„Dein Wille geschehe“ – Thomas Rusche

Schlimmste Tiefschläge, aber in Frieden – Geht das? Thomas Rusche – Porträt eines modernen Hiob
Seitenprofil von Thomas Rusche für das Interview über Frieden aus der Grandios Zeitschrift

Thomas Rusche im Grandios Interview

Unternehmen bankrott, Kunstsammlung futsch, Tochter tot. Der Philosoph, Unternehmer und Kunstexperte Thomas Rusche zeigt, dass man all das nicht bloß überleben, sondern auch, wie man damit „Frieden machen“ kann. Porträt eines modernen Hiobs.

Es zählt zu den bedeutendsten Werken der Weltliteratur: Das Buch Hiob, auch Job oder Ijob genannt, erzählt die Geschichte eines gottesfürchtigen und wohlhabenden Mannes, der binnen kurzem beinah alles verliert: Kinder, Reichtum, Gesundheit, nur den Glauben an Gott nicht. Im Alten Testament findet es sich zwischen dem zweiten Buch der Makkabäer und den Psalmen. Etliche Schriftsteller, Maler und Musiker hat der mehr als 2.200 Jahre alte Text zu bedeutenden Werken inspiriert.

Angefangen bei Lothar von Braunschweig (1275-1335) bis zu Joseph Roth (1894-1939) über William Blake (1757-1827) und Oskar Kokoschka (1886-1980), von Ralph Vaughan Williams (1872-1958) bis zu Krzysztof Penderecki (1933-2020). Für seine Bibelillustrationen tauchte Marc Chagall (1887-1985) Hiob zweimal in Grün – die Farbe der Hoffnung.

In Berlin-Charlottenburg erwartet uns Thomas Rusche. Auf dem Trottoir vor seinem Domizil. Habilitiert, doppelpromoviert, glattrasiert. Im Film könnte er jederzeit einen römischen Senator mimen. Doch statt Toga trägt der hoch aufgeschossene ehemalige Marktführer im Premium-Segment der Herrenausstatter einen königsblauen Zweireiher. Darunter ein azurblau-weiß gestreiftes Hemd, kombiniert mit anthrazit-farbenen Jeans und schwarzen Slippern.
Thomas Rusche im Interview für die Ausgabe Frieden von der Grandios Zeitschrift

Gepflegtes Understatement, nennt man das wohl. Rusches „Herzlich willkommen!“ klingt freundlich und offen. Ohne jeden Anklang von Aufdringlichkeit oder des Versuchs der Vereinnahmung. Der Druck seiner Hand zur Begrüßung ist fest. Kurz, aber lang genug, um Wohlwollen zu vermitteln, ruht der Blick seiner hellblau funkelnden Augen auf dem Gesicht seiner Gäste. Wenn Augen die Fenster zur Seele sind, wohnt hier ein blitzgescheiter Geist.

Wir folgen ihm, nicht ohne die Bleiglasmalerei im Treppenhaus zu bewundern, in den zweiten Stock, wo der gebürtige Münsterländer eine großzügig geschnittene Altbauwohnung als Zweitwohnsitz bewohnt. Stuck, Kronleuchter, Biedermeiermöbel, moderne Kunst, Gemälde und Skulpturen, Fischgrätenparkett sowie Unmengen an Büchern und Zeitschriften, aus denen sich der Philosoph, Unternehmer und Kunstexperte bei Bedarf griffsicher zu bedienen weiß, verströmen den Odem eines vom Aussterben bedrohten Bildungsbürgertums. Wir nehmen im Wohnzimmer Platz. Auf einem gestreiften Sofa, zu Füßen eines Lüpertz auf grüner Wand. Der Farbe der Hoffnung.

Das vielleicht schwerste Interview des Lebens

Vor uns liegt das vielleicht schwerste Interview unseres bisherigen Lebens. Ein Gespräch mit einem Mann, der Vieles verloren hat. Nur den Glauben an Gott nicht. Ein moderner Hiob. Von ihm wollen wir wissen, wie man „Frieden macht“ mit dem, was der 1962 in Oelde Geborene selbst die „Nackenschläge Gottes“ nennt.

Der Furchtbarste liegt noch nicht weit zurück. Einer, über den man, um ihm tatsächlich gerecht zu werden, ein Buch schreiben müsste. Am 6. Februar 2022 nahm sich Rusches Tochter Marianna, eine praktizierende Katholikin, kurz vor Abschluss ihrer Promotion das Leben. Im Alter von 30 Jahren. Eine hochbegabte Psychologin, Neuro- und Intelligenzforscherin.

„Voller Hoffnung auf ein ewiges Leben hat sich Marianna für den Tod entschieden, um ihr Leiden zu beenden, Ruhe zu finden und in Gottes Händen geborgen zu sein. Tief erschüttert nehmen wir in Liebe und Dankbarkeit Abschied von unserer wunderbaren Tochter, Schwester, Enkeltochter und Patentante.“

Traueranzeige für Marianna, Thomas‘ Tochter

„Voller Hoffnung auf ein ewiges Leben hat sich Marianna für den Tod entschieden, um ihr Leiden zu beenden, Ruhe zu finden und in Gottes Händen geborgen zu sein. Tief erschüttert nehmen wir in Liebe und Dankbarkeit Abschied von unserer wunderbaren Tochter, Schwester, Enkeltochter und Patentante.“ So steht es schwarz auf weiß in der Traueranzeige der Familie. Seine seit ihrer Jugend von Depressionen geplagte Tochter habe ihren Suizid, „wie wir später erfahren durften“, lange geplant, erzählt Rusche. Der bekennende Katholik, stellvertretender Vorsitzender der Päpstlichen Stiftung „Centesimus Annus Pro Pontifici“ (CAPP), Ritter vom „Heiligen Grab zu Jerusalem“ und Vorsitzender des „Hilfswerks Schwester Petra“, das den Orden „Dienerinnen der Armen“ unterstützt, spricht ruhig und gefasst.

Wie er selbst sei Marianna zwischen Oelde und Berlin hin- und hergependelt. In Oelde habe sie sich ein Wochenende ausgesucht, „an dem niemand zu Hause war“. Ein katholischer Priester, der Marianna seelsorgerisch begleitet habe und auch von ihren Suizidgedanken wusste, habe ihr noch am Abend ihres Todes das Versprechen abgenommen, dass sie sich am nächsten Morgen wieder träfen. „Marianna war Psychologin. Sie kannte die Codes, mit denen man sich in solchen Situationen verabredet, und sie hat sie gebrochen“, sagt Rusche.

Thomas Rusche lacht im Interview für die Grandios Zeitschrift über das Thema Frieden

Warum rebelliert er nicht, wie so viele andere?

Wie ein Vorwurf klingt das nicht. Eher nach Mitleid. So als versuche ein Vater tastend das ganze Ausmaß der Not zu ermessen, das seine Tochter verspürt haben muss. Marianna sei „ein großer Bach-Fan“ gewesen, sagte Rusche.

Zum Entsetzen ihrer Eltern, habe sie sich „Soli Deo Gloria“ (dt.: Gott allein [sei] die Ehre) über „den ganzen Rücken tätowieren lassen“. Bach pflegte viele seiner Werke mit der Abkürzung S.D.G zu unterzeichnen. Und auch über der Todesanzeige Mariannas, die auf einem Beistelltisch im Wohnzimmer von Rusches Berliner Wohnung steht, prangt der Satz: „Soli Deo Gloria“. Am Abend ihres Todes habe Marianna Bachs Matthäus-Passion gehört, weiß Rusche. Seine Frau, eine Mailänder Ärztin, habe die Tochter als Erste gefunden. Für Hilfe war es da schon zu spät.

"Verspüren Sie keine Wut?"

Ob er keine Wut verspüre, wollen wir wissen. Der habilitierte Philosoph und promivierte Volkswirtschaftler schaut uns fragend an. Darüber, dass etliche Menschen aus Mariannas Umfeld von ihren Absichten wussten, während er, seine Frau und Mariannas drei Geschwister ahnungslos blieben?

Der Mann, der jahrzehnte-lang überaus erfolgreich Menschen einkleidete, die sich den britischen Gentleman zur Stilikone erkoren, scheint auch dessen Wesen verinnerlicht zu haben. Wenn er sich in suizidgefährdete Menschen hineinversetze, meine er, erahnen zu können, in was für „einem großen Gewissenskonflikt“ sie sich befinden müssen.

Versuche er, sich das Ganze aus der Perspektive Mariannas vorzustellen, reduziert sich alles auf die Frage: „Wem kann ich noch vertrauen, wenn diejenigen das, was ich ihnen anvertraue, verhindern und dafür sorgen, dass ich in dieses Leben zurückgeholt werde?“

Thomas Rusche im Gespräch für die Grandios Zeitschrift über das Thema Frieden

Journalisten sind eine furchtbare Spezies

Journalisten sind eine furchtbare Spezies. Wittern sie Erkenntnisgewinn, dringen sie mitunter wie Wölfe weiter vor. Wie schafft er es, mit den „Nackenschlägen Gottes“, wie er sie nenne, „Frieden zu machen“? Warum rebelliert er nicht, wie so viele andere? Was ist sein Geheimnis? Fragen wir den Mann, der ein Textilunternehmen in vierter Generation in einer der am härtesten umkämpften Branchen zunächst zum Markführer machte und Jahrzehnte später, mitten in der Corona-Pandemie, wie er sagt, „an die Wand“ fuhr.

Einen, der die in dritter Generation ererbte Kunstsammlung niederländischer Meister zunächst um zeitgenössische Werke zu einer international gerühmten Sammlung erweiterte und schließlich veräußern musste, um „SØR“ – so der Name seines Unternehmens – „verkaufsfähig“ zu machen. Einen, der den Suizid einer seiner Töchter, die seit ihrer Jugend gegen psychische Leiden kämpfte, hinnehmen musste.

"Beten, trauern und in den Dialog treten."

Es gebe wohlmeinende Menschen, sagt Rusche, die riefen ihm zu: „Thomas, pass auf, du hast das alles bisher nur verdrängt. Irgendwann kommt das hoch.“ Er selbst spüre bisher jedoch „keinen unverdauten Rest“. Vielleicht auch, weil er gelernt habe, „alles, was ich nicht verstehe, Gott anheim zu stellen“. „Dein Wille geschehe“, die dritte Bitte des „Vater unser“, sei für ihn „wirklich ein Schlüssel“, sagt der einstige Jesuitenzögling.
Thomas Rusche im Interview für die Grandios Ausgabe Frieden
Das dürfe man nicht falsch verstehen. Wie sich der Suizid seiner Tochter aus der Perspektive Gottes ausnehme, könne er selbstverständlich nicht wissen. Marianna hätte darauf vertraut, dass Gott sie gnädig empfangen werde. Das sei bei ihm nicht anders. Aber die liebevolle Begleitung, die er und seine Familie danach erfahren hätten, sei mit Sicherheit „ein Gottesgeschenk“ gewesen.
Im Beisammensein mit den verständnisvollen Menschen, die Marianna begleitet und alles unternommen hätten, um ihr Perspektiven aufzuzeigen; gemeinsam mit ihnen stundenlang „beten, trauern und in den Dialog treten“ zu können – da habe „Gott uns seine Hand gereicht“.

"Dein Wille geschehe."

„Dein Wille geschehe“, heiße eben nicht, so Rusche, dass „das Leben so läuft, wie ich es mir vorstelle und erhoffe. Mit einer prosperierenden Firma, einer blühenden Kunstsammlung und Bilderbuch-Kindern, die voller Optimismus in die Zukunft schauen“, so wie er es viele Jahre lang habe erleben dürfen. Er glaube, dass es ihm gerade wegen der „sogenannten Nackenschläge Gottes“ inzwischen gelinge, „nicht mehr in den Kategorien dessen gefangen zu sein“, was „man will, erwartet und erhofft“ und denen, „die auf keinen Fall geschehen dürfen und auf jeden Fall vermieden werden müssen“. Zu Gottes Wille gehöre, dass wir „frei leben“ und uns nicht den „Maßstäben der Welt unterwerfen“.

Sich verletzbar machen, die eigenen Wunden zeigen

Ein Weg dazu ist für Rusche, „transparent zu sein“ und sich „verletzbar zu machen“. Keine Scheu davor zu haben, anderen die „eigenen Wunden“ zu zeigen, erfahre er als „befreiend“ und „beglückend“. Offen mit Mariannas Suizid umzugehen, statt ihn aus „Scham“ oder „Angst vor Sippenhaft“ unter „den Teppich zu kehren“, habe ihm viele Gespräche mit Menschen beschert, die sich in ähnlichen Situationen wähnen. Vielen habe er raten können, sich professionelle Hilfe zu besorgen. „Wir sitzen doch alle im selben Boot“, sagt Rusche.

Was die anderen beiden „Nackenschläge“ betrifft, scheint Rusche die mit ihnen verbundene „Freiheit“ sogar zu genießen. Dass er sich dank eines „Deals“ mit dem Auktionshaus Van Ham von seinen gesammelten Kunstwerken der Reihe nach verabschieden konnte, weiß er genauso zu schätzen, wie anderes auch. „Morgens nicht mehr als Erstes auf die Umsätze zu schauen, die wir gestern gemacht haben“, gehöre ebenso dazu, wie heute Menschen „beim Aufbau oder der Erweiterung ihrer Kunstsammlungen“ mit Rat und Tat zur Seite stehen zu können. Gegen Honorar versteht sich. Ob es um „Kunst als Investment“ oder das von manchen verpönte „Sofa-Bild“ geht, ist ihm dabei einerlei. Oftmals sei eben dies der „Einstieg“. Dass Menschen für „eine zentrale Stelle ihres Hauses ein gutes Kunstwerk suchen und dann erfahren, was das tägliche Erleben mit ihnen macht“. Das sei der „Ausgangspunkt“ vieler „gelungener Sammlungen“, weiß Rusche.

Was „man“ tut und denkt, ist für den heute 62-Jährigen ohnehin nicht mehr maßgeblich. Rusche: Viele leben in Unfrieden, weil sie an ihren „Instagram-Erwartungshaltungen des Allzeit-Perfekten“ scheitern. „Weil sie Idealen hinterherrennen, die andere ihnen vorgeben.“ Der „schnellste Weg ins Unglück“ sei, sich „mit anderen zu vergleichen“. Menschen, „die im Zweifelsfall ein gewagtes digitales Profil zu einem unerreichbaren Idealbild werden ließen“, so der in Siegen und München lehrende Philosoph.

„Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen“, schrieb der französische Existentialist Albert Camus (1913-1960) in seinem berühmten Essay „Der Mythos des Sisyphos“. Für Thomas Rusche, den modernen Hiob, gilt, so scheint es, Vergleichbares.

Wenn Sie sich in einer akuten Krise befinden, wenden Sie sich bitte an Ihren behandelnden Arzt oder Psychotherapeuten, die nächste psychiatrische Klinik oder den Notarzt unter 112.

Falls Ihre Gedanken darum kreisen, sich das Leben zu nehmen und Sie anonym bleiben wollen, können Sie sich auch an die Telefonseel-sorge wenden. Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenfrei und rund um die Uhr erreichbar unter 0800-111 0 111 und 0800-111 0 222. Ihr Anruf bei der Telefonseelsorge taucht weder auf ihrer Telefonrechnung noch im Einzelverbindungs-nachweis auf. Mehr Informationen zur Telefon-seelsorge und ihren Hilfsangeboten per Mail beziehungsweise Chat finden Sie im Internet unter https://online.telefonseelsorge.de

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