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Ausgabe 06 Freundschaft

Wenn der Nebel sich legt

Lesedauer: ca. 12 Min.

Autor: Benedikt Bögle | Fotografie: Bernhard Spoettel

WENN DER NEBEL SICH LEGT

Wer die 111 Kilometer Fußmarsch nach Altötting hinter sich hat, kennt das Gefühl: Die Kälte des noch dunklen Morgens, der nasse Tau auf den Wiesen und Bäumen, der dichte Nebel, der langsam aber sicher den ersten Sonnenstrahlen weicht. Ähnlich geht des den Pilgern: Kilometer für Kilometer lassen sie den Alltag, der die Sicht auf das Wesentliche oft verschleiert, hinter sich. Der Kopf wird frei, das Herz öffnet sich. So entsteht Raum für die Beziehung zu sich selbst, zu den Mitmenschen, zu Gott und für die Erfahrung gelebter Gastfreundschaft. Rund 8.000 Menschen gehen diese Strecke Jahr für Jahr. Die 191. Fußwallfahrt zur schwarzen Madonna musste wegen Corona abgesagt werden, ausgefallen ist sie nicht.

Hannes Lorenz steigen Tränen in die Augen. Er stockt. Wenn er daran denkt, kann er nicht weitersprechen. So sehr hatte er sich auf diesen Augenblick gefreut. Jedes Jahr wartet er darauf. Diesmal hat ihm Corona einen Strich durch die Rechnung gemacht. Eigentlich sollte er mit rund 8.000 anderen Menschen am Kapellplatz im oberbayerischen Wallfahrtsort Altötting stehen. Dort hätte er Frauen und Männer gesehen, die in drei Tagen mehr als 100 Kilometer zu Fuß zurücklegen hätten, um zur „Schwarzen Madonna“ zu pilgern. Er hätte Eltern gesehen, die nach dem langen Fußmarsch ihre daheim gebliebenen Kinder zur Begrüßung zu sich ziehen und umarmen. „Du merkst: die haben den ganzen Weg für ihre Familien gebetet. Und jetzt sind sie wieder zusammen“, sagt Pfarrer Lorenz. Er klingt traurig. Denn aus der bewegenden gemeinsamen Ankunft in Altötting wurde heuer nichts.

Pfarrer Hannes Lorenz

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Wen kümmern schmerzende Füße, wenn das Herz brennt?

Hannes Lorenz ist Pfarrer in Nabburg. Zugleich ist er als Pilgerpfarrer für die Regensburger Fußwallfahrt zuständig. Zum 191. Mal sollte die Wallfahrt in diesem Jahr stattfinden. 1830 ging ein frommer Bauer zum ersten Mal zu Fuß von Regensburg nach Altötting – und sammelte immer mehr Menschen um sich. Jahr für Jahr wurden es mehr. Regelmäßig gehen nun etwa 8.000 Menschen aus dem Bistum Regensburg und darüber hinaus bei dieser Wallfahrt mit.

In den drei Tagen vor Pfingsten legen sie 111 Kilometer von Regensburg nach Altötting zurück. Betend und singend. Die Strecke ist eine Herausforderung. Da lernt man sich kennen. Man teilt Sorgen und Freude und die Schmerzen an den Füßen. Aber wen kümmern die Füße, wenn das Herz brennt? Miteinander unterwegs zu einem gemeinsamen Ziel: Das schweißt zusammen. Solche Weggemeinschaft lässt Freundschaften wachsen. Doch dieses Jahr konnte die Wallfahrt wegen der Pandemie nicht stattfinden.

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Meter für Meter den Alltag hinter sich lassen

Die Absage schmerzte auch Bernhard Meiler. 2020 wäre er zum 38. Mal dabei gewesen. Seit vielen Jahren ist er der Pilgerführer. Meiler koordiniert die Wallfahrt, plant den Weg, sorgt sich um Übernachtungsmöglichkeiten für die Pilger. „Die Regensburger Fußwallfahrt ist ein Teil meines Lebens“, sagt er. „Lieber würde ich drei solcher Wallfahrten in einem Jahr organisieren, als eine einzige ausfallen zu lassen.“ Wie auch in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten wollte er seinen Dank zur Muttergottes nach Altötting bringen. Dank dafür, dass alle in der Familie gesund sind, dass es dem Enkel gutgeht.

Wie Meiler geht es Pilgerpfarrer Lorenz: „Die Wallfahrt ist für mich ein Höhepunkt im Jahr. Diesen Höhepunkt zu lassen, fällt mir unglaublich schwer“, sagt er. Der Verzicht fällt auch deshalb so schwer, weil er viele langjährige Weggefährten heuer nicht sieht. „Auf dem Weg trifft man Menschen. Man kommt ins Gespräch, knüpft Kontakte. Im nächsten Jahr sieht man sich wieder, erkennt sich und freut sich“, erzählt Lorenz.

Pilgerführer Bernhard Meiler
Christina Greger

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Erschöpft, aber frei wie selten

„Auf dem Weg öffnen sich Herzen und Menschen“, beschreibt der Pfarrer das Geheimnis des Pilgerns. Er weiß nur zu gut: Beim Start in Regensburg sind viele Pilger noch mit den Gedanken im Alltag, beim Job, bei den vielen kleinen Problemen. Auf dem Weg aber ändert sich etwas. Sie beten gemeinsam, setzen sich Wind und Wetter aus, laufen sich Blasen, sind erschöpft – und fühlen sich doch frei wie selten. „Die Leute gehen nach Altötting, um wieder Kraft zu tanken“, betont Lorenz. Meter für Meter lassen sie den Alltag hinter sich.

Christina Greger kennt das. Zum 14. Mal wäre die 26-Jährige dieses Jahr nach Altötting gegangen. Als junges Mädchen hat sie ihren Vater zum ersten Mal begleitet. „Man ist für drei Tage raus, kann vom Alltag abschalten. Man geht einfach los, der Kopf ist frei. Ich muss mich um nichts kümmern“, meint die Wackersdorferin. Sobald sie aus dem Haus geht, deaktiviert sie WhatsApp und checkt ihre Nachrichten erst, wenn sie wieder daheim ist.

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Der Punkt, an dem nichts mehr geht

Jedes Jahr findet sie den Weg anstrengend. Jedes Jahr kommt sie wieder an einen Punkt, an dem sie denkt: Es geht nicht mehr. „Es sind aber trotzdem drei entspannende Tage. Anstrengend für den Körper, aber entspannend für den Kopf“, sagt Christina. Man werde innerlich frei. „Die Gemeinschaft zieht einen einfach mit“, meint sie. Auch wenn man selbst nicht mehr könne. Die Pilger schauen aufeinander. Sie achten auf den anderen.

Nachts auf der Eckbank

Für die Nacht brauchen die Pilger eine Unterkunft. Familien nehmen die Wallfahrer auf. Lydia und Markus Kleiner aus Moosthenning tun dies seit Jahrzehnten. Vor 60 Jahren beherbergte Lydias Mutter einen Pilger. Damals war Lydia ein 10-jähriges Mädchen. Jahre später – da war sie bereits verheiratet – übernahm sie mit ihrem Mann die Versorgung der Pilger. „13 Pilger kommen regelmäßig, es waren aber auch schon einmal 17“, berichtet Lydia Kleiner. „Das gehört einfach dazu. Es würde mir gar nicht passen, wenn die Pilger irgendwann nicht mehr zu uns kämen“, sagt sie. Jeder Pilger bekommt bei den Kleiners ein Bett.

Das Ehepaar selbst nächtigt auf der Eckbank. Das Haus ist voll. „Ganz wichtig ist das Essen“, sagt Lydia. Es gibt Gulaschsuppe, Fleischpflanzerl, Schnitzel, Kartoffelsalat, Nudelsalat und Wurstsalat. Das hat Tradition.

Wenn Kleiners über „ihre Pilger“ sprechen, wirkt das, als sei es selbstverständlich, Jahr für Jahr eine so große Truppe aufzunehmen und zu versorgen. Aus gelebter Gastfreundschaft haben sich über die Jahre tatsächlich Freundschaften entwickelt. Wenn man gemeinsam am Tisch sitzt, erzählt man sich, was im vergangenen Jahr passiert ist. Gibt es etwas zu feiern, trinkt man ein Glas Sekt. „Man kann sich gar nicht vorstellen, was das für eine Freude ist, wenn die Pilger wieder kommen“, sagt Lydia.

Lydia Kleiner aus Moosthenning
Markus Kleiner aus Moosthenning

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Warum Gastfreundschaft ein Megathema ist

Wie die Kleiners geben viele Familien Jahr für Jahr den Wallfahrern Quartier. Bisher hat noch jeder der achttausend Pilger einen Platz zum Schlafen bekommen. „Wenn man will, geht alles“, meint Markus Kleiner. „Ich selbst habe in meinem Leben viel Gastfreundschaft erlebt. Und genauso will ich selber gastfreundlich sein.“

Aus christlicher Sicht ist Gastfreundschaft ein Megathema: Gäste soll man aufnehmen wie Jesus Christus selbst, schreibt etwa der heilige Benedikt von Nursia in seiner Ordensregel. Wenn ein Fremder auf Hilfe, auf eine Übernachtungsmöglichkeit und auf Verpflegung angewiesen ist, zeigt sich Nächstenliebe konkret.

Tausche Ehebett gegen Couch

„Freundschaft ist nicht eine flüchtige und vorübergehende Beziehung, sondern beständig, fest, treu; sie reift im Laufe der Zeit. Sie ist eine Beziehung der Zuneigung, die uns untereinander verbindet, und zugleich ist sie eine großzügige Liebe, die uns das Wohl des Freundes suchen lässt“, schreibt Papst Franziskus zum Abschluss der Jugend-Synode im Vatikan (Christus vivit 152). Das durfte auch Familie Huber erfahren. Die Familie aus Öd bei Dingolfing nimmt seit Jahrzehnten Pilger auf. Mittlerweile ist ein Kreis aus Freunden entstanden. Irgendwann hatten zwei Pilger keinen Platz mehr bekommen. „Wir haben sie natürlich aufgenommen. Sie haben das Ehebett bekommen und wir sind auf die Couch gezogen“, erinnert sich Marianne Huber. Damit hat es begonnen, seither kommen die Pilger jährlich. „Gastfreundschaft heißt, jemanden als Gast gerne bei mir aufzunehmen“, sagt Franz Huber. „Ohne diese Freundschaften würde die Wallfahrt gar nicht funktionieren.“

Der Weg ist befreiend

Gastfreundschaft verändert: Aus Fremden werden Freunde. „Pilger und Gastleute haben das Jahr über Kontakt zueinander. Man telefoniert, schickt sich Fotos“, erzählt Pilgerpfarrer Lorenz. Der Weg mache innerlich frei. Damit ebne er Wege zueinander, ist Lorenz überzeugt. „Warum haben denn die Menschen so wenig Freude? Weil sie unter tausend anderen Dingen verschüttet ist“, meint er. Auf dem Weg würden sich diese Dinge lösen. „Die Freude kommt zum Vorschein.“ Bei vielen Pilgern könne man merken, wie sie auf dem Weg offener und herzlicher würden. „Erleichterung und Befreiung sind wirklich greifbar“, betont Lorenz.

Familie Huber von der Öd bei Dingolfing

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„Entscheidend ist, wohin man geht“

„Nicht der Weg ist das Ziel. Jeder Weg, der kein Ziel hat, wird ziellos“, sagt der Pilgerpfarrer. Das gemeinsame Ziel heißt Altötting. Seit mehr als 500 Jahren ziehen Menschen zum Gnadenbild von Altötting, um dort ihr Herz auszuschütten. Sie bringen ihre Anliegen und Nöte, aber auch ihre Freude und ihre Dankbarkeit. „Du spürst: Da sind viele, die genauso denken wie du. So viele unterschiedliche Menschen haben plötzlich ein gemeinsames Ziel.“ Miteinander unterwegs, einem gemeinsamen Ziel entgegen, bei Wind und Wetter, durch dick und dünn, das schafft Gemeinschaft. „Der Weg verbindet und verwischt gleichzeitig Unterschiede“, berichtet Pfarrer Lorenz. Es sei nicht mehr wichtig, welchen Beruf jemand habe oder wo er herkomme. „Entscheidend ist, wohin man geht. Und das ist bei allen dasselbe Ziel: Altötting.“

Durch Corona nicht zu stoppen

Dieses Jahr mussten viele auf die liebgewonnenen Begegnungen verzichten, auf den gemeinsamen Weg, auf gemeinsames Beten und gute Gespräche, darauf Gast oder Gastgeber zu sein. Das schmerzt. Die Organisatoren wie die Wallfahrer oder die Gastfamilien. „Mir hat eine unserer Pilgerinnen geschrieben: Heute wäre der Tag, an dem wir bei euch wären“, erzählt Gastgeberin Marianne Huber wehmütig. Die Pandemie hat das unmöglich gemacht.

Aber auch unter veränderten Corona-Bedingungen sind etliche aufgebrochen. Christina Greger zum Beispiel. Sie hat sich mit dem Fahrrad auf den Weg nach Altötting gemacht. Gemeinsam mit ihrem Freund Stephan. Der war mit seinen Eltern auch früher schon bei der Wallfahrt dabei. Gesehen haben sich die beiden dort nie – später aber festgestellt, dass die Regensburger Fußwallfahrt für beide zum festen Jahresprogramm gehört.

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Der Jakobsweg und Pilgern im Bistum Regensburg

Aufbrechen, seinen Füßen und Gedanken freien Lauf lassen, sich von neuen Perspektiven und Begegnungen inspirieren lassen, Gemeinschaft erfahren, Freundschaft vertiefen – mit Gott und untereinander: All das macht Pilgern aus. Die Katholische Erwachsenenbildung im Bistum Regensburg (KEB) bietet in ihrem Programm zahlreiche Möglichkeiten, das Thema Pilgern zu vertiefen. Zum Beispiel mit einer der Pilgerwanderungen der KEB.

Für 2021 hat sich die KEB darüber hinaus etwas Besonderes einfallen lassen. Dabei geht es um den berühmtesten aller Pilgerwege, den Jakobsweg. Denn 2021 ist ein „Heiliges Jahr“. Das wird im spanischen Santiago de Compostela immer dann gefeiert, wenn der Festtag des heiligen Apostel Jakobus (25. Juli) auf einen Sonntag fällt. Die KEB nimmt dies zum Anlass, zahlreiche Veranstaltungen anzubieten, die sich mit dem Pilgern befassen und auch die lokalen Jakobus-Traditionen im Bistum Regensburg in den Blick nehmen. Im Zentrum steht die Ausstellung „Jakobsweg und europäische Identität“ mit 40 großformatigen Fotos von den tschechischen und ostbayerischen Jakobswegen von Prag und Pilsen nach Regensburg.

Ein ständig aktualisierter Überblick über die geplanten Veranstaltungen rund um die Themen Jakobsweg und Pilgern einschließlich aller Orte, an denen die Foto-Ausstellung zu sehen sein wird, findet sich auf: www.keb-regensburg.de.

Der Anliegenrucksack für die schwarze Madonna in Altötting getragen von Bischof Rudolf Voderholzer.
Bischof Rudolf Voderholzer und Pilgerführer Bernhard Meiler auf dem Weg zur schwarzen Madonna in Altötting.

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Abgesagt, aber nicht ausgefallen

Auch Pfarrer Lorenz hat sich den Weg nicht nehmen lassen. Mit seiner Haushälterin ist er die ganze Strecke gegangen. Es war der gleiche Weg wie sonst und dennoch ganz anders. „Die Wallfahrt musste zwar abgesagt werden, ausgefallen ist sie aber nicht“, sagt der Pfarrer. Auf dem Weg hat er andere Pilger gesehen und deren Namen in einem kleinen Buch gesammelt.

Auch Bischof Rudolf Voderholzer ging zusammen mit Pilgerführer Meiler ein Stück des Weges. Der Bischof trug einen Rucksack mit vielen Anliegen nach Altötting. In den Wochen vor seiner Wallfahrt konnten Gläubige im Regensburger Dom Zettel abgeben, auf die sie schrieben, was ihnen auf dem Herzen lag. Wofür sie bitten wollten, wofür sie Danke sagen möchten. Bischof Rudolf brachte diese Anliegen zur Gnadenmutter nach Altötting.

Gemeinsam ist man weniger allein

„Davon lebt das Christentum: dass einer für den anderen da ist“, sagt Pfarrer Lorenz. Davon lebt auch die Wallfahrt – und eben das macht auch Freundschaft aus. Die Pilger könnten den Weg einzeln zurücklegen, jeder für sich. Aber erst die Gemeinschaft macht aus vielen Wegen einen gemeinsamen. Umso mehr freut sich Pfarrer Lorenz, im nächsten Jahr wieder mit allen anderen zu gehen, alte Freunde wiederzusehen. „Nächstes Jahr in Altötting – oder im Himmel droben“, sagt Lorenz. Diesmal lacht er.

„Schwarze Madonna“ in Altötting

Ein Buch voller Pilger

Ein Dokument das zeigt, trotz der schwierigen Lage im Jahr 2020 fand genauso wie in den Kriegsjahren die Regensburger Wallfahrt nach Altötting statt. Ein Buch voller persönlicher Begegnungen von Pfarrer Hannes Lorenz auf seinem Pilgerweg.