachsene nur noch wenige Stunden am Stück sitzen konnte, weil dann die Schmerzen überhandnahmen. Ich nahm sie mit auf nächtliche Kneipentouren. Später zu ihrer ersten und einzigen Flugreise, nach Barcelona.

Ihr Leben war immer mehr Schmerz und Verzweiflung geworden. Angst vor dem Tod, irgendwann auch immer wieder Sehnsucht nach Erlösung. Als junge Erwachsene hielten wir telefonisch Kontakt, oft täglich. Ich war ein junger Ehemann, junger Vater, junger Unternehmer. Sie ein schwerer Pflegefall. Urinbeutel, Rollstuhl, Krankenbett in der Wohnung. Ich besuchte sie, wenn ich in der Stadt war. Sie ließ mich teilhaben an ihrem Leiden. Und freute sich über mein Glück. Manchmal sagte sie dann: „Ich wünschte, wir könnten tauschen.“ Und manchmal wünschte ich es mir auch. Um diesen Wunsch dann schnell wieder beiseite zu wischen und mir einzugestehen, dass er wahrscheinlich nur aufkam, weil klar war, dass er niemals Realität werden würde. Als Kind hatte ich oft gebetet, dass sie laufen könne und ich dafür nicht. Aber jetzt waren wir Erwachsene.

Ihr Leiden, ihr Unvermögen hatten sie früher reifen, aber auch früher altern lassen. Aber sie versuchte immer fröhlich zu bleiben, Witzchen zu reißen, der Begegnung eine humorvolle Wendung zu geben. Sie war auf gewisse Weise Kind geblieben. Kindlich war auch ihr Humor. Sie liebte Slapstick, liebte Kinder und auch ihre Pointen waren die unserer Kindheit geblieben.

Wer wäre ich ohne sie?

Ihr Leben und Leiden hatten meine Entwicklung beeinflusst. Mein Optimismus, meine Fähigkeit, Glück zu empfinden und zu teilen, Liebe zu geben – all das hing irgendwie auch mit ihr zusammen. Ich wusste, dass ich ohne das Aufwachsen mit meiner Schwester ein anderer Mensch geworden wäre. Vielleicht jemand, dem Aufmerksamkeit und Bestätigung wichtiger gewesen wären. Jemand, der nicht so leicht „Ja“ sagen kann zum Leben, zu anderen Menschen.

Irgendwann in unseren Dreißigern besuchte ich sie häufig in einer Klinik, in der sie Monate in Quarantäne verbringen musste, weil sie sich bei einer vorherigen Operation multiresistente Keime eingefangen hatte, die nun drohten, Herz und Gehirn zu befallen. Keine Klinik hatte sie aufnehmen wollen – bis auf diese, etwa zwei Stunden von unserer Heimatstadt entfernt. Zutritt nur in Ganzkörper-Schutzanzügen, direkter Körperkontakt nicht möglich. Ihr Überleben wieder einmal ungewiss. In dieser Zeit wurde mir endgültig klar, dass die Tapferkeit, die Zuversicht, mit der meine Schwester auch diesen Rückschlag hinnahm, mir für den Rest meines Lebens ein Beispiel sein würden. Dass ich durch ihr Beispiel gewappnet sein und keine Angst mehr vor Krankheit und Tod haben würde. Das Geschenk, ein gesunder Mensch zu sein, hatte sich mir endgültig in seiner ganzen Kostbarkeit, aber auch bedingungslosen Selbstverständlichkeit offenbart. Ich war mir darüber klar geworden, welch einzigartiges Beispiel meine Schwester mir mit ihrer Haltung gegeben, ja geschenkt hatte. Und ich wusste in diesem Moment, dass dies ihr Vermächtnis an mich sein würde.

Ihren 40. Geburtstag konnte sie „in Freiheit“ feiern. Ich nutzte diese Gelegenheit, um im Kreise der Gäste ihre unglaubliche Lebensleistung und deren Bedeutung für mich und andere in einer Ansprache zu würdigen.

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Leben als Geschenk

Schon zu ihren Lebzeiten habe ich darüber nachgedacht, ob sie ihr Leben wohl als Geschenk empfunden hat. Wir haben innige, schwere und zugleich beglückende Momente gehabt, in denen wir uns auf dieses schwierige Terrain wagen konnten. Natürlich liegt in der Möglichkeit, ihre Geschichte zu erzählen, auch die Gefahr, es nachträglich zu verklären. Ihr Leid zu beschreiben ist nicht möglich, da ich es nicht ermessen kann. Aber ich weiß, dass sie gerne gelebt hat, auch wenn es immer wieder Phasen größter Verzweiflung gab. „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ – das hat sie nie gefragt. Großen Trost hat sie nicht nur aus dem Glauben gezogen, sondern auch aus der Musik und der Kunst. Sie kannte und liebte alle klassischen Komponisten und konnte zu jedem Konzert nach wenigen Sekunden des Hörens den Komponisten und dessen Geburtsjahr benennen. Trotz der Behinderung ihrer linken Hand spielte sie Klavier und malte Aquarelle.

Mein Leben wäre ohne das ihre für mich nicht vorstellbar. Meine Wertschätzung für dieses Geschenk, meine tiefe Dankbarkeit dafür haben in den bald zehn Jahren ohne meine Schwester nicht nachgelassen, sind nicht verblasst. Die Erinnerung an sie, meine Liebe zu ihr, mein tiefer Respekt vor ihr werden mich den Rest meines Lebens begleiten und tragen.

SCHWESTER

Meine Schwester wurde 1965 als erstes von vier Kindern geboren. Sie kam mit offenem Rücken zur Welt und war demzufolge querschnittsgelähmt. Die Lebenserwartung wurde damals mit 14 Jahren prognostiziert. Die Entwässerung des Schädels funktionierte nicht und musste Zeit ihres Lebens von Pumpen und Schläuchen übernommen werden, die im Kopf und Körper eingesetzt wurden, aber häufig versagten. Durch den zu hohen Hirndruck litt sie oft an rasenden Kopfscherzen; die Vorrichtungen mussten immer wieder herausoperiert und durch neue ersetzt werden. Der offene Rücken verkrümmte sich im Laufe der Jahre immer weiter, bis das Brustbein auf dem Hüftknochen aufsaß. Dadurch wurden die inneren Organe stark beeinträchtigt, das Lungenvolumen betrug nur noch 20 Prozent. Die linke Hand war von Geburt an behindert. 

2010 starb meine Schwester durch einen Unfall.