Die Narbe erzählt meine Geschichte – Bera Wierhake

Als Kind wäre Bera Wierhake fast gestorben. Heute macht die Leichtathletin chronisch kranken Menschen Mut.

Die Narbe erzählt meine Geschichte

Bera Wierhake ist eine der weltbesten Leichtathletinnen, die eine Organtransplantation hinter sich haben. Als Kind wäre sie ohne Spenderleber fast gestorben. Die lebensfrohe Sportlerin will vor allem chronisch kranken Menschen Mut machen.
Sie strahlte mit der portugiesischen Sonne um die Wette. Ende Juli hatte Bera Wierhake bei der Europameisterschaft der Organtransplantierten in Lissabon ihre zweite Goldmedaille gewonnen. Über 1.500 Meter war sie ihrer Konkurrenz auf und davon gelaufen. Einige Tage zuvor hatte sie bei 37 Grad Hitze auf der 5.000 Meter-Strecke ihren ersten EM-Titel geholt. Als sie nach der Höhe der Siegprämie gefragt wird, muss sie schmunzeln. „Bei uns gibt es keine Prämien“, sagt sie trocken.
Die deutschen Olympiasieger von Paris bekamen für eine Goldmedaille 20.000 Euro. Davon kann Wierhake nur träumen. „Ich bin schon froh, wenn ich bei meinen Reisen zu den Wettkämpfen nicht draufzahlen muss.“ Die 23-Jährige trainiert, neben ihrem Fulltime-Job bei einem Modeunternehmen, 20 bis 25 Stunden pro Woche. Ohne üppige finanzielle Gegenleistung. „Ich bin dankbar, dass mich mein Verein unterstützt und dass ich am Olympiastützpunkt in Stuttgart trainieren darf.“

Ein schwieriger Start ins Leben

Es ist nicht selbstverständlich, dass Wierhake überhaupt Sport treiben kann. Eine etwa 30 Zentimeter lange Narbe an ihrem Bauch erinnert an ihren schwierigen Start ins Leben. Bei der kleinen Bera aus der Nähe von Heilbronn traten direkt nach der Geburt Komplikationen auf. Die Gallenflüssigkeit floss nicht richtig ab, die Leber drohte zu vergiften. Zwei Wochen nach der Geburt war klar: Das Mädchen benötigt dringend ein neues Organ. Beras Name kam auf eine Warteliste. „Ich war noch zu jung. Bevor man bei mir das Organ tauschen konnte, musste ich erst noch wachsen.“ Für die Eltern begann eine „Horrorzeit“. Das monatelange Hoffen auf die Spenderleber stellte die Familie auf eine harte Geduldsprobe. Die gläubigen Eltern legten Beras Leben in Gottes Hände. „Sie gingen in eine kirchliche Gruppe, in der regelmäßig für mich gebetet wurde. Sie wussten, Gott wird es so machen, wie er es für richtig hält.“

Doch Beras Gesundheitszustand verschlechterte sich zunehmend. “Es war fünf vor zwölf “, erzählt sie, „da tickte die Uhr.” Dann endlich gab es Spenderorgane. Die ersten Transplantations-Versuche in der Klinik in Essen scheiterten. Erst die dritte Leber wurde von ihrem Körper angenommen. Da war die Kleine neun Monate. An diesem 2. Juli 2001 begann für sie ein neues, ihr zweites Leben. Wierhake empfindet heute eine große Dankbarkeit, wenn sie an diesen besonderen Tag denkt – vor allem dem unbekannten Organspender gegenüber. „An diesem Tag starb jemand und ich konnte weiterleben“, sagt sie.

Keine Lust auf Fragen: Badeanzug statt Bikini

Nach der Transplantation gab es noch einige Komplikationen. Aber endlich kehrte wieder etwas Friede bei Familie Wierhake ein. Bera verlebte eine „relativ normale Kindheit“. Sie ging zum Kindergarten und in die Schule. Auch wenn sie häufiger zum Arzt musste als die anderen Mädchen und Jungs, „habe ich nie Ausgrenzung erfahren“. Im Gegenteil. Die Kinder fragten neugierig: Warum hast du diese große Narbe am Bauch? Warum musst du so oft zum Arzt?

In der Pubertät machte ihr die Narbe dann doch zu schaffen. Statt eines Bikinis zog sie lieber den Badeanzug an. Sie hatte keine Lust auf Fragen. Aber dann merkte sie: „Die Narbe erzählt meine Geschichte. Sie ist Teil meiner Identität.“ Nun konnte sie entspannter mit dem Thema umgehen. „Ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht und mich auch nicht als Alien gesehen.“ Auch ihr Glaube half. „Menschen können viel über mich denken. Aber entscheidend ist, was Gott über mich sagt. Ich bin sein Kind.“ Wierhake ist dankbar für ihr Leben – und für die Erziehung ihrer Eltern. Diese packten sie trotz ihrer körperlichen Einschränkungen nie in Watte. Sie machten keine Unterschiede zwischen Bera und ihren zwei Schwestern.

Schon als Kind "Hummeln im Hintern"

Auch wenn sie wegen ihrer Narbe viel liegen musste, Bera wollte sich immer bewegen. Das Mädchen hatte „Hummeln im Hintern“.

Sie ging zum Kinderturnen, zum Ballett und zum Reiten, sie probierte es mit Fußball. Davon waren ihre Ärzte nicht begeistert. „Ich sollte keinen Sport machen, bei dem ich etwas in den Bauch bekommen konnte“, erinnert sie. Mit 15 blieb sie bei der Leichtathletik hängen. Mittelstreckenlauf. Das sind Distanzen zwischen 400 und 5.000 Meter. In ihrer Stimme schwingt Begeisterung. „Hier entscheidet nicht nur der Körper, sondern auch der Kopf. Du musst deinen inneren Schweinehund überwinden, es geht im Rennen um Taktik und Strategie. Ich lerne dabei viel über meinen Körper und meinen Geist.“

Wierhakes Titelsammlung ist beeindruckend. Sie ist mittlerweile siebenfache Weltmeisterin über 400, 800, 1.500 sowie 5.000 Meter und vierfache Europameisterin. Natürlich
ist das Leistungsniveau Transplantierter begrenzter. „Ich würde es bei Wettkämpfen für gesunde Menschen bis zu den Süddeutschen Meisterschaften schaffen“, sagt sie. Ihr großes Ziel ist die Teilnahme an „normalen“ deutschen Meisterschaften. Doch das scheint utopisch.

„Die Normalos sind von ihrer körperlichen Fitness her auf einem anderen Level.“ Noch immer muss Wierhake Medikamente nehmen, damit ihr Körper das fremde Organ nicht abstößt. Ihr Immunsystem ist anfälliger für Infekte, Regenerationszeiten dauern länger.

Gegen den Rat der Ärzte: Australien-Reise mit 17

Kein Wunder, dass ihre Ärzte aus allen Wolken fielen, als sie nach dem Abitur mit 17 beschloss, für sechs Monate nach Australien zu reisen. „Ich wollte trotz Transplantation auch Risiken im Leben eingehen. Das ist meine persönliche Geschichte, die nicht für jeden funktioniert. Aber ich wollte wissen: Was kann ich mir zutrauen? Ich lernte, meinen Körper gut einzuschätzen. Ich erlebte Dinge, die ich nicht missen will.“

In Australien lernte sie neue Freunde kennen – und auch sich selbst. Ihr Glaube wurde erwachsen. „Er war durch meine Erziehung zwar schon immer Teil meines Lebens. Aber was hatte das persönlich mit mir zu tun?“ Während ihrer Reise entdeckte sie, wie wertvoll eine persönliche Beziehung zu Gott ist. In der Bibel stieß sie auf einen Mutmacher-Vers: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen.“ (Psalm 18,30)

Alle, die Wierhake kennen, beschreiben sie als Mensch voller Energie, Optimismus und Frohsinn. Sie lacht gern und viel, wirkt dabei nie oberflächlich. „Ich bin überzeugt, dass Gott einen Plan für mich hat“, sagt sie. „Sonst wäre ich nicht mehr hier. Ich habe durch die Transplantation ein großes Geschenk bekommen. So konnte sich diese Lebensfreude entwickeln.”

Sensibilisierung für das Thema Organspende

Aber sie kennt auch Rückschläge und Zweifel. Die Frage nach dem Warum hat sie sich oft gestellt: Warum ausgerechnet ich? Auch wenn ihre Blutwerte schlecht sind, hadert sie. Dann muss sie gut ausbalancieren, welche Belastungen sie ihrem Körper zumuten kann. „Ich mache mir bewusst, dass ich diese Umstände nicht ändern kann. Aber ich kann beeinflussen, wie ich darauf reagiere. Ich konzentriere mich nicht auf Worst-Case-Szenarien, sondern frage immer: Was ist das Beste, das ich aus dieser Situation machen kann?“ Diese Haltung hilft ihr, ihren inneren Frieden zu bewahren.

Aufgrund ihrer eigenen Lebensgeschichte wünscht sie sich in der Gesellschaft eine Sensibilisierung für das Th ema Organspende. Letztlich müsse jeder diese Entscheidung für sich treff en. „Jeder spendet nach seinem Tod ohnehin seine Organe. Die einen den Regenwürmern, die anderen geben es als Geschenk an diejenigen weiter, die es nötig haben.“ Sie selbst ist das beste Beispiel dafür, warum es so wichtig sein kann, einen Organspende-Ausweis mit sich zu tragen. „Sollte einem etwas passieren, kann dieser Ausweis einem oder mehreren Menschen eine Chance auf ein neues Leben geben. Ich wäre heute nicht hier, hätte mein Spender bei seinem Unfall keinen solchen Ausweis bei sich gehabt.“

Gesprächspartnerin und Mutmacherin

Neben Beruf und Training hält Wierhake Vorträge zum Th ema Transplantation. Sie will aufk lären und betroff enen Patienten und deren Familien zur Seite stehen. In Kliniken steht sie als Gesprächspartnerin und Mutmacherin zur Verfügung.

Vor allem Menschen mit einer chronischen Erkrankung liegen ihr am Herzen. „Ich wünsche mir, dass sie ihr Leben in Farben gestalten.“ Sie spricht viel mit Eltern, die vor Transplantationen bei ihren Kindern große Sorgen haben. Oder sie erklärt Medizinstudenten, wie sich Menschen mit einem fremden Organ fühlen.

Bei diesen Gesprächen bringt sie auch ihren Glauben ins Spiel. „Gott ist trotz aller Schicksalsschläge ein guter Gott. Er verändert vielleicht keine Lebensumstände, aber er kann unsere Herzenshaltung verändern. Ich kann nicht tiefer fallen als in seine Hände. Diese Gewissheit gibt mir inneren Frieden.“

Voller Vorfreude denkt sie an ihren nächsten sportlichen Höhepunkt. Die World Transplant Games werden im August 2025 in Dresden ausgetragen. Wierhake ist Botschaft erin dieses großen Events. „Wir Athletinnen sind nicht nur Wettbewerber, sondern auch Mitglieder einer besonderen Familie. Wir stützen uns gegenseitig auf vielen Ebenen und machen uns Mut.“

Sie sind eine Schicksalsgemeinschaft . Jede Transplantierte hat ihre eigene besondere Geschichte. „Wir feiern gemeinsam das Leben“, sagt Wierhake – und strahlt mal wieder mit der Sonne um die Wette.

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