- Autor: Stephan Baier
Europa - Eine Supermacht des Friedens?
Von „Pax Romana“ sprachen die Römer, als sie alle Gebiete rund um das Mittelmeer erobert, alle Widerstände militärisch gebrochen, alle lokalen Herrscher unterworfen hatten. Ihr „Römischer Friede“ war gleichbedeutend mit der Herrschaft Roms. Diese archaische Idee, Frieden sei untrennbar mit Herrschen verbunden, hat durch all die Jahrhunderte unser Denken so tief geprägt, dass im Wort „befrieden“ immer noch etwas von erobern und beherrschen mitschwingt. Ein befriedetes oder eingefriedetes Land, sei es ein Garten oder ein Weltreich, ist unter eigener Kontrolle, eingezäunt oder von einer Mauer umgeben, gesichert und verteidigt gegen die anderen, die potenziellen Feinde.
Es sind immer „die anderen“, die solchen Frieden stören, indem sie unsere Herrschaft oder unsere Spielregeln in Frage stellen. Ob wir über den Dreißigjährigen Krieg sprechen oder über Wladimir Putins massenmörderischen Krieg gegen die Ukraine: Es ist die gleiche Logik: nur das gewaltsame Durchsetzen der eigenen Herrschaft führe zu echtem Frieden. Diese Logik führt zu immer neuen Kriegen, denn immer wartet ein potenzieller Feind und Herausforderer jenseits des eingefriedeten Territoriums, stets bedroht eine echte oder eingebildete Gefahr unseren Friedensraum. Um dieses Friedens willen zogen Europäer in unzählige Kriege, mitunter gegen Mauren im Westen oder Osmanen im Osten, doch meistens untereinander.
Die Urkatastrophe des modernen Europas
Der Erste Weltkrieg (1914-18) war die Urkatastrophe des modernen Europas: Die beschriebene Logik des Herrschens hatte durch die Nationalismen, die sich seit der Französischen Revolution wie ein Krebsgeschwür in Europa ausgebreitet hatten, eine pseudo-religiöse Dimension bekommen. Man predigte und glaubte an die eigene Berufung, Krieg führen, diese Stadt gewinnen oder jenen Landstrich befrieden zu müssen. Der mit bis dahin unbekanntem Hass geführte europäische Bruderkrieg endete nach Millionen Toten tragischer als er begann: Der Nationalismus, der in den Krieg geführt hatte, ging auch als Sieger aus ihm hervor. 1918 war Europa ausgeblutet, die übernationalen Reiche waren zerbrochen, die Staaten Europas hatten ihre Weltgeltung verloren, der gemarterte und geschundene Kontinent war zerrissen. Bei Siegern und Besiegten brodelte der Nationalismus und bereitete neue Konflikte, neue Kriege vor.
Ein Mann war vor einem Jahrhundert hellsichtig genug, den Weg in einen zweiten Weltkrieg zu erkennen – und tapfer genug, sich der Gefahr entgegenzustemmen. Ein junger böhmischer Graf mit japanischer Mutter und väterlicherseits mit Wurzeln in vielen Völkern Europas warnte ab 1922 in leidenschaftlichen Appellen: „Europa befindet sich gegenwärtig auf dem Wege zu einem neuen Krieg.“ Dieser Krieg, so schrieb Richard Coudenhove-Kalergi, werde den Ersten Weltkrieg an Grausamkeit übertreffen, ja er werde zur „Selbstvernichtung Europas“ führen. „Wer sein Volk liebt, muss angesichts der technischen und politischen Voraussetzungen eines europäischen Krieges Pazifist sein.“ Coudenhove-Kalergi war nicht der einzige, aber der erste, der die beschriebene Logik der „Pax Romana“ durchbrach, den Pazifismus zur Überlebensfrage erhob und die Vereinigung Europas als Gebot des Friedens skizzierte.
Der Pazifismus vergisst, dass ein Wolf stärker ist als tausend Schafe.
Der Pazifismus des jungen Philosophen, der selbst nie ein Abgeordnetenmandat oder Ministeramt innehatte, war nicht naiv. Ja, er wehrte sich sogar gegen den radikalen Pazifismus jener, die aus der Schockerfahrung des Ersten Weltkriegs für Waffen- und Wehrlosigkeit warben. Der naive Pazifismus rechne nicht mit der menschlichen Schwäche, Unvernunft und Bosheit, schrieb er 1924. „Der Pazifismus vergisst, dass ein Wolf stärker ist als tausend Schafe.“ Der Pazifismus müsse „von Räubern lernen, wie man mit Räubern umgeht“. 1924, als die kommunistische Sowjetunion noch in den Kinderschuhen steckte und manchen westlichen Intellektuellen verführte, schrieb Coudenhove-Kalergi: „Europa hat nicht die Möglichkeit, die politische Einstellung der russischen Machthaber, deren System expansiv ist, zu ändern. Da es sie zum Frieden nicht überreden kann, muss es sie zum Frieden zwingen. Wenn ein Nachbar friedlich orientiert ist, der andere kriegerisch, so fordert der Pazifismus, dass die militärische Überlegenheit auf Seiten des Friedens steht.“ Wie erschütternd aktuell klingt das angesichts des Krieges Putins gegen die Ukraine!
Vor 100 Jahren war das politisch und ökonomisch zersplitterte Europa weit von solchen Visionen entfernt. Es verhallten die wohlargumentierten Appelle Coudenhove-Kalergis, sich der Kriegspropaganda entgegenzustellen, die Konflikte zwischen den europäischen Staaten durch ein Schiedsgericht zu lösen, europäische Institutionen zu schaffen und die gemeinsamen Interessen vor das Trennende zu stellen. Ab 1938 führte Adolf Hitler Europa in den mörderischsten aller bisherigen Kriege, in einen Weltkrieg, der den dramatischen Warnungen des böhmischen Grafen entsprach. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg besann sich eine neue Generation europäischer Politiker der mehr als 20 Jahre alten Verheißung Coudenhove-Kalergis, dass „die Sicherung des inneren Friedens“ in Europa „einen beispiellosen Aufschwung Europas in jeder Hinsicht zur Folge hätte“.
Die mörderische Logik der Gewalt durchbrochen
Der britische Premierminister und Kriegssieger Winston Churchill formulierte die Vision in seiner berühmten Rede an der Universität Zürich 1946: „Wenn Europa einmal einträchtig sein gemeinsames Erbe verwalten würde, dann könnten seine drei- oder vierhundert Millionen Einwohner ein Glück, einen Wohlstand und einen Ruhm ohne Grenzen genießen … Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa schaffen … Der Weg ist einfach. Es ist nichts weiter dazu nötig, als dass Hunderte von Millionen Männer und Frauen Recht statt Unrecht tun und Segen statt Fluch ernten.“ Jetzt endlich, nach zwei Weltkriegen, siegte die Entschlossenheit, dem Krieg bringenden nationalen Egoismus eine realistische Friedensidee entgegenzusetzen. Männer wie der deutsche Kanzler Konrad Adenauer, der französische Präsident Charles de Gaulle, der lothringische Staatsmann Robert Schuman und der italienische Ministerpräsident Alcide de Gasperi schufen die Grundsteine für das europäische Haus, in dem wir heute wohnen.
Nein, die Europäische Union ist nicht das Paradies auf Erden, auch nicht das Ende der Geschichte. Aber sie hat die mörderische Logik der Gewalt durchbrochen. Konflikte, die es weiter gibt und geben wird, werden am Verhandlungstisch ausgetragen, nicht auf dem Schlachtfeld. Sie enden mit Kompromissen, nicht mit Kapitulationen. Differenzen werden vor dem Europäischen Gerichtshof entschieden, nicht in Kriegen. Das vereinte Europa ist zu einer Zone des Friedens geworden, weil es zu einer Rechtsgemeinschaft zusammenwuchs: Nur so konnte das „Recht des Stärkeren“ durch die Herrschaft des Rechts abgelöst werden. Die Kriege vor unserer Haustüre – im Osten Europas wie des Mittelmeeres – rufen uns jedoch mahnend in Erinnerung, dass Europa nicht nur eine Verantwortung für sich selbst hat. Ein anderer großer Visionär Europas, Otto von Habsburg, wusste schon 1995: „Europa ist dazu berufen, eine Supermacht des Friedens zu werden.“