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Ausgabe 05 Geschenk

Wenn Musik Biographien verändert

Lesedauer: ca. 6 Min.

Autor: Tobias Liminski | Fotos: Bernhard Spoettel

Wenn Musik Biographien verändert

Der Kubaner Moisés Santiesteban gehört zu den talentiertesten Musikern seines Landes. Der zweifache Familienvater ist einer der ersten Studenten aus Kuba, die in Regensburg ihren Abschluss in Kirchenmusik machen. Seit inzwischen 13 Jahren gibt es die Zusammenarbeit zwischen dem karibischen Inselstaat und der Hochschule für katholische Kirchenmusik und Musikpädagogik in Regensburg (HfKM). „Ich will Orgel spielen. Ich will der erste Organist in der neuen Generation Kubas werden.“ Nicht mehr, aber auch nicht weniger wollte der für die Musik brennende Lateinamerikaner Moisés. Dass sich mit seinem Wunsch auch sein Leben komplett verändern würde, war ihm nicht bewusst.

„Dafür wäre ich nie nach Kuba geflogen“, sagt Stefan Baier, der Rektor der Hochschule für katholische Kirchenmusik und Musikpädagogik. „Keiner käme auf die Idee, in die Karibik zu fliegen, um den Leuten Orgel spielen beizubringen. Das ist vollkommener Schwachsinn.“ Damals fliegen er und Claudia Gerauer auf Einladung von Miriam Escudero nach Havanna. Eigentlich, um auf einem Festival mit Claudias Ensemble zu spielen. Völlig unvorbereitet auf das, was dort auf sie wartet.

„Die Einladung im Jahre 2006 war eine Fügung“

Aus dem Konzert wird schnell mehr, denn die kubanischen Gastgeber erkennen ihre Chance. „Wir dachten, wir fliegen da hin, spielen auf einem Musikfestival und fliegen wieder. Aber kaum war das Konzert vorbei, haben wir eine Woche lang Tag und Nacht nur unterrichtet“, erinnert sich Stefan Baier kopfschüttelnd. Kuba war nahezu verschlossen, kaum eine Information drang auf die Insel. Alle an Alter Musik und Orgelspiel interessierten Kubaner versuchen damals an Noten und Fachwissen zu kommen. „Und so sind wir unvorhergesehen in eine Rolle gerutscht, die wir uns gar nicht vorstellen konnten. Ohne es böse zu meinen – wir wurden regelrecht belagert, mit Fragen überhäuft: ‚Wie macht man das, wie kann man das spielen?‘“ Für die beiden Hochschuldozenten trotz unzähliger Unterrichtsstunden eine neue, ungewohnte Situation.

Nach 35 Jahren klingt sie wieder

Ein Festival und eine Woche Unterricht waren nicht genug. In den Folgejahren wiederholt sich das Spiel: Stefan und Claudia fliegen wieder nach Kuba, um an einem Festival teilzunehmen. Zeitgleich unterrichten sie die jungen kubanischen Musiktalente. Für beide wird der Unterricht zur Herzensangelegenheit, die Musik auf dem Festival fast Nebensache. 2008 kommt ein weiteres Highlight hinzu: Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil wird die erste von Kubanern restaurierte Orgel eingeweiht. „Du bist doch Organist. Kannst Du nicht einen Kurs halten, es gibt hier keine Organisten“, wird Stefan Baier gefragt. Er zögert nicht. Keine Frage. Was für ein Moment! Seit 35 Jahren ist auf Kuba keine Orgel mehr erklungen. „Das war wie ein neues Instrument“, schmunzelt Baier. „Ein riesen Eröffnungskonzert mit Kollegen aus Spanien und Frankreich. Eine Woche Orgelkonzerte auf einer Orgel, die acht Register hatte. Fast zwei Generationen haben dieses Instrument, diese Musik nicht mehr gehört oder gekannt – in Deutschland unvorstellbar.“ Stefan Baier kann es bis heute kaum glauben: „Was für ein Geschenk, als Musiker hier dabei gewesen sein zu dürfen! Eine ältere Dame hat nach dem Konzert mit der kleinen Orgel vor Freude sogar geweint.“

Das musikalische Aushängeschild Kubas

Und 2009 steht er dann da: Moisés Santiesteban. Und sagt, er möchte Orgel spielen lernen. „‚Gut‘, habe ich dann gesagt, ‚fangen wir halt mal an‘“, erinnert sich Baier. Moisés ist damals ein Jungstar der kubanischen Klavierszene: Er soll einmal als Aushängeschild Kuba in der Welt repräsentieren.
Moisés bekommt seine erste Orgelstunde, nur eine erste Einführung. „Mehr ist in der Kürze der Zeit nicht drin“, denkt sich Stefan Baier. „Dann komme ich ein Jahr später zurück und da spielt mir dieser Moisés, der sich offenbar ein Jahr lang die Finger wund geübt hat, wie ein Wahnsinniger auf der Orgel Stücke vor. Mir blieb die Spucke weg!“ Moisés nimmt damals jedes Wort ernst: was Stefan Baier ihm sagt, ist Gesetz. Das Ergebnis macht den Professor aus Regensburg sprachlos.
Für Moisés ist jede Minute an einem Instrument ein Geschenk. „Mein musikalisches Talent habe ich von Gott geschenkt bekommen. Und Eltern, die dieses Geschenk Gottes gesehen und gefördert haben“, sagt Moisés. Mit Musik drückt sich der junge Familienvater aus: Seine Gefühle. Seine Gedanken. Seine Dankbarkeit. Dankbarkeit auch dafür, mit so viel Talent und Durchhaltevermögen gesegnet zu sein.

Musik als Tor in die Freiheit

Sein Mentor Baier sieht, dass Moisés ein musikalischer Rohdiamant ist und will ihn fördern. „Ich bin dann zum damaligen Bischof gegangen und habe ihm das Ganze erzählt und gesagt, ich hätte da einen, der könnte blockweise nach Regensburg kommen, aber das müsste irgendwie finanziert werden.“ Das Gespräch dauert keine fünf Minuten. Bischof Gerhard Ludwig Müller sieht das Potenzial, das in dem Projekt steckt und zögert nicht lange: „Klar, machen wir.“ Der Bischof sieht die Chance für einen Dialog vor Ort, mit den Menschen in Kuba.

Moisés Santiesteban sieht die Chance, Organist zu werden. Als er nach Deutschland kommt, gehört er einer Freikirche an, so wie seine Frau und alle in seiner Familie. Mit der katholischen Kirche kann er nur bedingt etwas anfangen. Sein Theologie- und Musikstudium, der Austausch mit der HfKM, das Leben in Regensburg lassen ihn an seinem bisherigen Glaubensweg zweifeln. Fünf Jahre sucht er nach der Antwort auf seine Fragen: Warum bin ich hier? Warum bin ich talentierter Musiker? Warum bekomme ich das alles geschenkt? Moisés sucht seine spirituelle Heimat. Es ist die Musik im Regensburger Dom, die ihm die Antwort gibt.
„Als ich das erste Mal im Regensburger Dom eine Messe besucht habe, bin ich von der Wucht der musikalischen Darbietung regelrecht aufgewühlt worden. Was für ein Geschenk! Ich habe fürchterlich geweint vor Freunde. Ich habe geweint, weil ich mir gedacht habe, merken die Menschen, die hier mit den exzellenten Domspatzen und dem wunderbaren Organisten singen dürfen, was sie da machen? Ich war total beeindruckt. Das alles hat mich emotional erschlagen. Eine Stunde nur hat es gebraucht, um zu erkennen: Diese Schönheit, diese Kunst. Diese Freude. Das alles nur für Ihn. Das alles galt Ihm. Gott, der uns erlöst hat.“

Eine Orgel für die Kathedrale von Havanna

Inzwischen organisiert Moisés die Aufenthalte und Konzerte in Kuba maßgeblich mit. Er ist eine Art Bindeglied zwischen der Diözese Regensburg und dem Erzbistum Havanna, der HfKM und dem Lehrstuhl für Kirchenmusik in Kuba geworden. „Wir wollen eine Orgel in die Kathedrale von Havanna bauen, eine richtige Orgel“, führt Stefan Baier mit leuchtenden Augen aus. Was das für Kuba bedeuten würde! Eine richtige Orgel. Dafür braucht es Menschen, die sie spielen können. Mit Moisés gewinnt der Austausch an Fahrt. Inzwischen studieren weitere Kubanerinnen und Kubaner an der Hochschule in Regensburg. „Was entstanden ist“, erklärt Stefan Baier, „ist ein sogenanntes ‚Diplomado‘, eine Ausbildung für Kirchenmusik, die zwei Jahre dauert.“ Mit dem „Diplomado musica sacra“ erwerben die Studenten Grundkenntnisse in Chorleitung, Gesang, gregorianischem Gesang, Orgel- und Literaturspiel. Drei Studenten haben bereits ihren Abschluss gemacht.
„Die Musik verändert deren Leben“, sagt Stefan Baier. Sein Schüler Moisés stimmt zu. Der Respekt vor dem Talent und die gemeinsame Leidenschaft für die Musik lassen aus dem anfänglichen Lehrer-Schüler-Verhältnis eine tiefe Freundschaft entstehen. „Meine Kinder nennen den Professor immer ‚Tio’ Stefan, ‚Onkel‘ Stefan. Und Claudia ist ‚Tia‘ Claudia, ‚Tante‘ Claudia. Sie sind Teil meiner Familie geworden. Ich habe den beiden viel zu verdanken – nicht nur das Orgelspielen.“

Der Bischof kommt

Moisés hat sein Leben mithilfe des Projekts „HfKM und Kuba“ neu ausgerichtet. Nach langer Suche hat der begnadete Musiker seine religiöse Heimat gefunden. Nicht nur für sich. Das hätte er sich wohl selbst nie ausgemalt, dass er und seine Familie einmal katholisch getauft sein werden oder dass er und seine Frau noch einmal katholisch heiraten. Und auch Stefan Baiers Sicht auf die Geschenke des Lebens hat sich verändert: Sein Blick, die Wertschätzung für vermeintlich kleine Dinge, die vielen kleinen und großen Geschenke des Alltags. Kuba ist sich der Rolle der Kirche bei der Wahrung des geistlichen Musikrepertoires über die liturgischen Grenzen hinaus bewusster geworden. Einschließlich ihrer Teilnahme an der kubanischen Kulturszene. Die Freundschaft zu Moisés hat sich entwickelt. Die Musik hat ihre Biographien verändert. Zwei Welten prallten damals in Kuba aufeinander. Die Musik hat die beiden zusammengeführt. Als Bindeglied, das Grenzen überwindet.
2020 kommt Bischof Rudolf Voderholzer nach Kuba. Moisés ist stolz, ihm seine Heimat zeigen zu dürfen. Stefan Baier und die HfKM konnten hier mit der Unterstützung der Regensburger Bischöfe bereits unglaublich viel aufbauen. Organist Moisés wird die Messfeiern auf der Orgel begleiten. Er ist sich sicher: die Kubaner werden beim Besuch des Bischofs zeigen, was für eine Kraft die Musik auch für die Liturgie in Kuba hat. Auch wenn die elektrische Orgel in der Kathedrale von Havanna keine echten Orgelpfeifen besitzt.
Die Pilgerfahrt mit Bischof Rudolf in die Karibik wird nicht nur musikalisch eine ganz besondere Reise werden, da ist sich Stefan Baier sicher. „Das wird keine bequeme Reise, aber eine unglaublich schöne. Wer seinen Blick weiten will, sollte da mitfahren. Wohlfühloase ist anders. Aber dafür wird man mit einem Blick in ein wunderbares und wunderschönes Land beschenkt. Mit einem Leben und einer Energie, die man dort erlebt, von der man sich hier vielleicht auch etwas abschauen kann. Die Pilgerreise kann einen Blick in eine Welt schenken, den man sonst nicht bekommt.“
Wenn das so ist, war das, was aus der anfänglichen Konzertidee entstanden ist, gar nicht so schwachsinnig. Dann war die Einladung tatsächlich Fügung. Moisés würde sagen: „un regalo de dios“ – ein Geschenk Gottes.

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