Skip to main content
Sir Ernest Shackleton

Lesedauer: ca. 6 Min.

Autor: Benedikt Bögle | Illustration: Carina Crenshaw

Der Eisbrecher

Sir Ernest Shackleton wollte als erster Mensch die Antarktis durchqueren. Seine Expedition scheiterte. Das Schiff sank. In schlimmster Not zeigte sich Shackletons größtes Talent: Menschen durch lebensbedrohliche Situationen zu führen. Obwohl die Mannschaft mehrmals dem Tod nahe war, überlebten alle. Seine Führungsqualitäten machen Shackleton noch heute zum Vorbild.

Das Unterfangen war waghalsig: 1914 brach Sir Ernest Shackleton mit seiner Mannschaft zur Antarktis auf. Als erster Mensch wollte er den ganzen Kontinent durchqueren und so das letzte große Ziel der Polarforschung erreichen. Der Mensch strebt nach Wissen, er will seine Umwelt ergründen. Was vor gut hundert Jahren die Forschung am Südpol war, sollten fünfzig Jahre später die ersten Flüge ins All sein. Als 1969 die ersten Menschen auf dem Mond landeten, hielt die Welt den Atem an. Wieder fünfzig Jahre später hat sich der Blick der Menschheit geweitet: 2020 landete ein erster Roboter auf dem Mars.

Von solchen Zielen hätte Sir Ernest Shackleton nur träumen können. Geboren 1874, diente er bei der britischen Handelsmarine und sammelte erste Erfahrungen auf hoher See. 1901 näherte er sich mit dem Polarforscher Robert Falcon Scott bis auf 460 Meilen dem Südpol, musste dann aber umkehren. Shackleton selbst musste die Expedition frühzeitig verlassen. Er erkrankte wegen Vitaminmangels an Skorbut – seine erste Niederlage am Südpol. Wenige Jahre später stellte Shackleton eine eigene Forschergruppe zusammen. Wieder näherte er sich dem Südpol, kam ihm jetzt näher. Nur 97 Meilen vor dem Ziel musste er aufgeben und umkehren.

Immer weiter Richtung Südpol

Shackleton machte weiter: Ein großes Ziel war geblieben. Noch nie hatte ein Mensch den ganzen antarktischen Kontinent durchquert. Also sammelte Shackleton Geld, um eine neue Expedition anzuführen. 5000 Männer wollten teilnehmen. Eine erste Gruppe von 28 Männern sollte auf dem Schiff „Endurance“ durch das Weddellmeer fahren. Ein Teil der Expeditionsbesatzung sollte von dort aus den Marsch durch das ewige Eis antreten. Die andere Gruppe sollte auf der „Aurora“ durch das Rossmeer fahren und ihnen entgegenfahren. Die Expedition musste gut geplant werden: Von der Beschaffung der richtigen Ausrüstung über die Organisation des Geldes bis zur klugen Auswahl der Männer. Alles Begabungen, die Shackleton mitbrachte.

Überlebenskampf auf dem Packeis

1914 stachen die Männer in See. Die größte Schwierigkeit sollte das Eis sein: Auf dem südlichen Meer bildet sich Packeis, das ein ganzes Schiff einschließen kann. Im Januar 1915 konnte die Mannschaft beinahe schon die Landung auf dem Festland vorbereiten. Dann jedoch wurde ihr Schiff eingeschlossen. Das Ziel vor Augen konnte die Mannschaft nur abwarten. Die Männer vertrieben sich die Zeit, erkundeten ihre Umgebung, machten Ausflüge auf dem Eis. Das Schiff jedoch wurde immer weiter abgetrieben: Das Packeis ruht nicht im Meer, es wird durch Winde und Strömung getrieben, wandert – und das Schiff wanderte mit.

Immer weiter wurde die „Endurance“ nun nach Norden getrieben. Der Name des Schiffs – „Ausdauer“ – wurde zum Leitwort der ganzen Unternehmung. Dem Druck des Eises konnte das Schiff nicht standhalten. Es sank. Die Männer mussten nun auf dem Packeis überleben. Sie schlugen ein kärgliches Lager auf, umgeben von den wenigen Dingen, die sie noch von der „Endurance“ bergen konnten.

Viel mussten die Männer zurücklassen, darunter auch eine Bibel, die Königin Alexandra der Mission geschenkt hatte. Shackleton riss lediglich das Titelblatt heraus und eine Seite aus dem alttestamentarischen Buch Hiob. In seinem Reisebericht zitiert Shackleton den entscheidenden Vers: „Aus wessen Schoß geht das Eis hervor, und wer hat den Reif unter dem Himmel gezeugt, dass Wasser sich zusammen-zieht wie Stein und der Wasserspiegel gefriert“? Noch in seiner lebensbedrohlichen Situation konnte sich Sir Ernest Shackleton der Faszination des Eises nicht entziehen.

Ein unerkannter Begleiter

Die Mannschaft lebte nun auf dem Eis. Sie ernährte sich von den übrigen Vorräten, aber auch von der Jagd: Seehund, Robbe und Kaiserpinguin standen auf dem Speiseplan. Währenddessen drifteten sie immer weiter nach Norden. Als das Eis zu brechen begann, retteten sich die Männer auf die nördlich gelegene „Elephant Island“. Die Situation war ernst: Lange konnten die Männer nicht überleben. Shackleton traf eine schwierige Entscheidung. Mit nur wenigen Kameraden wollte er auf einem Rettungsboot nach Südgeorgien gelangen, hunderte Kilometer auf dem stürmischen, offenen Meer.

Wie ein Wunder gelang die Reise, die Gruppe landete jedoch auf der falschen Seite der Insel. Über unwirtliches Gebirge musste Shackleton mit den Kameraden gehen, einen Weg, den niemand vor ihnen beschritt. Die Männer waren dem Tod nahe – und gaben die Hoffnung doch nicht auf. Zu dritt gingen sie weiter, auch um der zurückgelassenen Kameraden willen. Shackleton selbst berichtet: „Wenn ich an diese Tage zurückdenke, so habe ich keinen Zweifel daran, dass die Vorsehung uns geleitet hat.“ Und weiter: „Während jenes langen sechsunddreißigstündigen Marsches über die namenlosen Berge und Gletscher von South Georgia hatte ich oft das Gefühl gehabt, wir seien zu viert, nicht zu dritt.“

Reise an die Antarktis Grandios Magazin

Der kalte Arm des Todes und die Macht der Hoffnung

Shackleton fühlte sich begleitet durch einen Gott, der unerkannt mit ihnen auf dem Weg war. Wie durch ein Wunder kann auch die restliche Mannschaft nach mehreren Versuchen gerettet werden. Ist Shackleton gescheitert? Seine Expedition war weit davon entfernt, den antarktischen Kontinent zu durchqueren – tatsächlich schafften sie es nicht einmal, auf ihm zu landen. Shackleton erwies allerdings in der Stunde größter Not Talente, die sein Leben und das seiner Mannschaft retteten. Er traf schwierige, gefährliche, notwenige Entscheidungen. Wie ein Wunder mutet es an, dass die Männer nicht wahnsinnig wurden; wahnsinnig vor Angst, vor Schmerz, vor Kälte und vor Entbehrung.

Shackletons Talent war es, seine Männer zusammenzuschweißen und ihnen Hoffnung zu geben. Er forderte Disziplin, erlaubte aber auch Atempausen. Als Anführer hatte er einen Blick für die anderen Männer, merkte, wenn jemand litt und zusammenzubrechen drohte. Einer der Teilnehmer sagte später, sie alle hätten nur wegen Shackleton überlebt. Shackleton zeigte sein Talent nicht so sehr als Polarforscher, denn in der Führung von Menschen. Dieses Talent wurde für die Männer weit wichtiger als all die anderen Fähigkeiten ihres „Bosses“.

Auch wenn Shackleton seine Ziele nicht erreicht hat – heute gilt er als einer der Großen unter den Polarforschern. Vorbild ist er aber nicht nur Forschern, sondern auch Unternehmern. Geht es um Führungsstärke, orientieren sie sich an dem Mann, der sich und seine 27 Kameraden durch schlimmste Nöte führte und am Ende alle retten konnte.

Die Zitate wurde entnommen von: Sir Ernest Shackleton, Mit der Endurance ins ewige Eis. Meine Antarktisexpedition 1914–1917. Ullstein Verlag, Berlin, 4. Auflage

Buchtipp

Das Buch Der Eisbrecher Grandios Magazin
Mit der Endurance ins ewige Eis:
Meine Antarktisexpedition 1914–1917

Autor: Sir Ernest Shackleton
288 Seiten
2016
Verlag: Piper Verlag
ISBN: 978-3-492-40597-3