Blinde können sehen

Der Psychotherapeut Marco Blumenreich ist der beste Beweis: Blinde können sehen und das Wesentliche sieht er oft besser als die Sehenden.

Wir besuchen Marco Blumenreich

Wien – erster Bezirk. Hier in der Hauptstadt Österreichs steigt Marco Blumenreich vor über 30 Jahren aus dem Zug und spürt: er ist angekommen. Der gebürtige Mexikaner findet nach vielen Stationen und Schicksalsschlägen hier seine Heimat. Begeistert zeigt er GRANDIOS seine Stadt. In Wien fühlt er sich wohl, kennt jede Straße und jede Sehenswürdigkeit, als könne er sie sehen. Dabei ist er blind. Das hat ihn nicht daran gehindert, Psychotherapeut zu werden. Heute hilft er anderen Menschen, ihre eigenen Talente besser sehen zu können.

Als Marco Blumenreich uns die vielen schönen Gebäude und Wahrzeichen der Stadt zeigt und beschreibt, ist es so, als hätte er sie alle intensiv mit seinen Händen ertastet und verinnerlicht. Keine Frage, der Mann liebt seine Heimat, die Menschen und das Leben hier, sein Leben. Der vielseitig begabte Therapeut hat mehrere Ausbildungen und Studien absolviert. Sein Ziel: den Menschen in seiner Ganzheit begreifen können.

Durch seine Heilmasseur-Ausbildung kennt sich Blumenreich mit der Anatomie des Menschen bestens aus. Es folgen ein Studium und die Ausbildung zum Psychotherapeuten. Als Therapeut begleitet er Menschen. Da steht dann nicht die Physis, sondern die Psyche im Vordergrund. „Ich liebe es, Pathologie-, Psycho- und Physiologiebücher zu lesen. So kann ich Zusammenhänge klar erkennen und benennen.“ Marco Blumenreich hat sich die Literatur in Blindenschrift übersetzen lassen, denn er ist von Geburt an blind.

Lesen liegt Marco Blumenreich

Lesen, das Erarbeiten, das Ertasten von Texten, liegt Marco Blumenreich. Schon in der Jugend liebt er es, sich bei Radiomoderationen zu Wort zu melden und Gedichte aufzusagen. Seine Wortwahl ist präzise, sein Vokabular reich an schönen Begriffen. Es hat Zeit und Disziplin gekostet, diese Fähigkeit auszubilden. Heute hilft ihm das bei seiner Arbeit. Nicht nur ihm, sondern auch seinen Patienten.

In seiner therapeutischen Arbeit begleitet er Menschen. Im Gespräch unterstützt er sie, ihre eigenen Talente zu entdecken und zu fördern. „Es gibt in jedem Menschen ein Grundpotenzial. Jeder hat Talente und es ist spannend zu sehen, was im Laufe eines Lebens daraus entsteht“, sagt Blumenreich. „Wie kann man die beste Version seiner selbst sein“? Die Antwort auf diese Frage versucht Marco gemeinsam mit den Menschen zu finden, mit denen er arbeitet. „Nicht der vergleichende Blick auf einen anderen, sondern die selbstreflektierte Schau auf einen selbst bringt einen seinem Soll-Ich näher“, sagt er.

Manchmal sei es gar nicht so einfach, herauszufinden, wo denn die eigenen Talente liegen. „Nur weil jemand aus einer Musikerfamilie stammt, muss er noch lange kein begabter Musiker sein.“ Man müsse schon genau hinschauen, sagt Blumenreich. Manche Talente würden schon in frühester Kindheit abgewürgt. Wenn einem immer wieder gesagt werde „du kannst das nicht“, „du machst das nicht gut“, dann habe das Folgen. Mögliche Begabungen blieben unentdeckt, Talent könne sich nicht entfalten. Das sei fatal. Denn bei der Entfaltung der eigenen Talente gehe es immer auch um Lebensfreude und den Sinn des Lebens.

Oft würden Talente auch untergraben, erklärt Blumenreich. Wenn etwa in einer intellektuellen Familie Kunst als brotlos belächelt werde und nur ein gutes Doktorat zähle, würden Menschen durch solche Wertungen entmutigt. In der Therapie werde dazu ermutigt, die eigenen Talente zu suchen und zu sehen. Auch in unserem Alltag hätten wir uns angewöhnt, zunächst auf die Schwächen unseres Gegenübers zu schauen, beklagt Blumenreich. In der Therapie dagegen werde ressourcenorientiert gearbeitet. Die Entdeckung der eigenen Talente sei da oft Teil der Lösung eines Problems, betont Blumenreich.

Zum Talent gehört auch die Demut

„Wenn es darum geht, seine Talente zu entfalten, muss es einem um die Sache selbst gehen, um das Talent. Nicht um Nebenwirkungen, wie möglichen Ruhm, Ehre oder wunderbare Verdienste“, sagt er. In einer seiner Sitzungen entgegnet Blumenreich ein erfolgreicher Opernsänger: „Wissen Sie, meine Stimme hat mir Gott geschenkt und mein hartes Training ist tagtäglich dafür da, mich bei ihm erkenntlich zu zeigen.“ Auch Marco Blumenreich ist überzeugt: Jedes Talent ist ein Geschenk. Ein Geschenk löst in der Regel Dankbarkeit aus. Damit das Geschenk wächst und Früchte trägt, benötigt man viel Energie und Disziplin.

Energie und Disziplin hat auch Marco gebraucht, um seine Fähigkeiten zu entwickeln und seine Sinne zu schulen. Sein Gehör und damit verbunden sein Orientierungssinn sind außergewöhnlich. Wenn er in der Stadt unterwegs ist, entspricht das nicht dem gewohnten Bild eines Blinden. Marco Blumenreich bewegt sich ohne Stock durch seine Stadt. Dabei nutzt er seine Sinne und seine Intuition. Wenn man es nicht weiß, fällt einem nicht auf, dass er blind ist. Er hat lange dafür trainiert, seine Fähigkeiten auszubauen. „Das war viel Arbeit und eben Disziplin.“ Ihm ist es wichtig, sich frei bewegen zu können. „Ich mache das nicht um anzugeben, oder um andere Menschen zu provozieren“, betont Blumenreich. „Ich laufe ohne Stock durch die Straßen, weil es mir möglich ist.“ Er sieht das als Geschenk. Talent habe auch viel mit Demut zu tun, meint er. Der Mensch solle sich an seinen Talenten freuen. „Wenn meine Sinne nachlassen, dann nehme ich natürlich auch den Stock wieder zur Hand.“

„Das Leben ist ein Übungsweg“

„Talent-Ausbildung ist wie das Trainieren eines Muskels“, erklärt er. Da hört man den Heilmasseur durch. Erst durch Herausforderung und Anstrengung werde der Muskel stärker. „Immer wieder und immer weiter. Irgendwann merkt man, es wird leichter, es wird es besser.“ Behutsam, aber mit Leidenschaft versucht Blumenreich, seine Patienten dabei zu begleiten, ihre Talente zu entfalten. Das kann ein mühsamer Weg sein, aber der lohnt sich. „Plötzlich merkt man, wie sich Lebendigkeit breitmacht und anstelle der Verhärtung, des Verkrusteten rückt.“

Marco Blumenreich spricht aus eigener Erfahrung. Auch er ist durch ein solches Tal der Verkrustungen, der Zweifel und Tränen gegangen. Aber in der Phase der Heilung spürt er besonders intensiv, was es bedeutet, alte Lasten hinter sich zu lassen, dem Neuen Raum zu schenken. Mit 16 Jahren wurde Marco von seinen Adoptiveltern vor die Türe gesetzt. Von jetzt auf gleich. Ohne Dach über dem Kopf. Nur mit der Kleidung, die er am Körper trug. Er wird obdachlos.

Warum? Die Frage quält und lähmt ihn. Aber er spürt, wenn er ein lebendiges, gesundes Leben führen möchte, muss er Wege finden, seinen Adoptiveltern zu vergeben. Später erfährt er, dass seinen Adoptiveltern in deren Jugend selbst schreckliche Dinge widerfahren sind und wie schwer sie es damals hatten. Es beginnt ein langer und anstrengender Weg der therapeutischen Aufarbeitung. Er mündet in der Vergebung und einem besonderen Mitgefühl für seine Adoptiveltern.

„Prüfungen besteht man oder man fällt durch. Das Leben ist aber ein Übungsweg und keine Prüfung. Wenn man das Leben als Übungsweg sieht, fallen auch die Momente der harten Prüfung leichter“, sagt Marco Blumenreich heute. Üben bedeute, Dinge immer wieder zu versuchen. Da gehöre auch das Scheitern dazu. Dann müsse man sich selbst eingestehen, „dass eben nicht alles gleich funktioniert. Wie auch, man übt ja gerade.“ Das dürfe aber nicht als Ausrede gelten. Wer dranbleibe und nach Kräften übe, der finde Kraft oder Trost. Als ein Aneinanderreihen von Übungen und Prüfungen: so versteht Marco Blumenreich auch sein Leben. Das mache das Leben leichter. Auch wenn schwere Prüfungen kämen.

„Prüfungen besteht man oder man fällt durch. Das Leben ist aber ein Übungsweg und keine Prüfung. Wenn man das Leben als Übungsweg sieht, fallen auch die Momente der harten Prüfung leichter“

„Wer viel geweint hat, kann auch viel trösten“, sagt Marco Blumenreich. Mit seiner Arbeit als Therapeut will er Leiden lindern, aber auch trösten. „Aus den verheilten Verwundungen meines Lebens strömt eine Sehnsucht, Menschen zu helfen, sie zu fördern.“ Der angesehene Therapeut möchte etwas zurückgeben. „Die Ehre Gottes ist der lebendige Mensch“, erklärt Blumenreich seine Antriebsfeder. Dieses Zitat des heiligen Irenäus bestimmt seine Arbeit und lässt tief in seine Seele blicken. Der Anker, der Fixpunkt seines Lebens, ist Gott. „Glauben heißt, an jemanden glauben. In Beziehung mit einer Person zu leben. Auf ihn zu vertrauen und sich ganz seiner Vision zu schenken“, sagt er.

„Wer viel geweint hat, kann auch viel trösten“, sagt Marco Blumenreich. Mit seiner Arbeit als Therapeut will er Leiden lindern, aber auch trösten. „Aus den verheilten Verwundungen meines Lebens strömt eine Sehnsucht, Menschen zu helfen, sie zu fördern.“ Der angesehene Therapeut möchte etwas zurückgeben. „Die Ehre Gottes ist der lebendige Mensch“, erklärt Blumenreich seine Antriebsfeder. Dieses Zitat des heiligen Irenäus bestimmt seine Arbeit und lässt tief in seine Seele blicken. Der Anker, der Fixpunkt seines Lebens, ist Gott. „Glauben heißt, an jemanden glauben. In Beziehung mit einer Person zu leben. Auf ihn zu vertrauen und sich ganz seiner Vision zu schenken“, sagt er.

„Sehen hat auch etwas mit Talent zu tun.“ Auch wenn das kurios klingt: Seine Blindheit hilft Blumenreich, seinen Blick zu schärfen. Sehen sei ja nicht gleich Sehen, ist er zutiefst überzeugt. Zudem gebe es unterschiedliche Arten des Sehens. Auch das Talent des Sehens sei sehr unterschiedlich ausgeprägt. „Ich habe früher immer geglaubt, die Sehenden, die haben das Talent, die Fähigkeit des Sehens. Die sehen alle gleich“, erinnert er sich. Das stimme aber nicht. „Mit 100 Prozent Sehvermögen müsste dann jeder Fotograf, Maler, Künstler oder Kamera-mann werden können. Das kann aber eben nicht jeder. Manche wollen es, können aber nicht. Sehen hat also auch etwas mit Talent zu tun. Das kann man bis zu einem gewissen Grad erlernen. Und gewisse Menschen haben mehr und manche weniger Talent dazu.“ Bei blinden Menschen sei das auch so. „Es gibt Blinde, die haben ein sehr starkes visuelles Vorstellungsvermögen und manche eben weniger. Das ist nicht weniger gut oder schlecht. Das ist einfach so“, erklärt Blumenreich. „Aber es ist schön, wenn man sich auch diesen Punkt seiner Fähigkeiten bewusst macht und das Talent des Sehens womöglich noch ein wenig fördert. Sehen hat nur bedingt mit den Augen zu tun.“

„Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“ hat schon Antoine de Saint-Exupéry in seinem „Kleinen Prinzen“ geschrieben. Marco Blumenreich ist der lebende Beweis. Blinde können sehen. Das Wesentliche oft besser als manch Sehender.

Interview mit Marco Blumenreich als Interview

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