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Lesedauer: ca. 10 Min.

Autor: Stephan Baier

Ein Freund wie ein Fels

„Wie heißt das Oberhaupt der katholischen Kirche?“, wollte die Religionslehrerin wissen. Einer der Zehnjährigen schrieb: „Pfarrer Müller.“ Lustig. Aber auch verständlich: Die Kirche ist so abstrakt und schwer fassbar, der Papst ganz weit weg. Pfarrer Müller ist ein Mensch aus Fleisch und Blut, mit bekannten Stärken und Schwächen. Einer der lachen und weinen, feiern und trauern kann. Einer von uns. Ich war kaum 14 Jahre, als Papst Johannes Paul II. für mich so ein „Pfarrer Müller“ wurde.

„In Rom regnet es nie länger als ein paar Stunden“, beruhigte uns unser Herr Kaplan, Alois Möstl, als wir Rodinger in der Osterwoche in der Heiligen Stadt eintrafen. Es goss zwei Tage wie aus Kübeln. Die Papstaudienz am dritten Tag schien ins Wasser zu fallen. Klatschnass und frierend standen wir auf dem Petersplatz. Plötzlich, als habe jemand einen Hebel umgelegt, kam kein Tropfen mehr von oben. Die schwarzen Wolken fort, die Sonne erschien, und zeitgleich der Papst. Ich war damals, im Frühjahr 1979, knapp 14 Jahre und ziemlich beeindruckt. Natürlich habe ich kein Wunder erlebt, nichts Übernatürliches. Wunderbar aber schien mir dieser fröhliche, kraftvolle, fast jugendliche Papst, der sich sportlich in die Menschenmenge warf, als wolle er jeden sehen, an sich ziehen, umarmen.

Selbstlosigkeit, Verlässlichkeit, Liebe

Beim ersten Blickkontakt wusste ich, lange bevor ich ihm ernsthaft zuhörte und als Student in Regensburg, München und Rom seine Veröffentlichungen las: Diesem Mann darf ich vertrauen. Er meint es ehrlich. Die männliche, starke Stimme voll Wohlwollen, jede Geste aufrichtig: Ein Gottesmann, frei von Selbstbezogenheit, hingeschenkt an die Menschheit. Selbstlosigkeit, Verlässlichkeit und Liebe: Ist es nicht genau das, was alle wahre Freundschaft ausmacht? Erwarten wir nicht genau das von einem Vater? Johannes Paul II. wurde mein Wegbegleiter beim Erwachsenwerden, mein väterlicher Freund für die nächsten Jahrzehnte.

„Der Mensch kann nicht leben, ohne den Sinn seiner Existenz zu kennen“, rief er den Jugendlichen in München 1980 zu. „Lasst euch nicht entmutigen! Lasst euch nicht täuschen!“ Bald sah ich, dass ich nicht der einzige war, der diesen väterlichen Freund als herzlichen Mutmacher und ehrlichen Wegweiser sah. Zu den Weltjugendtagen, die Johannes Paul II. erfand, kamen Hunderttausende, später Millionen. Da war die Erfahrung einer Zusammengehörigkeit, über nationale und sprachliche Grenzen hinweg. Und da war einer, der uns ganz tief verstand. Der wusste, dass die Jugend nicht das Halbe, das Mittelmäßige, das Abgestandene sucht, sondern das Große, Originale, Unverwechselbare. Papst Johannes Paul II. verschwieg uns nicht, wo er selbst es fand: „Als ich jung war wie ihr, war Christus anspruchsvoll, und so hat er mich überzeugt. Wäre er nicht anspruchsvoll, gäbe es keinen Grund, ihm zuzuhören und ihm zu folgen.“

Die Wahl von Papst Johannes Paul II., 16. Oktober 1978
Papst Johannes Paul II. in Paris, 31. Mai 1980

Eine Freundschaft, die nie enttäuscht werden kann

Sprach er da noch von sich selbst, von seinem Untergrund-Studium, während die Nazis seine Heimat Polen besetzt hielten, von seinem Priestertum im Widerstand während des kirchenfeindlichen Kommunismus? Oder doch schon von uns und unserer jugendlichen Suche nach Wahrheit und nach einem „Leben in Fülle“?

Kein Zweifel: Johannes Paul II. war ein Freund der Jugend, weil er die Jugend zur Freundschaft mit Gott führen wollte. Den Jugendlichen in Gelsenkirchen rief er 1987 zu: „Christus ist unsere gemeinsame Berufung. Er möchte sich uns ganz schenken, um uns zu seinen Freunden und Jüngern zu machen.“ Diese Freundschaft könne nie enttäuschen, denn: „Jesus ist treu. Er hält, was er verspricht. Ihr werdet keinen treueren Weggefährten finden.“ Wieder war es auf dem römischen Petersplatz: Am 13. Mai 1981 schoss der Profikiller Mehmet Ali Agca den Papst aus nächster Nähe nieder. Eine besondere Form der Lebenshingabe: ein Papst als Märtyrer? Zu früh, so entschied der Himmel. „Eine Hand hat die Kugel abgefeuert, eine andere hat sie gelenkt“, sagte Johannes Paul II. später, als er dem Tod knapp entronnen war. Dem Attentäter verzieh er, ohne dass der darum gebeten hatte. Vorauseilende Liebe: die ausgestreckte Hand des Opfers, das darauf hofft, der Täter möge die Vergebung annehmen. Da hielt selbst die ungläubige Welt den Atem an: Was muss das für ein Gott sein, an den dieser Mann glaubt?

Mehmet Ali Agca im Gefängnis in Rom, 27. Dezember 1983
Besuch von Papst Johannes Paul II. in Kolumbien, 2. Juli 1986

Wie jemand, der sogar mit Gott verhandelt

Der kraftvolle, sportliche, junge Papst Johannes Paul II., ebenso wie – ein Vierteljahrhundert später – der leidende und kranke, wirkte auf mich wie eine Gestalt aus dem Alten Testament: Wie Abraham, der mit seinem Gott redet, ja sogar verhandelt. Wie Moses, der auf den Gottesberg steigt, um dem Herrn zu lauschen und seine Botschaft zu den Menschen zu tragen. Eine spirituelle Titanengestalt, die gerade deshalb mit beiden Beinen fest auf der Erde steht, weil der Kopf bis in den Himmel ragt. Wenn er irgendwo auf seinen vielen Reisen in einer Kirche vor dem Tabernakel auf die Knie sank und so ins Gebet abtauchte, dann konnte man ahnen, dass seine eigentliche Heimat bei Gott ist. Dann konnten wir fühlen, dass da einer stellvertretend für uns alle Sorgen und Nöte, die Lebenslast der Menschen vor den Allmächtigen trägt.

Mehr als irgendein Papst vor ihm war er der Pfarrer der Welt. Seine Reisen waren mehr als eine moderne Form globaler Präsenz. Sie schienen Ausdruck und Teil einer universalen Gegenwart, einer Sendung für die ganze Menschheit und jeden einzelnen Menschen zu sein. Vielleicht hätte das Titanenhafte dieses Mannes bedrohlich wirken können, wäre nicht alles an ihm zutiefst väterlich gewesen. Wenn er Babys aus der Menge griff und an sich drückte, wenn er junge Mädchen auf die Stirne küsste, wenn er Mutter Teresa lachend in den Arm nahm: stets war er Vater und Priester, ein Freund Gottes und der Menschen, von unbegrenztem Wohlwollen.

Sydney, Australien, 19. Januar 1995
17. Weltjugendtag in Toronto, 25. Juli 2002

Inspiration für die persönliche Lebensführung

Sein Charisma und sein Charme beeindruckten auch Fernstehende. Er sprach nicht nur für die Katholiken, gab nicht nur der Christenheit Gesicht und Stimme. Irgendwie wurde dieser Papst zu einer moralischen Autorität in unserer von Egoismus und Selbstsucht vergifteten Welt. Er war das Gewissen seiner Zeit, inspirierte viele junge Menschen in ihrer ganz persönlichen Lebensführung*. Vielleicht, weil er lebte was er lehrte: die Königswürde des Menschen, des jungen und suchenden Menschen wie des kranken, alten und leidenden Menschen. Gerade in der Begegnung mit Nicht-Christen wurde spürbar, dass Johannes Paul II. nicht der Vorsitzende eines Vereins namens Kirche war, sondern ein Botschafter Gottes: Stets bereit zu segnen, zu trösten, zu verzeihen, zu leiten. Um der Würde des Menschen willen, der Gottes Geschöpf und Ebenbild ist, mahnte dieser Papst unermüdlich zum Frieden, prangerte soziales und individuelles Unrecht an: Ausbeutung und Abtreibung, Euthanasie und Rassenhass, Unterdrückung und Verelendung halber Kontinente. In Gottes Namen predigte er die Würde des Menschen, ob gelegen oder ungelegen.

Mit wachsender Gebrechlichkeit und schwindenden Kräften leuchtete immer klarer auf, dass sein Gehen zu den Menschen vorbehaltlose Ganzhingabe war. Wie ein Kreuz ruhten Krankheit und Schmerz auf seinen Schultern. 2003 konnte ich nochmals drei Auslandsreisen des Papstes als Journalist begleiten: Seine 100. Auslandsreise wurde zum Triumph; die Kroaten feierten ihn mit mediterraner Volkskirchlichkeit. Eine ganze Nacht warteten dalmatinische Jugendliche im Hafen von Dubrovnik betend und singend auf ihren Papst. „In der Disco werden sie ja auch nicht müde“, sagte mir ihr Seelsorger mit zufriedenem Lachen.

*Siehe hierzu unser Video von Raquel und André

Prozession des Papstes zum Petersdom, 4. April 2005
Abschied von Papst Johannes Paul II. am Petersplatz, 8. April 2005

„Ich hätte mich am liebsten bei ihnen entschuldigt“

Im September 2003 besuchte Johannes Paul II. die Slowakei. Kein jugendlich-kraftvoller Papst mehr, sondern ein alter, gebrechlicher Mann. Er hatte alles gegeben. Wieder erlebte ich einen Regentag, wie damals in der Osterwoche in Rom. Diesmal im Osten der Slowakei, auf einer regennassen, matschigen Wiese. Wir warteten auf den Papst. Die Jugendlichen vor mir lümmelten am Boden und rauchten. Ich ärgerte mich über das Wetter und über die Jugendlichen. Dann kam der Papst. Vielleicht war das Mikrophon zu laut eingestellt oder zu nah an seinem Mund. Jedenfalls hörten wir nicht nur die mühevoll herausgepressten Worte des Heiligen Vaters. Wir hörten ihn atmen, schwer atmen. Er, der sich nie geschont hatte, der gemeint hatte, er könne sich ja in der Ewigkeit ausruhen, schenkte uns sein Leiden. Die Jugendlichen vor mir heulten. Und ich hätte mich am liebsten bei ihnen entschuldigt.

Als Papst Joahnnes Paul II. in der Osterwoche 2005 starb, war ich in Galiläa. Regenverhangen, düster und unfreundlich schien mir der See Genezareth, die Heimat Jesu. Rastlos hatte der Papst aus Polen, dieser Menschenfischer meiner Generation, die Netze ausgeworfen. Nun war er heimgegangen, ins Haus des himmlischen Vaters. Die Jugend, deren Nähe er stets gesucht hatte, suchte nun ihn: Millionen strömten nach Rom, um Abschied zu nehmen. Die Freundschaft, die er angeboten hatte, wurde erwidert. Die polnische KZ-Überlebende und Psychiaterin Wanda Póltawska, eine Freundin des Papstes durch viele Jahrzehnte, erklärt es uns: „Er zog die Menschen an, weil er sie wirklich alle liebte. Und die Menschen begriffen das, spürten das, und so entstand ein ganz natürlicher Austausch: Liebe gegen Liebe, Zuneigung gegen Zuneigung.“

Nicht einmal der Tod kann uns trennen

Vorbei und verweht? Bei einem alten Theologen lese ich, der Tod sei nur die eine Seite jener Wirklichkeit, deren andere Seite Auferstehung heißt. 1. Mai 2011: Wieder bin ich auf dem römischen Petersplatz, auf dem linken Kolonnaden-Arm, der nach Karl dem Großen benannt ist. Millionen Menschen unter mir: auf dem Platz und, die Via della Conciliazione hinunter, bis zur Engelsburg. Wir feiern die Seligsprechung Johannes Pauls II., drei Jahre später am selben Ort seine Heiligsprechung. Unsere Beziehung ist mit dem Tod nicht zu Ende, lautet die Botschaft jeder Selig- oder Heiligsprechung. Nicht einmal der Tod kann uns trennen. Da ist eine Wirklichkeit voll Liebe und Freundschaft, die dieser väterliche Papst uns zeitlebens zeigen wollte. In ihr ist er nun ganz angekommen: mein väterlicher Freund – als Fürsprecher beim ewigen Vater aller Menschen.