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Ausgabe 06 Freundschaft

Es ist mir egal, was du am Herzen hast

Lesedauer: ca. 14 Min.

Autor: Johannes Seemüller | Fotos: Bernhard Spoettel

„ES IST MIR EGAL,
WAS  DU AM HERZEN HAST“

– Rudi Assauer

Gerald Asamoah ist der erste schwarzafrikanische Fußball-Nationalspieler Deutschlands. Der Weg des gläubigen Profis war steinig: Aufgewachsen in armen Verhältnissen, angeborener Herzfehler, rassistische Beleidigungen. Trotzdem empfindet der 323-malige Bundesliga-Spieler das Leben als „unglaubliches Glück“.

Da ist es. Dieses breite, einnehmende Lachen. Gerald Asamoah hat die riesige Lounge in der Schalker Fußball-Arena betreten. Wie auf Knopfdruck herrscht eine entspannte, herzliche Atmosphäre. Er flachst, macht lockere Sprüche und wirkt auf Anhieb wie ein guter Kumpel. Er passt perfekt hierher. Schalke 04 ist der Kumpel- und Malocherklub im Ruhrpott. Elf Jahre spielte Asamoah für den Verein in der Bundesliga, heute betreut er als Manager die U23-Mannschaft.

Mit seiner Lockerheit und seinem ungekünstelten Auftreten dribbelt er sich in die Herzen der Schalker Fans. Asamoah ist kein fußballerischer Feingeist, er ist ein Malocher. Mit Einsatz und Wille erreichte er genauso viel wie andere, die mit Technik glänzen. Bis heute nennen sie ihn hier einfach nur „Asa“. „Die Fans haben gemerkt, dass ich ein ehrlicher Typ bin, der für den Verein alles gibt.“

Nicht alle Fans lieben Asamoah. Vor allem die Anhänger von Borussia Dortmund sind nicht gut auf ihn und auf Schalke zu sprechen. Diese Abneigung beruht auf Gegenseitigkeit. Schalke und Dortmund sind die großen Rivalen im Revier. Entsprechend hitzig verlaufen die sportlichen Duelle, die als „Mutter aller Derbys“ gelten. „Wenn du jahrelang auf Schalke spielst, dann weißt du, was für eine Bedeutung dieses Derby hat,“ erzählt Asamoah.

Pfiffe treiben ihn zur Höchstleistung

Bei Spielen gegen Dortmund pflegte Asamoah ein Ritual. Während seine Mitspieler zum Warmmachen auf den Platz liefen, verharrte Asamoah bewusst noch einige Sekunden im Spielertunnel. „Ich wusste, wenn ich als Letzter rauskomme, pfeifen die BVB-Fans mich alle aus. Das hat mich zur Höchstleistung angetrieben. Es war meine Art, Fußball zu spielen.“ Motivation, ja.
Hass, nein.

Das Derby am 18. August 1997 in der Arena auf Schalke wird Asamoah nie vergessen. In der 51. Minute prallen Asamoah und Dortmunds Torwart Roman Weidenfeller zusammen. Es kommt zu einem Wortgefecht. Asamoah ist sich sicher, dass Weidenfeller ihn als „schwarzes Schwein“ beschimpft. Eine rassistische Äußerung. „Er hat eine Wortwahl benutzt, die nicht angebracht war,“ sagt Asamoah.

Weidenfeller bestreitet, die Formulierung verwendet zu haben. Trotzdem wird der Torwart vom DFB-Sportgericht zu drei Spielen Sperre und 10.000 Euro Strafe verurteilt. „Ich glaube nicht, dass er ein Rassist ist“, sagt Asamoah über Weidenfeller. Ihn stört allerdings bis heute, „dass er mich als Lügner hingestellt hat, obwohl er wusste, was er gesagt hat.“ Später haben sie mal über die Angelegenheit geredet und sich etwas angenähert. Freunde werden die beiden aber wohl nicht mehr.

So findet Asamoahs Abschiedsspiel im November 2015 ohne Weidenfeller statt. Es wird eine große Sause zu seinem Karriereende. Die Schalke-Arena ist mit 64.000 Zuschauern ausverkauft. „Fans sind nicht dumm. Sie merken, wer ehrlich ist und wer nicht. Sie haben mir gezeigt, dass sie mich liebgewonnen haben.“ Bei der Abschiedsrede versagt mehrmals seine Stimme. Es ist ein großer emotionaler Moment gegenseitiger Wertschätzung. Asamoah, diesem gestandenen Bundesliga-Profi und 43-maligen deutschen Nationalspieler, laufen Tränen über die Wangen. Viele Fans weinen vor Rührung.

Kindheit in ärmlichen Verhältnissen

An diesem Abend sind mehr Fans im Stadion, als Menschen in Gerald Asamoahs Geburtsort leben. Mampong im Süden Ghanas hat etwa 20.000 Einwohner. Auf großen Plantagen wird Kakao, Kaffee oder Tabak angebaut. Hier wächst Asamoah auf. Seine Eltern fliehen kurz nach seiner Geburt aus politischen Gründen nach Deutschland. Gerald lebt mit seinen zwei Schwestern bei der Oma, die er liebevoll „Nana“ nennt. Die Kinder schlafen auf dem Boden, die Nana hat als Einzige ein Bett. Eine eigene Toilette gibt es nicht im Haus, dafür zwei Plumpsklos im Dorf.

„Wir hatten nicht viel,“ erinnert sich Asamoah. „Aber ich habe nichts vermisst, weil ich nichts anderes kannte. Ich hatte das Glück, dass wir am Tag zwei Mahlzeiten bekamen.“ Nach der Schule verbringt er den ganzen Tag draußen. Mit seinen Freunden spielt er Fußball, meist barfuß. Richtige Fußbälle gibt es nicht. „Wir haben aus Socken Bälle gemacht und damit gekickt.“ Seine Mutter sieht Asamoah zum ersten Mal mit fünf Jahren, als sie aus Deutschland zu Besuch kommt. Sie hat richtige Fußbälle dabei. Dadurch ist Gerald der Held bei seinen kickenden Kumpels.

Als Asamoah mit zehn Jahren auf ein Internat in der 300 Kilometer entfernten Hauptstadt Accra geht, reißt der Kontakt zu seinen Freunden ab. Auch heute hat Asamoah kaum noch Verbindungen. Jedes Mal, wenn er zu Besuch in Ghana ist, merkt er, wie die Vergangenheit verblasst ist. „Ich spüre, dass die Leute sehr enttäuscht sind, wenn ich mich nicht mehr an sie erinnern kann.“ Nur Mafu wird er nie vergessen. Mafu kann seine Beine nicht bewegen. Sie sind gelähmt. Trotzdem spielt er in der Jugend mit Asamoah und den Kumpels Fußball. Dabei läuft Mafu auf seinen Händen und zieht seine gelähmten Beine hinter sich her. Den Ball spielt er mit der Hand.„Er war der Beste, trotz seiner Behinderung. Die spielte bei uns keine Rolle. Wir hatten gehörigen Respekt vor ihm.“

Vor einigen Jahren hat Asamoah seinem Freund einen Rollstuhl gekauft. „Jedes Mal, wenn ich in meinem Dorf bin, besuche ich ihn.“ Dann lachen sie zusammen, über ihre Fußballspiele als Kinder und über Mafus heutigen Beruf. Er ist Schuhmacher geworden.

Deutschland – eine neue, fremde Welt

Mit 12 fliegt Asamoah mit seinen Schwestern in eine völlig fremde Welt. Er kommt nach Deutschland. Nach Hannover, wo seine Eltern inzwischen Fuß gefasst haben. Alles ist ihm fremd. Die Sprache, das Wetter, die Kultur, die weiße Hautfarbe der Menschen, die Regeln, das Essen, die Kleidung. „Ich fuhr zur Schule und war ganz stolz. Ich hatte weiße Shorts an, ein weißes T-Shirt und superschöne weiße Schuhe mit den Streifen.“ Er meint, er könne die anderen damit beeindrucken. Aber die lachen ihn aus. Denn die Schuhe des Neuen haben nicht drei, sondern vier Streifen. Bis heute lacht er mit Fabian Ernst über diese Geschichte. Ernst ist Asamoahs Sitznachbar in der Klasse. Sie mögen und verstehen sich. Der Deutsche bringt dem Jungen aus Ghana viel bei, hilft ihm, Anschluss zu finden. „Fabian war für mich da“, sagt Asamoah dankbar.

Die Liebe zum Fußball verbindet sie. Auf dem Schulhof kicken sie mit anderen Jungs. Weil die Schüler merken, dass der dunkelhäutige Neue richtig gut spielen kann, nehmen sie ihn in ihre Clique auf. „Das war der Durchbruch für mich in der Schule.“

Ansonsten ist Deutschland ein hartes Pflaster für den Jungen aus Afrika. In Ghana hat er in seiner „heilen Welt“ gelebt. Er weiß nicht, was Diskriminierung ist. Erst hier spürt er, „dass ich anders bin.“  Er merkt, dass die Menschen ihn anders anschauen, er wird ausgelacht und beleidigt. Zum Beispiel in der Straßenbahn. Plötzlich, wie aus dem Nichts, schreit ihn eine ältere Frau mit hasserfülltem Blick an: „Geh doch zurück in dein Land!“ Allein seine Hautfarbe reicht offenbar, um Zielscheibe von Beschimpfungen zu werden. In der Schule haben es zwei Jungs auf ihn abgesehen. Sie suchen in den Pausen Streit. „Da habe ich mich dann auch mal geprügelt, als ich verstanden habe, was die Wörter ‚Bimbo‘ oder ‚Neger‘  überhaupt bedeuten. Das war schlimm.“

Der 12-Jährige fühlt sich oft hilflos. Die Sticheleien und Beleidigungen machen ihm zu schaffen. Mit seinen Eltern möchte er aber nicht darüber sprechen, um sie nicht damit zu belasten. „Also habe ich die ganzen Sachen in mich hinein gefressen und darunter gelitten.“

Gut, dass er sich viel im Haus seines Jugendfreunds Fabian Ernst aufhalten kann. Dessen Vater und Mutter sind wie zweite Eltern für Asamoah. „Sie haben mich von Anfang an so genommen, wie ich bin.“  Fabian Ernst spielt in der Jugend von Hannover 96. Mit 15 Jahren wechselt auch Asamoah zu dem Traditionsverein, mit 18 bekommt er einen Vertrag im Drittliga-Kader. Der junge Stürmer fühlt sich wohl in der Mannschaft. „Ich wurde akzeptiert, die Fans hatten mich sehr liebgewonnen – und dann kommst du zu so einem Spiel.“

Bananenwürfe in Cottbus

Asamoah meint diesen schlimmen Abend im Juni 1997 in Cottbus. Gegen Energie Cottbus geht es um den Aufstieg in die Zweite Bundesliga. Asamoah ist 18 Jahre jung, sein Teamkollege Otto Addo, ein Landsmann aus Ghana, 21. Die Arena in Cottbus heißt „Stadion der Freundschaft“. Doch die beiden jungen Afrikaner werden behandelt wie Feinde. Bananen fliegen, Affengebrüll von den Rängen, Urwaldgeräusche ertönen. „Neger raus“ schreien erwachsene Menschen. Mit „Steh auf, du Neger!“ wird Asamoah von Cottbusser Spielern beschimpft, wenn er gefoult am Boden liegt. „Dass dir so viel Hass entgegen gebracht wird, hätte ich nie gedacht. Ich wusste nicht, wie mir geschieht. Das war eine der größten Enttäuschungen meines Lebens.“

Der Hass geht nach Spielende weiter. Obwohl Cottbus gewonnen hatte, laufen Fans auf das Feld und schlagen auf Asamoah ein. Sicherheitskräfte verhindern Schlimmeres. Der 18-Jährige flieht in die Kabine – und versteht die Welt nicht mehr. „Es war schlimm zu wissen, dass ich als Mensch nicht von allen akzeptiert bin.“

Gut, dass Fabian Ernst – nicht nur auf dem Platz – an seiner Seite ist. „Fabian begleitet mich mein ganzes Leben. Ich weiß, dass ich ihn jederzeit anrufen kann, so wie er mich auch anrufen kann.“ Immer wieder kreuzen sich ihre Wege. Nach der Zeit in Hannover spielen sie gemeinsam in der deutschen Nationalmannschaft, später vier Jahre für Schalke 04. Fabian Ernst spricht von einem „seelischen Band“, das zwischen ihnen geknüpft sei.

Noch enger ist Asamoah mit Timo Marner befreundet. Die beiden haben sich mit 14 in der B-Jugend bei Hannover 96 kennengelernt. „Timo war immer für mich da“, erzählt Asamoah. Obwohl sie unterschiedliche Wege gehen. Marner beendet seine Karriere bereits in der Verbandsliga und studiert BWL, wird später Asamoahs Steuerberater. Es sind unterschiedliche Leben, die dennoch einen gemeinsamen Nenner haben: Vertrauen und Verlässlichkeit. Marner kennt die Macken Asamoahs wie kein anderer. Seinen Hang zur Unpünktlichkeit, seine Vorliebe für Süßigkeiten und seine Unfähigkeit, Nein zu sagen. Der 40-Jährige kennt nicht nur den Strahlemann, sondern auch den nachdenklichen Freund. „Timo hat mich immer wie Gerald und nicht wie den Fußballprofi Asamoah behandelt. Wenn Timo mir etwas sagt, nehme ich das wirklich ernst.“

Asamoah kennt das auch anders. Viele in seinem Umfeld wollten sich in seinem Glanz sonnen und von seinen Erfolgen profitieren. „Ich habe viele Leute um mich herum gehabt, die auf Distanz gegangen sind, nachdem der Ruhm nicht mehr da war.“

Im Leben brauche man vielleicht einen oder zwei echte Freunde, meint er. „Ein echter Freund nimmt mich so, wie ich bin. Er gibt mir nicht das Gefühl, dass ich was Besonderes bin. Für ihn bin ich einfach Gerald. Ein echter Freund sagt mir auch die Wahrheit ins Gesicht. Er sagt mir auch mal ‚Hey, Asa, das war jetzt total bescheuert, was du gemacht hast‘.“

„Er war immer für mich da“

Geradeaus eben. So wie Rudi Assauer, der langjährige Manager des FC Schalke 04. Dieser Mann ist für Asamoah eine wichtige Vaterfigur – bis er 2019 an den Folgen einer Alzheimer-Erkrankung stirbt. Assauer, der sich in der Öffentlichkeit gern als Zigarre rauchender Macho gibt, holt Gerald Asamoah 1999 von Hannover nach Gelsenkirchen. Dieser Wechsel birgt ein großes Risiko für den Verein. Einige Monate zuvor war bei Asamoah eine Verdickung der Herzscheidewand festgestellt worden. Mediziner rieten dem Stürmer, seine Laufbahn zu beenden, doch ein Herzspezialist in den USA hilft ihm, seine Karriere fortzusetzen. Das Risiko für einen Herzstillstand liege bei einem Prozent, heißt es. Assauer will den Offensivspieler dennoch zum FC Schalke lotsen. Asamoah erinnert sich an dessen Worte: „Ey, Junge, es ist mir egal, was du am Herzen hast. Ich will dich haben.“

Asamoah ist sichtlich gerührt, wenn er über Assauer spricht. „Für mich war klar, ich kann diesen Mann nicht enttäuschen. Er hat mir sein Herz gezeigt. Deswegen habe ich den Schritt gewagt, nach Schalke zu wechseln.“ Bei Assauer findet Asamoah die Wärme und Herzlichkeit, die er bei seinem eigenen Vater vermisst. Sein Vater ist ein strenger Mann, der nicht über seine Gefühle spricht. Die Fußball-Karriere seines Sohnes hat er nie gefördert.  Assauer hingegen unterstützt Asamoah bedingungslos. „Ich habe viel Mist gebaut. Aber er hat mich immer in den Arm genommen und gesagt ‚Junge, so ist das Leben. Es geht weiter.‘ Er war immer für mich da.“

Assauer glaubt an Asamoah. Der Fußballprofi selbst hätte seinen Glauben beinahe über Bord geworfen. Als bei ihm mit 19 der angeborene Herzfehler entdeckt wird und er Spielverbot erhält, bricht für Asamoah eine Welt zusammen. In Ghana ist er regelmäßig zur Kirche gegangen. Jetzt wurde sein Kinderglaube heftig durchgeschüttelt. „Warum ausgerechnet ich? Hat Gott etwas gegen mich?“, fragt sich Asamoah.

Das Gelübde

Er ist voller Angst und Unsicherheit. „Vielleicht will Gott schauen, ob ich an ihm festhalte oder weggehe“, denkt er sich. Er betet viel in dieser Zeit. Er ist sich sicher, nur Gott kann ihm in dieser Situation helfen. „Ich habe mich entschieden, an ihm festzuhalten.“

Asamoah legt ein Gelübde ab. Sollte er tatsächlich wieder Fußball spielen können, würde er Menschen helfen, denen es schlechter geht. Asamoah legt eine erfolgreiche Karriere hin – und hält Wort. Er gründet eine Stiftung für herzkranke Kinder.

Gerald Asamoah fühlt sich, trotz etlicher Rückschläge, vom Leben und von Gott reich beschenkt. Er möchte etwas zurückgeben. Gerade in seinen Freundschaften. „Der andere soll einfach wissen, dass ich immer für ihn da bin. Egal, in welcher Situation.“ Dann lacht er wieder. Breit und einnehmend.

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