- Autor: Tobias Liminski
- Fotos: Bernhard Spoettel
- Redaktionelle Mitarbeit: Markus Reder
Victoria und Raphael Bonelli im Grandios Interview
Wenn wir von Frieden sprechen, denken wir meist an die großen Kriegs- und Konfliktregionen. Wie aber steht es um den Frieden in unserer engsten Umgebung: in der Familie, in der Beziehung, in uns? Hier können wir selbst Einfluss nehmen. Wie gelingt das? GRANDIOS hat nachgefragt beim Ehepaar Victoria und Raphael Bonelli. Victoria Bonelli ist erfolgreiche Autorin und Mutter von sechs Söhnen. Raphael Bonelli ist Psychiater und Neurowissenschaftler. Ein Gespräch über den richtigen Umgang mit heißer und kalter Wut, warum Meinungsverschiedenheiten ein Glücksfall sind und Kommunikation keine Frage der richtigen Technik ist.
GRANDIOS: Friede ist ein großes Wort. Was aber ist Frieden genau? Wie würden Sie Frieden definieren?
Raphael Bonelli
Friedfertigkeit ist eine Haltung, die zu einem gewissen Grad gegen unsere Neigung geht. Wir haben eine Neigung zum Bösen in uns. Streit kommt von selbst. Frieden muss man erarbeiten. Darum ist es wichtig, dass Kinder lernen, zu verzeihen, Nachsicht zu üben und nachzugeben. Das sind Voraussetzungen für ein friedliches Miteinander. Das muss man einüben und zwar von klein auf. Aus einer friedlichen Familie kommen friedliche Menschen. Es heißt nicht umsonst, die Familie ist die Keimzelle der Gesellschaft. Das zeigt sich auch beim Thema Frieden.
Victoria Bonelli
Politisch betrachtet ist Frieden die Abwesenheit von Krieg. Aber Frieden hat für mich einen viel größeren Stellenwert. Ich glaube, den wahren Frieden finden wir erst im Himmel. Aber wir können ihn hier schon spüren. Mir scheint allerdings: Je näher uns eine Person steht, desto schwieriger ist es, mit ihr in Frieden zu leben. Mit einer guten Freundin ist es noch relativ einfach. Die beste Freundin wechselt man heutzutage nicht so häufig wie den Ehemann. Beim Ehepartner ist man viel mehr herausgefordert. Wer sich sehr nahe ist, kennt den anderen auch mit all seinen negativen Seiten. Diese anzunehmen und zu lernen, damit umzugehen, das ist die Königsdisziplin, um Frieden zu haben. Man muss ständig daran arbeiten, damit das gelingt.
Haltungen sind nicht einfach drin im Menschen. Man kann sie lernen oder sich erarbeiten. Dazu muss man die „Schwelle der Bequemlichkeit“ überwinden.
Raphael Bonelli
Raphael Bonelli
Victoria Bonelli
Auch der gesellschaftliche Einfluss spielt eine Rolle. Als Mutter von sechs Kindern höre ich immer: „Wann machst du mal was für dich? Bleibt überhaupt noch Zeit für dich? Du musst doch an dich denken!“ Selbstverständlich geht es nicht darum, sich selbst auszubeuten. Es geht um Hingabe. Das ist etwas völlig anderes. Für mich wäre es schlimmer, wenn ich voll im Berufsalltag eingespannt wäre und meine Kinder nicht selbst betreuen könnte, sondern abgeben müsste. Das wäre für mich Selbstaufgabe. In unserer Gesellschaft wird den Frauen häufi ger als den Männern gesagt, was sie zu tun haben. Das ist sehr schade. Ich bin ein Freund der Freiheit. Wenn es für mich wertvoll ist, sich für die Familie hinzugeben, dann möchte ich die Freiheit haben, das auch tun zu können.
Raphael Bonelli
Man muss unterscheiden zwischen Meinungsverschiedenheit und Streit. Unterschiedlicher Meinung zu sein, ist normal. Wenn aus Nichtigkeiten Streit wird und viel negative Emotionalität im Spiel ist, die den anderen verletzt, das ist etwas anderes. Dann wirft man sich gegenseitig vor, was einen schon immer am anderen gestört hat. Das sorgt für destruktive Eskalation. Jeder ist emotional so betroffen, dass er zurückschlägt. Dann herrscht „Krieg“.
Das muss nicht sein. Weibliche und männliche Sichtweisen sind oft sehr verschieden, aber dennoch kompatibel. Wenn man respektvoll miteinander umgeht und beide Sichtweisen zusammenbringt, entsteht ein Gesamtbild, das jeder für sich nicht hätte. Zwei Einäugige könnten ihre beschränkte Sicht durch die Perspektive des anderen ergänzen, um gemeinsam besser zu sehen. Damit das gelingt, braucht es eine gemeinsame Haltung, ein Bewusstsein dafür, dass mir meine Frau bzw. mein Mann etwas zu sagen hat. Gemeinsam kann man zu einer neuen Sichtweise kommen, die jeder für sich nicht hätte. Deswegen sind Meinungsverschiedenheiten kein Streit, sondern der Boden für eine fruchtbare Auseinandersetzung mit der Sache.
Einfach mal "die Klappe halten"
Victoria Bonelli
GRANDIOS: Wie wichtig ist dabei Kommunikation?
Victoria Bonelli
Raphael Bonelli
Victoria Bonelli
Raphael Bonelli
Der Mensch ist freier, als er denkt, besonders, wenn er seine Freiheit in die Hand nimmt.
Raphael Bonelli
GRANDIOS: Jeder bringt in eine Beziehung auch seine Lebensgeschichte mit und damit auch seine Verletzungsgeschichten. Macht das Beziehungen anfällig für Unfrieden?
Victoria Bonelli
„Ich bin traumatisiert, deswegen muss ich mich so verhalten.“ – Von dieser Einstellung halte ich wenig. Das spricht dem Menschen die Freiheit ab. Wir alle sind mehr oder weniger traumatisiert von irgendetwas in unserer Kindheit oder Jugend. Wir leben auf einer gefallenen Welt. Natürlich gibt es schwere Fälle, die der Aufarbeitung bedürfen. Aber wichtig ist eine Einstellung, die sagt: Ja, mir sind Sachen passiert, aber jetzt nehme ich mein Leben in die Hand und arbeite mit dem, was mir gegeben wurde – dem Negativen wie dem Positiven. Das ist vernünftiger und vor allem ein zielführender Umgang mit der Vergangenheit.
Raphael Bonelli
Ich muss mir von meinen Gefühlen nicht alles Gefallen lassen.
Raphael Bonelli
Victoria Bonelli
Das Schöne ist, dass man Gefühle beeinflussen kann. Wenn man zum Beispiel Antipathie gegen jemand empfindet, kann man dagegen arbeiten. Die Gefühle folgen dem Herzen. Ich muss nicht bei dem Unrecht, das mir geschehen ist, stehen bleiben. Ich darf mich davon befreien und mein Leben selbst in die Hand nehmen.
Raphael Bonelli
Man kann Gefühle nicht willentlich beeinflussen. Aber ich kann sie indirekt beeinflussen, indem ich anders handle. Wenn ich jemanden nicht mag, aber dennoch immer freundlich bin, überwindet man die Antipathie durch die Haltung des Herzens. Das Herz ist prinzipiell stärker als der Bauch. Das ist eine wichtige Erkenntnis der modernen Psychologie. Es unterstreicht die Freiheit des Menschen. Sigmund Freud dachte noch, der Mensch sei vollkommen unfrei und seinen Gefühlen meist hilflos ausgeliefert. Das stimmt nicht. Ich kann mich an den Werten meines Herzens orientieren und danach handeln, auch wenn mein Bauchgefühl mir gerade etwas anderes sagt.
Victoria Bonelli
GRANDIOS: Was ist die Voraussetzung dafür?
Victoria Bonelli