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Ausgabe 06/24 Der Mensch

Was bedeutet Würde eigentlich?

Autor: Martin Rothweiler | Illustration: Atelier 4

Was bedeutet Würde eigentlich?

“Die Würde des Menschen ist unantastbar.” – Was bedeutet das eigentlich? Und was heißt das für die Menschenrechte?

Die Würde des Menschen ist unantastbar

Von Menschenrechten ist fast schon inflationär die Rede, von Menschenwürde indes dem Vernehmen nach weniger – und wenn, dann hierzulande meist mit dem Rekurs auf den Artikel 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Die leidvollen Erfahrungen des II. Weltkrieges und die Gräueltaten des Naziregimes haben dazu geführt, dass die Väter und Mütter des Grundgesetzes die Notwendigkeit erkannt haben, festzuschreiben, dass es vorpolitische Prinzipen gibt, die jedweder Gewalt, auch staatlicher Gewalt eine absolute Grenze setzen.

Auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 ist eine Frucht dieser einschneidenden Zeit. Die Präambel dieses idealiter alle Völker verpflichtenden Dokuments spricht von „der angeborenen Würde“ des Menschen. „Alle Menschen“, so heißt es im Artikel 1,„sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“

In beiden Dokumenten wird die Würde des Menschen als etwas Vorgegebenes deklariert, aus dem grundlegende Rechte, vor allem Schutzrechte, folgen: das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person, das Recht auf körperliche Unversehrtheit, der Schutz vor Folter und Sklaverei, das Recht auf die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses und so fort. Konsequenterweise folgt aus dieser postulierten Würde des Menschen die Gleichheit des Menschen vor dem Gesetz, dass niemand wegen seines Geschlechts, seiner Rasse, seiner Herkunft, seines Glaubens oder seiner religiösen oder politischen Anschauung oder seiner Behinderung diskriminiert werden darf.

Wo Freiheitsrechte an ihre Grenzen stoßen

Dabei stoßen Freiheitsrechte wie etwa das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit da an Grenzen, wo die Rechte anderer verletzt werden. Ganz offensichtlich ist das Recht auf Leben das fundamentalste dieser Rechte und die Voraussetzung für die Ausübung aller anderen Rechte. Wo das Grundrecht auf Leben verweigert wird, da stehen alle anderen Rechte auf dem Spiel. Und wo gar die Tötung eines Menschen als Menschenrecht gefordert wird, da wird der Begriff der Menschenrechte pervertiert. Das geschieht nicht irgendwo, sondern in Europa, wo das Europaparlament erst kürzlich in einem mehrheitlich verabschiedeten Text zur Lage der „Grundrechte in der EU 2022 und 2023“ seine Forderung, ein „Recht auf Abtreibung“ in die Grundrechtecharta der Europäischen Union aufzunehmen, bekräftigt hat. Was unter Menschenwürde verstanden wird und wie die daraus folgenden Menschenrechte zu verstehen sind, ist offensichtlich de facto im Wandel begriffen.

Was bedeutet dann unantastbar?

Was bedeutet dann die Rede von der Unantastbarkeit der Würde des Menschen überhaupt? Und was heißt das für die Menschenrechte? Wie relevant diese Fragen sind, zeigt sich nicht nur beim Lebensrecht, sondern auch bei anderen Rechtsfragen. Man stelle sich nur die Frage: Hat der Mensch ein Recht auf ein Kind? Wem gegenüber hat er diesen Rechtsanspruch? Wer muss diesen einlösen? Oder hat das Kind nicht vielmehr ein Recht, seine leiblichen Eltern zu kennen? Wir fragen uns: Setzt die Rede von der Menschenwürde eine bestimmte Sicht auf den Menschen und die Welt voraus oder ergibt sich die Einsicht und die Zustimmung zur unantastbaren Menschenwürde ganz von selbst? Gehen wir testweise von einer evolutionistischen Sicht der Welt aus. Am Anfang steht ein wie auch immer gearteter Urknall, der den Fortgang der Welt angestoßen hat. Die Welt entwickelt sich mutierend und selektierend nach dem Zufallsprinzip „survival of the fittest“ immer weiter bis hin zur Entstehung des Menschen.

Aber warum sollte die Entwicklung an dieser Stelle innehalten und nicht über den Menschen hinausgehen? Der Transhumanismus, wie ihn der Biologe, Eugeniker und geistige Vater des evolutionären Humanismus, Aldous Huxely, definiert, und noch stärker der Posthumanismus, sind die logische Konsequenz. Eine solche Auffassung von der Welt kann die unantastbare, absolute Würde des Menschen schlicht nicht begründen. Denn alles ist im Fluss und der Mensch auf dem Weg, aktiv seine eigene Natur zu überwinden. Auch der erkenntnistheoretische Relativismus, der besagt, dass es keine objektive Wahrheit gibt – das allerdings soll dann selbstwidersprüchlicherweise objektiv wahr sein –, vermag eine unantastbare, unveräußerliche Würde des Menschen nicht wirklich zu begründen, da jedwede Aussage über die Menschenwürde und überhaupt darüber, was der Mensch denn überhaupt sei, nur relativ wäre.

Jeder spürt die Verletzung, wenn das eigene Ich unbeachtet bleibt.

Wie aber lässt sich die Würde des Menschen begründen, aus der dem Individuum absolute Rechte zuzuerkennen sind, welche die Beziehung der Individuen untereinander als auch die Beziehung des Einzelnen zur Gemeinschaft regeln? Und ist denn, so fragen wir uns, eine Begründung der Menschenwürde auch ohne den Rekurs auf Gott als absoluten Bezugspunkt denkbar, wie er etwa in der Präambel des Grundgesetzes Erwähnung findet?

Hier muss man wohl unterscheiden zwischen einer metaphysischen Letztbegründung der Menschenrechte und deren Genese einerseits und der Einsicht in die allgemeine Geltung von Menschenrechten andererseits. Dass man niemanden einfach umbringen darf, dürfte für Jedermann intuitiv erkennbar sein. „Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem andern zu“ lautet die sogenannte Goldene Regel, die der inneren Stimme entspricht, dass ich so behandelt werden möchte, wie jeder andere Mensch auch. Diese Goldene Regel ist letztlich der Kern des kategorischen Imperativs Immanuel Kants: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ Niemand möchte so behandelt werden, als sei er lediglich Mittel zu einem Zweck. Jedermann spürt die Verletzung, wenn er nur instrumentalisiert wird, und das eigene Ich unbeachtet bleibt. Diese Grunderkenntnis ist gewiss wesentlich für den gesellschaftlichen Konsens über die Gleichbehandlung aller Menschen vor dem Gesetz und stellt gleichsam eine in der Natur des Menschen verankerte, evidenzbasierte Begründung der Menschenrechte dar. Eine metaphysische Begründung für die Unantastbarkeit der Würde des Menschen ist das indes noch nicht.

Dafür bedarf es eine Antwort auf die Frage nach dem Wesen, nach der Natur, ja nach der Ökologie des Menschen. Von Menschenwürde im Sinne eines ethischen Konzepts spricht in der abendländischen Tradition zum ersten Mal der römische Politiker und Philosoph Cicero in seinem Werk „De officiis“. Allerdings kommt nach Cicero die Menschenwürde einem Menschen nicht per se zu, sondern nur insofern er sich gemäß der „dignitas“, der Würde, die in seiner Vernunftbegabtheit besteht, auch verhält. Die Würde war also an Bedingungen geknüpft. Sie war mitnichten unbedingt gegeben. Erst im Zusammenspiel zwischen griechischer Philosophie, römischem Rechtsverständnis und inspiriert von der christlichen Offenbarung und den christologischen und trinitätstheologischen Reflexionen der Kirchenväter entwickelt sich das Verständnis vom Menschen als personalem Wesen und Träger einer unveräußerlichen Würde. Anfang des 6. Jahrhunderts definiert Boethius zum ersten Mal klassisch die Person als „naturae rationalis individua substantia“, als eine „individuelle Substanz einer vernünftigen Natur“. Im Mittelalter führt Thomas von Aquin den Gedanken weiter und betont über die Vernunftbegabung hinaus den Selbststand und die Fähigkeit, frei aus sich heraus zu handeln, als Wesenselemente der Person.

Selbst die Feinde, die einem nach dem Leben trachten, verlieren nicht ihre angeborene Würde als Mensch, der Anspruch hat, geliebt zu werden.

Durch den jüdisch-christlichen Glauben an die Gottesebenbildlichkeit des Menschen entwickelt sich die Einsicht in die besondere Stellung und Würde des Menschen, ohne die die Rede von unveräußerlichen Menschenrechten wohl nicht denkbar gewesen wäre. Jeder Mensch ist demnach von Gott gewollt und geliebt und auf Ewigkeit hin geschaffen. Das ist die grundlegend neue Erkenntnis, die jedem Einzelnen eine nicht erst zu verdienende Würde zuschreibt. Sie ist ihm angeboren und mit seinem Wesen gegeben und mithin unveräußerlich. In unvergleichlicher Weise kommt dies im christlichen Glauben in der von Christus geforderten Feindesliebe zum Ausdruck. „Liebet Eure Feinde!“ Das heißt in letzter Konsequenz: Selbst die Feinde, die einem nach dem Leben trachten, verlieren nicht ihre angeborene Würde als Mensch, der Anspruch hat, geliebt zu werden. Diese vom christlichen Glauben her inspirierte Erkenntnis begründet die Würde des Menschen und die aus ihr sich ergebenden Menschenrechte in unüberbietbarer Form. Weder die Gesellschaft noch der Staat oder irgendjemand sonst darf daher über das Lebensrecht eines anderen verfügen. Auch ist jeder Mensch gefordert, seine eigene Würde zu achten.

Ist denn, so fragen wir uns, eine Begründung der Menschenwürde auch ohne den Glauben und ohne den Rekurs auf Gott denkbar? Zum einen sprechen auf die Frage „Warum überhaupt etwas existiert und nicht vielmehr nichts?“ auch Vernunftgründe dafür, dass das Sein der Welt überhaupt nicht in einem Urknall seine Erklärung finden kann, sondern es eines sinnstiftenden Schöpfergeistes bedarf, der ex nihilo die Welt ins Leben gerufen hat.

Zum anderen legt die Vernunft auch für einen ungläubigen Humanisten die pragmatische Position nahe, die politische Ordnung so zu verfassen, als ob es Gott gäbe. Denn sollte man sich letztlich nicht vor Gott am Ende des Lebens verantworten müssen, hat man nichts verloren. Für den niederländischen Philosophen und bedeutenden Rechtsgelehrten Hugo Grotius war das Naturrecht die Grundlage und genauso bindend, auch wenn es Gott nicht gäbe. Und wenn man einem anderen Menschen in die Augen blickt, die selbstlose Liebe eines anderen erfährt, tönt da nicht immer wieder auch die Schönheit der Seele durch, was im Wort „personare“ anklingt.

Immer wieder hat man gerade im Zuge der Lebensrechtsdebatte den Versuch gemacht, das Person-Sein vom Mensch-Sein zu entkoppeln oder auch bestimmte Fähigkeiten des Menschen als Kriterium und mithin als Voraussetzung für die Zuerkennung der Menschenwürde festzulegen. Gemeinsam mit dem früheren Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde hat der Philosoph Robert Spaemann daher folgenden Grundsatz aufgestellt: „Wenn es überhaupt so etwas wie Rechte der Person geben soll, kann es sie nur geben unter der Voraussetzung, dass niemand befugt ist, darüber zu urteilen, wer Subjekt solcher Rechte ist.“ Die Menschenwürde komme der Person nicht unter der Voraussetzung bestimmter Eigenschaften (z. B. des Selbstbewusstseins), sondern allein aufgrund ihrer biologischen Zugehörigkeit zur Spezies Mensch zu. Allein eine solche Position ist frei von jedweder Diskriminierung und gesteht allen Menschen ihre Würde zu.

Martin Rothweiler

Martin Rothweiler ist Programmdirektor des katholischen Fernsehsenders EWTN.TV, einem langjährigen Medienpartner von GRANDIOS.

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