Gegen den Strich gebürstet – (Un)kluges über Klugheit

„Wozu ist Klugheit eigentlich gut?“ – Diese scheinbar einfache Frage entfaltet in diesem Essay eine faszinierende Tiefe. Zwischen antiker Weisheit, moderner Selbstoptimierung und alltäglichen Entscheidungen entwirft der Text ein vielschichtiges Porträt der Klugheit – fernab von bloßem Wissen. Wer klug ist, denkt nicht nur voraus, sondern auch zurück. Wer klug ist, handelt nicht unbedingt schneller – aber vielleicht besser. Tauchen Sie ein in eine kluge, leichtfüßige und dabei tiefgründige Reflexion über eine Tugend, die wir alle gerne hätten – aber selten wirklich verstehen.
Gegen den Strich Beitrag Unkluges über Klugheit im christlichen Magazin Grandios

Klugheit im 21. Jahrhundert: Eine überstrapazierte Tugend?

Die abendländische Kultur kennt seit mehr als zwei Jahrtausenden vier herausragende Tugenden, oft Kardinaltugenden genannt: die Klugheit, die Gerechtigkeit, die Mäßigung und den Mut. Dazu kommen die drei christlichen Tugenden: Glaube, Hoffnung und Liebe.

Für Thomas von Aquin ist die Klugheit die „erste der Kardinaltugenden“, quasi eine Art Metatugend, gar die „genitrix virtutum”, die Hervorbringerin der Tugenden. „Die Klugheit steuert die anderen Tugenden, indem sie ihnen Regel und Maß gibt.“ So heißt es im Katechismus. Das bedeutet: Nur wer klug ist, kann zugleich gerecht, maßvoll und tapfer sein. Mit anderen Worten und kritisch fortgesponnen kann das aber auch besagen: Gerechtigkeit ohne Klugheit wird schnell zum verbohrten Egalitarismus, wenn nämlich Gerechtigkeit mit Gleichheit, Gleichmut und Gleichgültigkeit verwechselt wird. Schließlich ist nichts so ungerecht, wie die Gleichbehandlung Ungleicher. Mäßigung als dritte der aufgezählten Tugenden wird schnell zu Freudlosigkeit, Misanthropie, Pessimismus und Masochismus, wenn sie sich – pur gelebt – in grenzenloser intellektueller und körperlicher Askese erschöpft. Und Mut wird zu Tollkühnheit, wenn er sich ohne Nachdenken in Gefahr begibt.

Heißt das: Klug ist, wer nicht feige, aber auch nicht tapfer sein muss? Oder heißt es: Klug ist, wer nicht mutig sein muss? Könnte man es nicht auch umkehren? Mutig ist nur der, der nicht immer nur geschmeidig klug ist, der sich und seine Meinung also nicht immer nur klug (feige?) zurückhält, um sich – ohne anzuecken – unauffällig in der „woken“ Mitte zu tummeln.

Stromlinienförmig zu sein, kann klug sein. Aber ist Stromlinienförmigkeit mutig, couragiert, „zivilcouragiert“? Dann wäre Mitläufertum klug – im Sinne der Sentenz: „Der Klügere gibt nach.“ Aber es ist dies ein kardinaler Irrtum, wie die große Aphoristikerin Marie von Ebner-Eschenbach meinte: „Der Klügere gibt nach – eine traurige Wahrheit, denn sie begründet die Weltherrschaft der Dummen.“ Klugheit kann jedenfalls nicht heißen: Hypertoleranz, Lethargie, Apathie, Endlosgeduld, Tatenlosigkeit, Wokeness, endlose „achtsame“ Selbstbespiegelung.

Was ist Klugheit? Ein Definitionsversuch von Josef Kraus

Man nähert sich der Klugheit, wenn man Eigenschaften und Haltungen mit ihr vergleicht, die ihr nahestehen, aber mit ihr nicht identisch sind: Vernunft, Vernünftigkeit, Weisheit, Urteilsvermögen, Scharfsinn, Einsichtsvermögen, Besonnenheit, Gewissenhaftigkeit, Bedächtigkeit, Innehalten, Nachdenklichkeit, (Selbst-)Reflexion, Abgewogenheit, Umsichtigkeit, Erfahrungswissen, Orientierungswissen, Abgeklärtheit, Nüchternheit, Affektfreiheit, antizipatorische Intelligenz, Gewandtheit, ganzheitliches Denken. 

Ist Klugheit nicht einfach Intelligenz, instrumentelle Intelligenz auf ein angestrebtes Ziel hin? Nein, Klugheit ist schon gar nicht die „Intelligenz“, die der Intelligenztest misst. Klugheit ist vielmehr eine Intelligenz, die man früher als Fähigkeit und Bereitschaft umschrieb, mit neuen Situationen zurecht zu kommen. Klugheit hat zudem mit Instinktsicherheit und mit Bauchgefühl zu tun. Wie manche ja sagen, der Bauch sei quasi ein zweites Gehirn.

Illustration in der christlichen Zeitschrift Grandios Magazin Klugheit

Gegenstücke zur Klugheit

Manchmal tut man sich beim Versuch, ein abstraktes Phänomen zu erschließen, leichter, wenn man nach Gegenbildern Ausschau hält. Was also sind die Gegenbilder zu „Klugheit“? Es sind zum Beispiel: Dummheit, Naivität, Torheit, Tölpelei, Begriffsstutzigkeit, Blödheit, Dusseligkeit, Idiotie, Narretei, Unbedarftheit, Verrücktheit (neben die Realität gerückt), das Brett vor dem Hirn habend und andere Bilder mehr.

Kluge Köpfe haben sich mit den Gegenbildern von Klugheit befasst: Sebastian Brandt schrieb im Jahr 1494 das Bändchen „Das Narrenschiff“ – bestehend aus 112 Narreteien. In Kapitel 34 heißt es: „Denn eines plagt den Narren sehr: Was neu ist, das ist sein Begehr‘; doch ist die Lust dran bald verloren und etwas andres wird erkoren.“ Nicht gemeint haben dürfte Sebastian Brandt den weisen Narren, der als Hofnarr oft der Einzige war, der mit durchaus politischem Einfluss die Wahrheit aussprechen durfte, ohne dafür im Verlies zu landen.

Im Jahr 1511 veröffentlicht Erasmus von Rotterdam „Das Lob der Torheit“. Was wie eine Hymne auf Dumme daherkommt, ist satirisch gemeint. Immanuel Kant kritisiert: „Dummheit drängt sich vor, um gesehen zu werden; Klugheit nimmt sich zurück, um zu sehen.“ Ratlos lässt uns Albert Einstein zurück, wenn er vermutet: „Zwei Dinge sind unendlich: das Weltall und die menschliche Dummheit. Beim Weltall bin ich mir allerdings nicht so sicher.“

Allerdings – und das zu deren Ehrenrettung: Der Dummheit, also unklugem Verhalten verdanken wir wesentliche Erfahrungen der Menschheit. Wenn wir denn daraus lernen. Und wenn eintritt, was der Volksmund sagt: „Aus Erfahrung wird man klug.“ Was freilich reale Politik oft widerlegt. Gäbe es zudem keine Narren, wüssten wir weniger von Wahrheiten. Denn Kinder und Narren sagen die Wahrheit. Und schließlich: Dummheit ist ein Motor der Wirtschaft, denn wer schon kauft und konsumiert nicht ständig mehr, als er braucht?

Die Stiefgeschwister der Klugheit

Das sind die Stiefgeschwister der Klugheit: Schlauheit, Bauernschläue, List, Gerissenheit, Tücke, Verschlagenheit, Pfiffigkeit, Verschmitztheit, Kniffe, das Ausklügeln (!), das „Mit-allen-Wassern-gewaschen-sein“? Gar nicht klug sind die „Altklugen“ – oft Kinder und Jugendliche, die von ehrgeizigen und unkritischen (Helikopter-)Eltern, durchaus auch von Medien zu dieser vermeintlichen Klugheit hingepäppelt werden. Der Volksmund hat dafür das Etikett „Klugscheißer“ parat. Nietzsche holt noch weiter aus, wenn er „altkluge und neuweise Schwätzer“ kritisiert.

Ist Klugheit also Bauernschläue, im Sinne Immanuel Kants „praktische Vernunft“? Oder steht Klugheit für Kant im Verdacht der simplen Glückstechnik: als „Geschicklichkeit in der Wahl der Mittel zu seinem eigenen größten Wohlsein“? Sozial oder altruistisch wäre solche Schläue (modern: Cleverness) nicht.

Bei Max Weber bedeutet Klugheit „Zweckrationalität“. Das heißt für ihn: Die praktische Anwendung des Verstandes ist das Wesen der Klugheit. Das kann aber auch blind machen für die Interessen und Rechte anderer. Schlauheit ist sie, wenn sie auf die Überlistung anderer hinausläuft; Verschmitztheit heißt sie, wenn sie anderen zum Nachteil gereicht. Vernünftig sein und klug sein sind jedenfalls zwei sehr verschiedene Eigenschaften. „Kluge“ Zweckrationalität kommt zudem oft moralfrei daher, sie kann im Dienst des Bösen, des Unsozialen, der Sünde stehen. Und zwar ohne den Kant’schen kategorischen Imperativ, der da eigentlich heißt: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Oder umgangssprachlich: „Was du nicht willst, das/dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu!“ Insofern bedarf Klugheit der sozialen Dimension. Das heißt: Zur Klugheit gehört es, die Resonanz der Mitmenschen auf das eigene Urteilen und Handeln antizipierend mitzudenken.

Schweigen als Klugheit?

Bedeutet Klugheit Stillschweigen, im Sinne von „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“? Verschweigen auch von Wahrheit? Aus Gründen der Diplomatie? Es ist dies eine zweischneidige Sache. Nichts zu kommentieren, nie zu widersprechen ist das eine Extrem. Das andere Extrem ist, endlos zu quasseln, alles zu kommentieren. Hier ist Unterscheidungsvermögen notwendig. Von Heinrich Heine lesen wir deshalb zu Recht die boshafte Bemerkung: „Ein Kluger bemerkt alles. Ein Dummer macht über alles eine Bemerkung.“ Und über endlos Schwadronieren sagt Karl Kraus messerscharf: „Es genügt nicht, keine Gedanken zu haben, sondern man muss auch in der Lage sein, sie nicht zum Ausdruck zu bringen.“ Karl Kraus weiter: Es gebe leider Leute, die nicht einmal das für sich behalten könnten, was sie nicht wissen. Hier gilt wahrlich: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Vor allem dann, wenn das Reden zu eitler Geschwätzigkeit und Besserwisserei wird.
Illustration im Grandios Magazin Klugheit
Hier ist einem Ratschlag von Kant zu widersprechen. In seinem Aufsatz „Über Schwärmerei und die Mittel dagegen“ schreibt er: „Gegen redselige Unwissenheit hilft kein weitläufiges Widerlegen, sondern nur verachtendes Schweigen.“ Aber: Damit überlässt man der Dummheit das Feld. Ansonsten aber hat Klugheit immerhin einen großen Vorteil: Er besteht nämlich darin, dass man sich im Bedarfsfall dumm und nichtwissend stellen, also schweigen kann. Das Gegenteil ist schwieriger (sagt Kurt Tucholsky). Oder hat man schon einmal einen Dummen gesehen, der sich klug stellen konnte?

Ist Klugheit lehrbar, erlernbar?

Begrenzt! Klugheit ist nicht einfach eine der zahllosen Kompetenzen, wie sie seit geraumer Zeit die Lehrpläne (Leerpläne?) bevölkern. Die Ingenieure der Curricula lassen auch die Finger von der Klugheit. Denn Klugheit ist nicht operationalisierbar, also nicht für Messoperationen, nicht für Evaluation zugänglich. Klugheit ist auch nicht mit einem Pisa-Test messbar, deshalb kann man auch keine noch so seichten internationalen Vergleiche anstellen.

Dennoch sollte Klugheit ein Erziehungs- und Bildungsziel sein. In Elternhaus und Schule. Die wenigstens näherungsweise Erfüllung dieses Ziels setzt zweierlei voraus: viel Wissen und ein Gespür für die soziale Dimension von Klugheit. Klugheit als reiner Eigennutz allein reicht nicht, das wäre eine Klugheit ohne Ethos, ohne Sittlichkeit, ohne soziale Maßstäbe.

Und viel zu wissen allein macht auch noch nicht klug und weise. Vielwisserei allein macht nicht klug. Das erkannte Goethes Dr. Heinrich Faustus. Dieser sitzt nächtens in seinem engen Zimmer unruhig auf seinem Sessel – und jammert: „Habe nun, ach, Philosophie, Juristerei und Medizin, und leider auch Theologie durchaus studiert, mit heißem Bemühn. Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor …“

Aber umfassendes Wissen hilft immerhin, klug zu urteilen und klug zu handeln. Das gilt zumal für historisches Wissen. Denn wer die Geschichte ignoriert, läuft Gefahr, sie wiederholen zu müssen. Im Großen wie im Kleinen.

Kinder zu klugem Urteilen und Handeln zu erziehen heißt: behutsam die eigene Lebenserfahrung einzubringen. Nicht besserwisserisch und bevormundend! Und: Vorbild sein! Vor allem – bei aller Achtung manchmal notwendigen spontanen Urteilens und Handelns – Vorbild zu sein im Sinne der alten Sentenz: „Quidquid agis prudenter agas et respice finem!” Frei übersetzt: Was immer du tust, handle klug, indem du vorher über die möglichen Folgen deines Handelns nachdenkst! Eltern sollten ihren Kindern – situativ altersgerecht – vorleben, mit ihnen diskutieren, was das bei bestimmten Entscheidungen bedeutet. Es muss dabei ja nicht gerade Schillers „Wilhelm Tell“ aus dem Jahr 1804 herhalten. Dort haben wir den Satz: „Der kluge Mann baut vor.“ Das allerdings sagt die resolute Gattin Gertrud zu ihrem Mann Stauffacher, einem der drei Rütlischwur-Eidgenossen, von denen dann Wilhelm Tell den tyrannischen Landvogt Gessler mit der Armbrust tötet.

Klug durch Erzählen, Vorlesen und Lesen

Hilft das? Ja, auch wenn es in den Familien und in den Schulen zu selten gepflegt wird. Dabei ist das, was man lesen könnte und lesen sollte, über Generationen hinweg aufaddierte und geronnene Klugheitserfahrung. Siehe die Weisheitsliteratur des Alten Testaments. Siehe die Gleichnisse Jesu: Von den ünf klugen und den fünf törichten Jungfrauen; Vom Kamel und dem Nadelöhr; Vom Pharisäer und dem Zöllner; Vom reichen Mann und armen Lazarus; Von den ungleichen Söhnen …

Unkluges über Klugheit - Beitrag im christlichen Magazin Grandios

Was sollte gelesen, in frühem Alter der Kinder in den Familien vorgelesen werden:
Lehrdichtung, Märchen, Fabeln und Parabeln. Etwa der Brüder Grimm: Die kluge Bauerstochter; Die Kluge Else; Hans im Glück; Das tapfere Schneiderlein. Sodann Fabeln von Äsop, La Fontaine, Pestalozzi usw. Hier können mit den Kindern zusammen alternative Handlungsmöglichkeiten diskutiert werden.

Apropos Fabeln: Gerade die Tiersymbolik gibt hinsichtlich Vielschichtigkeit der Tugend „Klugheit“ einiges her. Ja, viele Tiere verhalten sich instinktiv klug – im Interesse ihrer und ihrer Nachkommen überleben. Man spricht zwar nicht vom klugen, jedoch vom schlauen Fuchs. Aber man liest von der schlauen Schlange. Laut Matthäus 10,16 schickt Jesus seine Apostel hinaus in die Welt mit dem Auftrag, klug zu sein wie die Schlangen. Ausgerechnet der „Gott-ist-tot“-Nietzsche greift das biblische Bild der klugen Schlange auf. Sein Zarathustra sieht auf dem Weg zurück vom Berg hinunter zum Volk über sich einen Adler mit seiner Freundin, einer Schlange, um den Hals kreisen. Voller Freude stellt Zarathustra fest: „Das stolzeste Tier unter der Sonne und das klügste Tier unter der Sonne…“ Um anzuschließen: „Möchte ich klug von Grund aus sein, gleich meiner Schlange!“ Hier gelten Schlangen nicht wie im Volksmund als falsche Schlangen.

Und: Mögen sie noch so knapp formuliert sein, gehören – altersgerecht verständliche – Aphorismen zum Haus-„Schatz“. Eine schier unerschöpfliche Sammlung solcher Sentenzen hat Marie von Ebner-Eschenbach (1830–1916) aufgezeichnet: 800 an der Zahl, darunter sehr viele mit pädagogischem Gehalt. Zum Beispiel die folgenden, die man mit Heranwachsenden zur Veranschaulichung und Vertiefung des Nachdenkens über Klugheit reflektieren kann: „Wer nichts weiß, muss alles glauben.“ „Der ans Ziel getragen wurde, darf nicht glauben, es erreicht zu haben.“ „Verwöhnte Kinder sind die unglücklichsten; sie lernen schon in jungen Jahren die Leiden der Tyrannen kennen.“ „So weit deine Selbstbeherrschung geht, so weit geht deine Freiheit.“ „Wer sich keine Annehmlichkeiten versagen kann, wird sich nie ein Glück erobern.“ „Die glücklichsten Sklaven sind die erbittertsten Feinde der Freiheit.“

Am Ende solchen Reflektierens kann ein Zugewinn an Klugheit stehen.

Alle "Klugheit" Beiträge

Online lesen mit Grandios Digital

Um diesen Beitrag lesen zu können, musst du eines der folgenden Produkte kaufen: Grandios Magazin KLUGHEIT +Plus, Grandios Magazin KLUGHEIT Digital, Abo Grandios Digital oder das Gesamtpaket: Abo Grandios +Plus

Suche
Erhalte Einblicke, Angebote & mehr!

GRANDIOS Newsletter

Du möchtest über aktuelle Shop-Aktionen, Einblicke in kommende Ausgaben etc. benachrichtigt werden? Dann melde dich zu unserem monatlichen GRANDIOS Newsletter an!