Beziehungsfrieden statt Beziehungsfrust – Victoria und Raphael Bonelli

"Einfach mal die Klappe halten" – der Psychiater Raphael Bonelli und seine Frau Victoria im Gespräch
Ehepaar Victoria und Raphael Bonelli Grandios Magazin

Victoria und Raphael Bonelli im Grandios Interview

Wenn wir von Frieden sprechen, denken wir meist an die großen Kriegs- und Konfliktregionen. Wie aber steht es um den Frieden in unserer engsten Umgebung: in der Familie, in der Beziehung, in uns? Hier können wir selbst Einfluss nehmen. Wie gelingt das? GRANDIOS hat nachgefragt beim Ehepaar Victoria und Raphael Bonelli. Victoria Bonelli ist erfolgreiche Autorin und Mutter von sechs Söhnen. Raphael Bonelli ist Psychiater und Neurowissenschaftler. Ein Gespräch über den richtigen Umgang mit heißer und kalter Wut, warum Meinungsverschiedenheiten ein Glücksfall sind und Kommunikation keine Frage der richtigen Technik ist.

GRANDIOS: Friede ist ein großes Wort. Was aber ist Frieden genau? Wie würden Sie Frieden definieren?

Raphael Bonelli

Friedfertigkeit ist eine Haltung, die zu einem gewissen Grad gegen unsere Neigung geht. Wir haben eine Neigung zum Bösen in uns. Streit kommt von selbst. Frieden muss man erarbeiten. Darum ist es wichtig, dass Kinder lernen, zu verzeihen, Nachsicht zu üben und nachzugeben. Das sind Voraussetzungen für ein friedliches Miteinander. Das muss man einüben und zwar von klein auf. Aus einer friedlichen Familie kommen friedliche Menschen. Es heißt nicht umsonst, die Familie ist die Keimzelle der Gesellschaft. Das zeigt sich auch beim Thema Frieden.

Victoria Bonelli

Politisch betrachtet ist Frieden die Abwesenheit von Krieg. Aber Frieden hat für mich einen viel größeren Stellenwert. Ich glaube, den wahren Frieden finden wir erst im Himmel. Aber wir können ihn hier schon spüren. Mir scheint allerdings: Je näher uns eine Person steht, desto schwieriger ist es, mit ihr in Frieden zu leben. Mit einer guten Freundin ist es noch relativ einfach. Die beste Freundin wechselt man heutzutage nicht so häufig wie den Ehemann. Beim Ehepartner ist man viel mehr herausgefordert. Wer sich sehr nahe ist, kennt den anderen auch mit all seinen negativen Seiten. Diese anzunehmen und zu lernen, damit umzugehen, das ist die Königsdisziplin, um Frieden zu haben. Man muss ständig daran arbeiten, damit das gelingt.

Ehepaar Victoria und Raphael Bonelli Grandios Magazin im Interview

Haltungen sind nicht einfach drin im Menschen. Man kann sie lernen oder sich erarbeiten. Dazu muss man die „Schwelle der Bequemlichkeit“ überwinden.

GRANDIOS: Sie sprachen von der Familie als Lernort für ein friedliches Miteinander. Familie kann aber auch der reinste „Kampfplatz“ sein. Warum leben manche Familien und Paare wie im „Kriegszustand“?

Raphael Bonelli

Als Psychiater erlebe ich jeden Tag, was Menschen einander antun. Ich kann nur sagen: Wir werden gemeinsam glücklich oder gemeinsam unglücklich. Es gibt Paare, die machen sich gegenseitig unglücklich. Man zeigt mit dem Finger auf den anderen und fordert: „Du musst dich ändern, dann funktioniert alles.“ Das ist ein Fehler. So funktioniert es eben nicht. Es geht um Lernprozesse. Auch den respektvollen Umgang miteinander muss man lernen. Das beginnt bei der Erziehung. Was man von klein auf lernt, trägt später im Großen Früchte. Bestimmte Haltungen sind nicht einfach drin im Menschen. Man kann sie lernen oder sich erarbeiten. Dazu muss man die „Schwelle der Bequemlichkeit“ überwinden. Man muss aufhören, ständig um sich selbst zu kreisen. Das ist auch eine Frage der Entscheidung. Wer sich nicht um seine Ehe bemüht und bereit ist, um den Frieden zu kämpfen, wird gemeinsam unglücklich.

Victoria Bonelli

Auch der gesellschaftliche Einfluss spielt eine Rolle. Als Mutter von sechs Kindern höre ich immer: „Wann machst du mal was für dich? Bleibt überhaupt noch Zeit für dich? Du musst doch an dich denken!“ Selbstverständlich geht es nicht darum, sich selbst auszubeuten. Es geht um Hingabe. Das ist etwas völlig anderes. Für mich wäre es schlimmer, wenn ich voll im Berufsalltag eingespannt wäre und meine Kinder nicht selbst betreuen könnte, sondern abgeben müsste. Das wäre für mich Selbstaufgabe. In unserer Gesellschaft wird den Frauen häufi ger als den Männern gesagt, was sie zu tun haben. Das ist sehr schade. Ich bin ein Freund der Freiheit. Wenn es für mich wertvoll ist, sich für die Familie hinzugeben, dann möchte ich die Freiheit haben, das auch tun zu können.

GRANDIOS: Aber selbst in Familien, die sich um einen respekt- und liebevollen Umgang mühen, kommt es zu Streitigkeiten und Unfrieden. Warum sind es häufi g die gleichen Punkte, an denen sich Streit und Konflikte entzünden?
Ehepaar Victoria und Raphael Bonelli im Gespräch mit Tobias Liminski für die Grandios Ausgabe Frieden

Raphael Bonelli

Man muss unterscheiden zwischen Meinungsverschiedenheit und Streit. Unterschiedlicher Meinung zu sein, ist normal. Wenn aus Nichtigkeiten Streit wird und viel negative Emotionalität im Spiel ist, die den anderen verletzt, das ist etwas anderes. Dann wirft man sich gegenseitig vor, was einen schon immer am anderen gestört hat. Das sorgt für destruktive Eskalation. Jeder ist emotional so betroffen, dass er zurückschlägt. Dann herrscht „Krieg“. 

Das muss nicht sein. Weibliche und männliche Sichtweisen sind oft sehr verschieden, aber dennoch kompatibel. Wenn man respektvoll miteinander umgeht und beide Sichtweisen zusammenbringt, entsteht ein Gesamtbild, das jeder für sich nicht hätte. Zwei Einäugige könnten ihre beschränkte Sicht durch die Perspektive des anderen ergänzen, um gemeinsam besser zu sehen. Damit das gelingt, braucht es eine gemeinsame Haltung, ein Bewusstsein dafür, dass mir meine Frau bzw. mein Mann etwas zu sagen hat. Gemeinsam kann man zu einer neuen Sichtweise kommen, die jeder für sich nicht hätte. Deswegen sind Meinungsverschiedenheiten kein Streit, sondern der Boden für eine fruchtbare Auseinandersetzung mit der Sache.

Einfach mal "die Klappe halten"

GRANDIOS: Wie wichtig ist dabei Kommunikation?

Victoria Bonelli

Kommunikation ist irrsinnig wichtig – in jeder Beziehung, aber besonders in der Ehe. Die Frage ist allerdings: Wann ist der richtige Zeitpunkt, um etwas anzusprechen? Es geht ja nicht darum, seine Meinung durchzusetzen oder den anderen niederzubrüllen. Oft sind Stresssituationen Auslöser für emotionale Ausbrüche. Wenn Emotionen hochkommen, habe ich gelernt: Das Beste ist, einfach mal die Klappe halten. Wenn man sich ärgert, muss man das nicht sofort seinem Partner sagen. Ein kluger Ehepartner merkt auch so: Wenn seine Frau schweigsam wird, dann beschäftigt sie etwas. Wenn er klug ist, bohrt er nicht nach, sondern sagt sich: Okay, wir sind jetzt auf heiklem Terrain. Bemühen wir uns, das Schiff durch die hohen Wellen zu lenken. Wenn das Wasser sich beruhigt hat, kommt der Punkt, die Dinge anzusprechen. Im Zorn sagt man Dinge, von denen man sich im Nachhinein denkt, das hätte man nicht tun sollen.

Raphael Bonelli

Gefühle sind manchmal sehr gefährlich. Wenn man eine gewisse Aggressivität in sich spürt, ist es gut, diese Emotion wahrzunehmen, aber nicht sofort ins Sprechen zu gehen. Es muss eben nicht immer alles raus. Im Gegenteil. „Alles muss raus“ macht alles kaputt. Man kann ein Gefühl aushalten, um den anderen nicht zu verletzen. Wenn die Wut abgekühlt ist, dann muss gesprochen werden.

Victoria Bonelli

Das kann ruhig zwei, drei Tage dauern. Mir hilft es, wenn ich merke, die Emotionen haben sich beruhigt. Dann ist es sinnvoll, zu überlegen: Was hat mich geärgert und warum? Was muss sich ändern, damit das in Zukunft nicht mehr passiert? Oder war ich einfach nur schlecht drauf oder gestresst? Wenn ich spüre, es gibt etwas zu sagen, dann fasse ich das manchmal schriftlich in zwei, drei Sätzen zusammen.

Raphael Bonelli

Kommunikation ist keine Frage der Technik. Der Kommunikation vorgelagert ist die innere Haltung. Das heißt: Bin ich bereit einzusehen, dass ich nicht immer recht habe? Dass ich, besonders wenn es emotional wird, die Dinge nur selten differenziert sehe? Bin ich mir bewusst, dass Wut prinzipiell eher Unrecht hat und ich mich deswegen zurücknehmen muss? Die Wertschätzung des Gegenübers muss der Kommunikation vorangestellt sein, sonst wird Kommunikation künstlich. Es braucht eine Haltung, die den anderen wertschätzt: Du hast mir etwas zu sagen. Du bist wertvoll. Du weißt vieles besser als ich. Du siehst mit deinem Blick Dinge, die ich nicht sehe. Wir können uns durch unsere unterschiedlichen Sichtweisen gegenseitig ergänzen und bereichern. Wenn man erfahren hat, dass das funktioniert, lässt sich viel Streit vermeiden.

Der Mensch ist freier, als er denkt, besonders, wenn er seine Freiheit in die Hand nimmt.

GRANDIOS: Jeder bringt in eine Beziehung auch seine Lebensgeschichte mit und damit auch seine Verletzungsgeschichten. Macht das Beziehungen anfällig für Unfrieden?

Victoria Bonelli

„Ich bin traumatisiert, deswegen muss ich mich so verhalten.“ – Von dieser Einstellung halte ich wenig. Das spricht dem Menschen die Freiheit ab. Wir alle sind mehr oder weniger traumatisiert von irgendetwas in unserer Kindheit oder Jugend. Wir leben auf einer gefallenen Welt. Natürlich gibt es schwere Fälle, die der Aufarbeitung bedürfen. Aber wichtig ist eine Einstellung, die sagt: Ja, mir sind Sachen passiert, aber jetzt nehme ich mein Leben in die Hand und arbeite mit dem, was mir gegeben wurde – dem Negativen wie dem Positiven. Das ist vernünftiger und vor allem ein zielführender Umgang mit der Vergangenheit.

Raphael Bonelli

Viele Menschen meinen: Meine Kindheit war schwer, deswegen ist das jetzt so und so. Solche Kausalitäten sind gefährlich. Das nimmt einem die Freiheit und führt in eine Opferrolle, aus der man nicht mehr herauskommt. Tatsache ist, man kann auch mit einer schweren Behinderung ein glücklicher und guter Mensch sein. Als Mensch kann man bis zu einem gewissen Grad an sich arbeiten, auch an seinem Charakter. Man kann sich weiterentwickeln. Das Gegenteil davon ist Verbitterung. Verbitterung bedeutet: Ich bin in Unfrieden mit meiner Vergangenheit. Ich gebe einem Ereignis die Schuld an meinem jetzigen Unglück. Solche Verbitterung ist eine psychiatrische Störung. Der Mensch ist freier, als er denkt, besonders, wenn er seine Freiheit in die Hand nimmt. Ich muss nicht nach meinen Launen und Gefühlen leben. Ich muss mir von meinen Gefühlen nicht alles gefallen lassen. Ich kann auch ausbrechen aus einem Streit, indem ich mir sage: Ich bin zwar wütend, aber ich sage jetzt erstmal nichts.

Ich muss mir von meinen Gefühlen nicht alles Gefallen lassen.

Ehepaar Victoria und Raphael Bonelli aus der Grandios Ausgabe Frieden

Victoria Bonelli

Das Schöne ist, dass man Gefühle beeinflussen kann. Wenn man zum Beispiel Antipathie gegen jemand empfindet, kann man dagegen arbeiten. Die Gefühle folgen dem Herzen. Ich muss nicht bei dem Unrecht, das mir geschehen ist, stehen bleiben. Ich darf mich davon befreien und mein Leben selbst in die Hand nehmen.

Raphael Bonelli

Man kann Gefühle nicht willentlich beeinflussen. Aber ich kann sie indirekt beeinflussen, indem ich anders handle. Wenn ich jemanden nicht mag, aber dennoch immer freundlich bin, überwindet man die Antipathie durch die Haltung des Herzens. Das Herz ist prinzipiell stärker als der Bauch. Das ist eine wichtige Erkenntnis der modernen Psychologie. Es unterstreicht die Freiheit des Menschen. Sigmund Freud dachte noch, der Mensch sei vollkommen unfrei und seinen Gefühlen meist hilflos ausgeliefert. Das stimmt nicht. Ich kann mich an den Werten meines Herzens orientieren und danach handeln, auch wenn mein Bauchgefühl mir gerade etwas anderes sagt.

Victoria Bonelli

Frieden kann ich nur stiften und in mein Umfeld ausstrahlen, wenn ich ihn in mir selbst trage.

GRANDIOS: Was ist die Voraussetzung dafür?

Victoria Bonelli

In Familie, Beziehung oder Beruf die Aufgabe gefunden zu haben, die einen zufrieden macht. Zufriedenheit trägt Frieden in sich. Es geht im Leben nicht darum, ein paar Menschen zufriedenzustellen, sondern um diese grundlegende Zufriedenheit. Mein Hauptjob ist nicht, meine Kinder zufrieden zu machen, sondern sie zu guten, lebenstüchtigen Menschen zu erziehen. Das impliziert auch Frustration. Meinen Kindern gefällt nicht immer alles, was ich von ihnen verlange. Wer räumt schon gerne auf? Aber ich weiß als Mutter, was meine Aufgabe ist und sehe tiefen Sinn darin. Das macht zufrieden. Zufriedenheit erwächst aus dem Tun der richtigen Dinge.
GRANDIOS: Liebe Victoria, lieber Raphael Bonelli! Ganz herzlichen Dank für das informative Gespräch!

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