- Autor: Stephan Baier
- Illustrationen: Carina Crenshaw
Der Mensch ist ein Mängelwesen
Nur der Mensch kann kochen
Manche Tiere sind ziemlich intelligent
Aber wann spielen Affen endlich Orgel
Nur der Mensch denkt geschichtlich
Nur der Mensch denkt geschichtlich, gibt also Informationen über mehr als zwei Generationen weiter. Große Dynastien wissen, welcher Urururururgroßvater im Dreißigjährigen Krieg wohin ausgewandert ist, um dort durch historisch nachvollziehbaren Sex der Familie reichlich Nachfahren zu schenken. Tiere kennen im glücklichsten Fall ihre Eltern und ihre Kinder. Trotz ihres legendären Gedächtnisses ist kein Elefanten-Museum bekannt. Manche Leute wissen über Caesars Machtergreifung mehr als über den Arbeitsalltag ihrer Nachbarn, lesen Aristoteles im Original und zitieren Voltaire wie einen Zeitgenossen. Mag sein, dass die Geschichte wenige Schüler hat – aber sie lehrt unaufhörlich. Jedoch nur Menschen.
Das hat damit zu tun, dass wir Menschen durch die Entwicklung von Schriften so etwas wie ein Gedächtnis der Menschheit geschaffen haben. Schon zwölfjährige Gymnasiasten enträtseln Ciceros Reden gegen Catilina, die auch nach knapp zwei Jahrtausenden lehrreicher sind als alle Bundestagsreden. Es ist dem Menschen nicht gegeben, in die Zukunft zu sehen (nicht einmal um die übernächste Straßenecke), aber sehr weit und differenziert in die Vergangenheit: Keiner von uns weiß, ob er am kommenden Sonntag noch lebt, aber über das Leben und Sterben der Ägypter, Kanaaniter und Mesopotamier vor drei Jahrtausenden wissen wir recht gut Bescheid.
Ehrfurcht vor unseren Ahnen
Die menschliche Fähigkeit zur Empathie
Die Sinnfrage ist unausweichlich
Viele Tiere haben ein tragisches Leben, aber der Mensch weiß um die Tragik des Lebens an sich. Wie großartig, toll und sorgenfrei es auch sein mag: Unsere Sehnsüchte, Wünsche und Hoffnungen passen da einfach nicht hinein, in diese 70 oder 90 Lebensjahre. Um diese Begrenztheit wissen wir früh: Der Mensch erlebt nicht nur das Sterben anderer – er lebt sein Leben unter dem Damoklesschwert der eigenen Sterblichkeit. Wir wissen, dass wir auf den Tod zumarschieren, dass jeder Tag genau ein Tag weniger auf dem vor uns liegenden Weg ist.
Darum ist dem Menschen die Sinnfrage unausweichlich. Er will wissen, warum und wozu er auf Erden ist. Das hat damit zu tun, dass er ein Ich-Bewusstsein besitzt, und zugleich weiß, dass sein Ich nicht identisch ist mit dem Ganzen. Ob der Mensch nun religiös ist oder nicht, er ahnt, dass sein eigenes Leben nur dann einen Sinn besitzt, wenn das Ganze sinnvoll ist. Darum ist er lebenslang auf der Suche nach sinnvollen Antworten – oder glaubt, sie gefunden zu haben.
Zugleich stellt nur der Mensch seine Natur radikal in Frage. Kein Elefant käme auf die Idee, sich als Eichhörnchen zu identifizieren oder so zu benehmen. Kein Wal beschließt, dem Vorbild anderer Säugetiere folgend das Meer zu verlassen, um fortan an Land sein Glück zu versuchen. Der Mensch jedoch stellt seine Menschennatur in Frage, erdenkt Systeme, die alle Menschen zu Tieren erklären oder den Menschen überwinden wollen, um einen „Übermenschen“ zu schaffen. Kulturelle und humanitäre Errungenschaften werden nicht nur bestaunt und gefeiert, sondern in Frage gestellt: Sind Roboter vielleicht auch Personen wie wir? Sind wir vielleicht nur Tiere, wie Echsen und Mücken? Ist die Menschheit insgesamt gar von Übel und „eine Hautkrankheit des Erdenballs“, wie Erich Kästner die Klima-Apokalyptiker vorwegnehmend fragte? – Nur Gedankenspiele einer vernunftbegabten Gattung? Nein, die Selbstzweifel des Menschen sind leider existenziell. Nicht nur Individuen begehen Suizid, sondern mitunter auch Zivilisationen. Typisch Mensch!
Gewiss, auch Bienen und Ameisen sind Teamplayer, verfügen über komplexe Sozialstrukturen und kennen Hierarchien. Doch nur der Mensch hat soziale Systeme geschaffen, die über den Radius seiner Bekanntschaften hinausgehen. Wir organisieren unser persönliches Leben nicht bloß innerhalb eines Stammes und eines Dorfs, sondern in riesigen, anonymen Staaten und supranationalen Organisationen. Ob diese halbwegs ordentlich oder grottenschlecht funktionieren, hängt – das ist erwiesen – jedenfalls nicht von deren Größe oder von der Vielfalt ihrer Kulturen und Sprachen ab.