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Ausgabe 06 Freundschaft

Mein bester Freund ICH

Lesedauer: ca. 8 Min.

Autor: Rudolf Gehrig

Mein bester Freund ICH

Eigentlich war alles angerichtet für den sogenannten perfekten Moment. Ich hielt gerade meine Frau im Arm, ihr Kopf lag auf meiner Schulter, während sich das fahle Mondlicht durch den offenen Fensterspalt sanft mit dem Zirpen der Grillen mischte. Nichts, wirklich nichts könnte diesen Moment voller Romantik mehr stören als die falsche Antwort auf eine scheinbar unwichtige Frage. „Wer ist für dich eigentlich der witzigste Mensch?“ Die Frage meiner Frau kam aus dem Nichts. Ich weiß nicht, warum sie diese Frage stellte und warum ausgerechnet jetzt. Für einen kurzen Moment schreckte ich auf. War dies eine Falle? Doch der Ton, den sie anschlug, war liebevoll und sanft. „Wer ist denn für dich der witzigste Mensch?“, fragte ich zurück, nachdem ich mich vergewissert hatte, dass ihre Frage auf reiner Neugier basierte. Außerdem musste ich etwas Zeit gewinnen.

Selbstliebe und Selbstbewusstsein

„Das gilt nicht“, gab sie sofort zurück, „ich habe zuerst gefragt!“ Es ging ein Weilchen hin und her, doch schließlich hatte ich sie überzeugt. „Na gut“, gestand sie nach einigem Zögern, „ich gebe es nicht so gerne zu, weil du sonst wieder überheblich wirst… aber eigentlich bist du der witzigste Mensch, den ich kenne!“ Ich grinste. Irgendwie hatte ich es doch gewusst. Selbstzufrieden drückte ich sie an mich. Doch nun war ich an der Reihe. Sie dürfe echt nicht sauer sein und es nicht persönlich nehmen, begann ich, aber meine Wahl würde sie eventuell überraschen. Und um Himmels Willen, bitte nicht auslachen! „Na super, jetzt bin ich aber gespannt“, sagte sie, nun doch etwas skeptisch. „Der witzigste Mensch, den ich kenne“, sagte ich feierlich, „bin ich.“ Es bedarf keiner großen Worte um zu erklären, warum es mit der Romantik ab diesem Zeitpunkt vorbei war. „Das kann ja wohl nicht dein Ernst sein“, war der nächste Satz, den ich von meiner Frau hörte, bevor sie sich aus meinen Armen wand und eine Schimpftirade auf mich niederprasseln ließ. „Wie kann man nur so eingebildet sein!“ Ich musste lachen. „Warum überrascht dich das?“, fragte ich sie, während ich dem Kissen auswich, das in meine Richtung flog, „du bist doch oft genug dabei gewesen, als ich einen Witz gemacht habe und der Einzige war, der darüber gelacht hat! Selbst dann, wenn keiner mehr lacht, ich finde mich immer noch lustig…“ „Du bist echt unmöglich, wenn du nur wüsstest, wie unlustig du bist!“

Wer sich selbst nicht ausstehen kann, wird unausstehlich. Sich selbst zu lieben, ist aber etwas völlig anderes als das eigene Ego unerträglich aufzublasen.

Seit ich meine Frau kenne, gehören diese gegenseitigen Neckereien zu unserem Alltag. Der Humor ist ein wichtiger Bestandteil in unsrem Leben und ja – ich halte mich tatsächlich für ziemlich witzig. Auch sonst, finde ich, kann man ganz gut mit mir leben. Ich liebe meine Frau und irgendwie – wie soll ich es nur sagen – kann ich auch mich selbst ganz gut leiden. Sicher, das klingt zunächst total eingebildet. Es ist gar nicht so leicht, eine klare Grenze zwischen gesunder Selbstliebe und krankhaftem Narzissmus zu ziehen. Viel hängt davon ab, woran ich meine Selbstliebe festmache. Ist es mein Aussehen, mein beruflicher Erfolg, mein Auto, mein Bekanntenkreis, mein guter Ruf oder vielleicht sogar nur mein Humor? Oder schaffe ich es, mich um meiner selbst willen zu lieben? Denn das ist gar nicht so einfach. Jemand, der sich selbst liebt, ist fähig, sich selbst anzunehmen. Dies ist die Voraussetzung dafür, um in guter Weise an sich zu arbeiten. Ein Mensch, der dazu fähig ist, tut sich leichter auch mit eigenen Fehlern und Versagen umzugehen. Das Gegenteil von gesunder Selbstliebe ist der Narzissmus. Ein Narzisst überhöht nach außen hin sein Selbstbild – ein Verhalten, das nach Ansicht von Fachleuten darauf zurückzuführen ist, dass häufig Minderwertigkeitsgefühle kompensiert werden müssen. Ein Narzisst, da sind sich Psychologen einig, hat Schwierigkeiten damit, sich selbst und andere wirklich zu lieben. Ob es die Liebe zu mir selbst betrifft oder zu einem Mitmenschen: Liebe geht immer aufs Ganze. Wahre Liebe ist kein Mittel zum Zweck, fragt nicht, welchen Nutzen ich daraus ziehen kann. Wenn ich meine Frau liebe, nur, damit ich nicht alleine bin, dann ist diese Liebe unvollkommen. Selbiges gilt auch für die Liebe zu mir selbst. Bin ich bereit, mich um meiner selbst willen anzunehmen oder will ich durch die Vortäuschung eines starken Selbstbewusstseins meine innere Unsicherheit überspielen? Wenn meine innere Haltung jedoch von einer ehrlichen Liebe zu mir selbst durchdrungen ist, bin ich nicht krampfhaft vom Beifall anderer abhängig. Mein Selbstwertgefühl hängt weder von meinem beruflichen Erfolg noch von der Zuneigung anderer ab.

Niemand mag Angeber

Dennoch: Um eine gesunde Liebe zu mir selbst zu entwickeln, brauche ich andere Menschen. Lieben zu lernen ist einfach, wenn ich mich selbst geliebt weiß. Narzissten dagegen sind häufig Menschen, die sich nicht ausreichend geliebt fühlen und deswegen die verrücktesten Dinge tun, um durch die Aufmerksamkeit der anderen sich ihres eigenen Wertes zu vergewissern. Es sind Menschen, die nicht müde werden, ihre Leistungen zu betonen – manchmal auch ihre angebliche Demut und Bescheidenheit – und auch sonst jede Bühne nutzen, um sich in Szene zu setzen. Oftmals verbunden mit kleineren und größeren Machtspielchen, die das Umfeld herabsetzen sollen, während man sich selbst dadurch scheinbar erhöht. Ich musste mal mit einem solchen Menschen zusammenarbeiten. In seiner Anwesenheit hatte ich stets das Gefühl, dass er sich und der Welt unbedingt etwas beweisen möchte. Das Problem dabei war, dass ihm ein Lob, eine Ermutigung meist nicht ausreichte. Er wollte mehr. Ständig wollte er hören, wie gut er seinen Job machte und dass er unverzichtbar sei. Gleichzeitig vermied er es jene Aufgaben anzupacken, die keinen großen Glanz versprachen.

Er wollte den großen Fang machen, den dicksten Fisch aus dem Wasser ziehen und anschließend als Trophäe am Land herumzeigen. Das Deck schrubben mussten wir anderen. „Der ist aber selbstbewusst“, meinten Besucher bei uns auf der Arbeit mal. Letztlich war jedoch das Gegenteil der Fall: Die innere Unsicherheit und Unreife versuchte er mit herrischem Auftreten zu überspielen. Widerspruch, der sein angekratztes Ego nur verletzt hätte, sollte so von Anfang an verhindert werden. Gleichzeitig nahm er für sich eine höhere Stellung, die es ihm scheinbar erlaubte, andere herabzusetzen. So kam es vor, dass er einmal wieder deutlich zu spät auf der Arbeit erschien, an meiner Bürotür stehen blieb und mich grußlos anblaffte: „Da liegt noch Post unten auf der Treppe.“ Offensichtlich hatte mein Kollege damals neben seinem Narzissmus auch mit einem schweren Rückenleiden zu kämpfen, zumindest konnte ich es mir nicht anders erklären, warum er die Post – es waren vier Kuverts – nicht einfach aufhob und mit nach oben brachte, wenn er ohnehin daran vorbeikam. Wahrscheinlich würde es uns leichter fallen, Mitleid mit solchen Menschen zu haben, wenn wir uns nicht so furchtbar über sie ärgern müssten. Niemand hält es ewig bei einem Menschen aus, der sich und anderen dauernd beweisen muss, wie toll er ist.

Von wem hängt meine Selbstliebe ab?

Eine gesunde Selbstliebe ist eine wichtige Grundlage für mein Leben. Dafür sind die ersten Liebeserfahrungen entscheidend, vor allem die uneingeschränkte Liebe der Eltern. Ein Kind, das sich geliebt weiß und erlebt, dass die elterliche Liebe nicht von den Schulnoten abhängt, geht anders durchs Leben. Ein Mensch, der sich geliebt weiß, kann sich selbst annehmen und ist in der Lage, Liebe zu schenken, ohne seine Defizite zu kompensieren und in erster Linie eigene Bedürfnisse zu bedienen. Ein Partner möchte geliebt werden, ohne dass dafür eine Gegenleistung nötig ist. Aus sich heraus wird er Liebe zurückschenken, die ebenfalls nicht an Bedingungen geknüpft ist. In schlechten Zeiten wird mir meine Frau wieder auf die Beine helfen und mir Kraft geben, wenn ich den Mut verloren habe. Doch wenn ich meine Frau grundsätzlich zur Krücke meines angeknacksten Selbstbewusstseins mache, bekommt unsere Ehe eine Unwucht.

Unsere Liebe basiert auf die radikale Annahme des Anderen, ohne Bedingungen. Viele Menschen haben eine ähnliche Erfahrung mit dem Glauben gemacht. Die Schilderungen unterscheiden sich teilweise, weil jeder einen sehr persönlichen Zugang zu Gott hat. Bei mir war es so, dass ich an bestimmten Punkten meines Lebens, die besonders dunkel und scheinbar aussichtslos waren, auf einmal deutlich wie nie die tröstende und liebende Anwesenheit Gottes spürte. Ich war 16 Jahre alt, als meine Schwester im Alter von drei Monaten plötzlich starb. Ihr Tod ergab keinen Sinn für mich und hat meine bis dahin so heile Welt kaputtgemacht. Auch zehn Jahre später trauere ich immer noch um sie. Und doch durfte ich genau in dieser Zeit die Erfahrung machen, dass es da einen Gott gibt, der mich liebt. Es ist schwer zu beschreiben, da es ein Prozess ist, den ich durchlaufen musste und der zunächst einmal die Offenheit von mir verlangt hat, mich gewissermaßen von Gott berühren zu lassen. Bei all den Zweifeln, die dennoch hin und wieder auftauchen, bleibt die Erinnerung an die Gegenwart des Göttlichen prägend. Diese Erfahrung hat mich innerlich unfassbar freigemacht. Als Christ bin ich ein freier Mensch, weil Gott seinen Sohn geschickt hat, um einem jeden von uns damit höchstpersönlich zu sagen: „Ich liebe dich!“ Gott selbst hat diese Entscheidung getroffen aus einer völligen Freiheit heraus; nicht, weil er die Menschen braucht, sondern weil er sie liebt. Ja, meine eigene Selbstliebe hängt mit dieser Christus-Erfahrung zusammen. Wenn Gott einen Menschen wie mich so sehr liebt, dass er für ihn in den Tod geht, warum sollte ich mich dann nicht auch selbst lieben können? Wenn Gott all die anderen Menschen so sehr liebt, muss es doch auch mir möglich sein, ihnen mit Liebe zu begegnen.

Zweifel? Normal!

Manchmal gibt es trotzdem noch diese Momente der Einsamkeit, in denen ich mich selbst in meinem Freundeskreis wie ein Fremder fühle und es auch nichts bringt, mich vor den Spiegel zu stellen und mir zu sagen, was für ein toller Hecht ich bin. Momente, in denen ich nachts wachliege und in der Dunkelheit auf ein tröstendes Zeichen von Gott warte. Ein Zeichen, das gerade dann oft ausbleibt. Doch wie man in den Evangelien nachlesen kann, waren solche Momente selbst Jesus nicht fremd. Noch am Kreuz hat er den 22. Psalm zitiert. Sein berühmter Anfangsvers lautet: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Auch in diesem Psalm wird schließlich deutlich, dass selbst das Gefühl der Gottverlassenheit vorübergeht. Gegen Ende heißt es: „Du hast mir Antwort gegeben. Ich will Deinen Namen meinen Brüdern verkünden, inmitten der Versammlung Dich loben.“ Seit über einem Vierteljahrhundert bin ich nun Christ. Oft habe ich versucht, Gott „meinen Brüdern zu verkünden“, ihn „inmitten der Versammlung zu loben“, mal mehr, mal weniger erfolgreich. Doch das einzige, was Gott will, ist Liebe – die Liebe zu ihm, zu unseren Mitmenschen und zu uns selbst. Und von dieser Art der Liebe kann es kein „zu viel“ geben.

Autor Rudolf Gehrig