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Ausgabe 04 Freiheit

Die Macht der Selbsttäuschung

Lesedauer: ca. 6 Min.

Autor: Markus Reder | Fotografie: Arno Dietsche

DIE MACHT DER SELBSTTÄUSCHUNG

Warum es keinen Sinn hat, sich selbst zu belügen.

Diplom-Psychologe Christian Kreuzer über schleichenden Kontrollverlust im Leben, die Gefahr von Abhängigkeiten und die Wiedergewinnung der inneren Freiheit.

Franz

Er hatte es nicht bemerkt. Auf einmal war sie weg. Lautlos und unauffällig hatte sie sich aus seinem Leben geschlichen. Anfangs hatte er sie nicht einmal vermisst. Als er endlich begriff, wie es wirklich um ihn stand, war es zu spät. Da konnte er nicht mehr so, wie er gerne gewollt hätte. Die innere Freiheit war aus seinem Leben verschwunden. Aufhören ging nicht mehr. Franz (*) brauchte Hilfe. Alleine hätte er sein Problem nicht in den Griff bekommen.

„Mit 43 wurde mir endgültig klar: ich muss aufhören zu trinken. Ich hätte mich sonst ruiniert“, erinnert sich Franz. Vier Jahre ist das jetzt her. Schon früher hatte ihn ein Arzt gemahnt: „Das geht nicht gut aus. Sie müssen Ihren Lebensstil ändern!“ Solche Ratschläge schlug er genauso in den Wind, wie die liebevollen Mahnungen seiner Frau. „Schatz, du trinkst zu viel“, hatte sie mehr als einmal gesagt. Aber Franz konnte ihr jedes Mal schnell erklären, warum ihr Eindruck täusche. Auch als der Führerschein weg war, machte er sich noch selbst etwas vor: „Dumm gelaufen, kann jedem mal passieren“.

Tagsüber mit Arbeit zugedröhnt, abends ab an die Hotelbar

Mit 40 konnte Franz bereits auf eine beeindruckende Karriere als Jurist blicken. Beruflich war er sehr erfolgreich: Immer größere Verantwortung, immer mehr Einkommen, immer dickere Dienstwagen. Der Preis dafür: Arbeiten ohne Limit. Dass abends daheim Frau und Kinder warteten, fand er nicht schön. Aber immerhin verdiente er viel Geld, um ihnen ein tolles Leben zu finanzieren. In seinem Leben wuchsen mit jeder neuen Position Erwartungs- und Erfolgsdruck. „Ich war wie im Hamsterrad. Entspannung wurde zum Fremdwort, auch daheim. Oft genug klingelte noch nach 21 Uhr das Diensthandy. Auch an Wochenenden habe ich viel gearbeitet“, sagt Franz. Anfangs war es das Feierabendbier mit den Kollegen oder der Absacker an der Hotelbar nach einem langen Arbeitstag. Das löste die Stimmung und ließ – wenigstens für den Augenblick – den ganzen Stress vergessen. Mit der Zeit nahm die Menge an Alkohol zu. Abends half ein guter Rotwein, wenigstens ein bisschen runterzukommen. Eines Tages geriet die Firma in Turbulenzen. Zur gleichen Zeit rutschte die Ehe in eine Krise. Franz rotierte noch mehr: Die Drehzahl seines Hamsterrades erhöhte sich weiter. Als er längst mehr als eine Flasche Wein am Tag trank, bestritt er noch immer, ein Alkoholproblem zu haben. „,Wenn ich will, kann ich jederzeit aufhören’, habe ich mir selbst eingeredet“, sagt er. Als genau das nötig wird, weil sein Körper Stress und Alkohol nicht mehr gewachsen ist, und Franz ernsthaft erkrankt, merkt er: „Ich schaffe es nicht. Ich bin abhängig.“

Suff und Sex: Wenn Gewohnheiten zum Problem werden

Fälle wie dieser gehören für Christian Kreuzer zum beruflichen Alltag. Kreuzer leitet das Referat für Ambulante Suchthilfe beim Caritasverband der Diözese Regensburg. Als Therapeut ist er mit den Klippen und Abgründen menschlichen Lebens vertraut. Er kennt die seelischen Nöte, über die man nicht gerne spricht. Aber er weiß auch: es gibt Wege da raus. Dass Menschen diese finden und die nötigen Hilfen bekommen, gehört zu den Aufgaben der Suchtberatung der Caritas.

Es gibt verschiedenste Formen von „innerer Unfreiheit“, sagt Kreuzer nachdenklich. „Angst- und Zwangsstörungen, Persönlichkeitsstörungen oder Psychosen“, nennt er als Beispiel. „Wenn jemand sein Verhalten oder Empfinden nicht mehr im Griff hat oder steuern kann, deutet das auf den Verlust von innerer Freiheit hin.“ Suchterkrankungen seien ein typisches Beispiel dafür. Dieser Freiheitsverlust beginne meist schleichend. „Da trinkt jemand Alkohol, wie viele andere auch – in unauffälligem Maße – und es passiert nichts. Aber irgendwann verfestigt sich die Gewohnheit derart, dass er keine Verfügungsgewalt mehr darüber hat“, sagt Kreuzer. Wenn „liebe Gewohnheiten“ zu unkontrollierbaren Verhaltensweise werden, ist der Punkt erreicht, an dem Freiheit in Unfreiheit umschlägt. Das gilt für alle Suchterkrankungen. Für Alkohol oder Cannabis wie für Glücksspiel oder Sex.

Das eigene Empfinden und die Realität: Am Anfang war der Selbstbetrug

Oft merken Betroffene nicht, dass sie die Kontrolle verloren haben, oder sie wollen es nicht wahr haben. Menschen mit Suchtproblem sind Meister darin, sich selbst und ihrer Umwelt etwas vorzumachen. „Das subjektive Empfinden und die Realität sind oft zwei Paar Stiefel“, sagt Kreuzer.

Wenn der Therapeut über Menschen mit Suchtproblemen spricht, hat das nichts Bewertendes. Man spürt Wertschätzung seinen Klienten gegenüber. Er weiß um die Zusammenhänge, kennt die Hintergründe. „Es gibt viele Ursachen, die Menschen in Abhängigkeit treiben.“ Suchterkrankungen seien oft nur die Spitze eines Eisbergs von vielen Problemen. „Suchtprobleme bauen sich langsam auf. Sie entwicklen sich, meist über Jahre. Aber irgendwann kommt der Moment, in dem man sein Verhalten nicht mehr im Griff hat“, erklärt Kreuzer.

Dann beginnt ein oft mühsamer Prozess, den der Psychotherapeut aus seiner Arbeit nur zu gut kennt. „Einerseits wissen Betroffene: ,Ich sollte etwas ändern’. Anderseits merken sie: ,Ich kann aber nicht’. Dieses ,ich kann nicht’ wird dann gerne verbrämt in ,ich will nicht’“, schildert Kreuzer seine Erfahrungen. „,Wenn ich wirklich wollte, könnte ich jederzeit aufhören’, heißt es dann.“

Das klingt gut, stimmt aber nicht. „In Wirklichkeit macht man sich damit selbst etwas vor, um den Entscheidungsdruck zu mildern.“ Meist folgt ein unentschlossenes Hin und Her: Mal einen Tag aussetzen oder in der Fastenzeit auf Alkohol verzichten.
„Na also, doch noch alles unter Kontrolle“, schlussfolgern Betroffene dann.

Kreuzer findet es gut, wenn der Körper eine Pause bekommt. Nur täuschen sollte man sich nicht. „Wenn es nach einer mehrwöchigen Pause genauso weitergeht wie zuvor, oder die Intensität sogar weiter zunimmt, dann hat man sich eben nicht mehr im Griff.” Im Laufe der Zeit entwickeln Betroffene immer mehr Routine, sich selbst und anderen etwas vorzumachen. Die Tendenz, sich die Situation schönzureden und das Problem zu bagatellisieren, zeige sich besonders, wenn jemand von außen mit seinem Verhalten konfrontiert wird, so Kreuzer. Ein entscheidender Schritt auf dem Weg raus aus jeglicher Form von Abhängigkeit sei daher, sich selbst nichts mehr vorzumachen und der Realität ins Auge zu sehen.

Alarmsignale ernst nehmen

Nicht jeder ist in gleicher Weise anfällig, Suchtverhalten zu entwicklen. Für absolut immun sollte sich aber niemand halten. Es gebe verschiedenen Faktoren, die Abhängigkeiten begünstigten, erklärt Kreuzer. „Wer bei einem oder sogar bei beiden Elternteilen Suchtverhalten erlebt hat, trägt ein deutlich erhöhtes Risiko in sich, Auffälligkeiten in diesem Bereich zu entwickeln.“ Genetische Komponenten und psychische Faktoren („Modelllernen“) spielten nachweislich eine Rolle. Zwangsläufigkeiten gebe es dennoch nicht. „Es gibt auch Menschen, die aufgrund des abschreckenden Beispiels ihres Vaters keinen Tropfen anrühren.“ Sich in Belastungsszenarien wenigstens für kurze Zeit ein Gefühl der Entlastung zu verschaffen, kennzeichnet Suchtverhalten. „Was als belastend empfunden wird, hängt von den Lebensumständen und der Persönlichkeitsstruktur jedes Einzelnen ab“, sagt Kreuzer. Das lasse sich nicht verallgemeinern. Fest steht: Süchtige sehen in ihrem Verhalten eine Chance, sich auszuklinken, unangenehme Gedanken und Gefühle eine Zeitlang beiseite zu schieben oder sich sogar Bestätigung zu holen, die sie anderswo icht finden. „Das eigentliche Problem löst man damit nicht“, warnt Kreuzer. „Nicht unangenehme Gefühle bringen einen am Ende um, wohl aber Alkohol oder Drogen.“

Shopping-Queen im Biergarten: Fließende Problemzonen

Suchterkrankungen sind längst ein Massenphänomen. Das zeigt ein Blick in das Jahrbuch für Sucht. Dort kann man nachlesen, wie abhängig Menschen in Deutschland sind. Das Hauptproblem heißt Alkohol. Laut Statistik gelten 7,8 Millionen Bundesbürger zwischen 18 und 64 Jahren als Risikotrinker. Rund 21.700 Kinder und Jugendliche kamen 2017 mit Alkoholvergiftung ins Krankenhaus. Aber auch illegale Drogen, Medikamentenmissbrauch und Glücksspiel machen Suchtexperten weiter Sorgen.

Nicht jeder Biergarten-Rausch ist gleich ein Fall für den Therapeuten. Wer gerne mal zockt oder als „Shopping Queen“ unterwegs ist, wird deshalb nicht gleich spiel- oder kaufsüchtig. Aber die Übergänge zum Problemverhalten sind fließend. Dass heute schon 10-Jährige über Stunden am Computer hängen und Fortnite spielen, halten Suchtforscher für alarmierend.

Was als Spaß oder Entlastung beginnt, kann in Unfreiheit umschlagen. Um das zu vermeiden, ist es wichtig, sein eigenes Verhalten kritisch zu prüfen. „Es gibt Anzeichen, die man ernst nehmen sollte“, rät Kreuzer. „Nimmt die Intensität meines Tuns zu? Führt mein Verhalten dazu, dass ich wichtige andere Dinge vernachlässige? Mache ich es, obwohl die Schädlichkeit erkennbar ist? Bin ich in der Lage, Beginn und Ende zu steuern?“

Thomas

Daddeln bis der Arzt kommt

Thomas (*) hat das irgendwann nicht mehr geschafft. Wenn er abends von der Arbeit nach Hause kam, hat er sich vor den Computer gesetzt und gespielt. „Anfangs waren es zwei, drei Stunden. Dann wurde es immer mehr. Irgendwann saß ich fast die ganze Nacht, und diese Nächte häuften sich.“ Eines Tages sprach ihn seine Chefin an, warum er immer häufiger zu spät zur Arbeit erscheine und übermüdet wirke. „Das war mir peinlich“, sagt der 24-jährige Verwaltungsangestellte. „Ich erfand eine Ausrede.“ Geändert habe er sein Verhalten deshalb nicht. „Ich war da so drin. Das war wie ein Sog mit einer unglaublichen Anziehungskraft.“ Als Thomas dann erwischt wurde, wie er heimlich im Büro spielte, fing er sich eine Abmahnung ein. „Ich nahm mir vor, aufzuhören. Aber das ging nicht. Wenn ich heimkam, fiel mein Blick auf den Computer. ,Nur schnell schauen, wer alles online ist’, dachte ich. ‚Dann kann ich immer noch entscheiden, ob ich mitspiele.‘ Das hat nicht funktioniert. Ich saß wieder stundenlang. Irgendwann war ich völlig fertig.“

Internet und Smartphones haben auch die Welt der Süchte verändert. „Je einfacher und größer die Verfügbarkeit von Spielen, desto mehr Menschen verlieren die Kontrolle über ihr Spielverhalten“, sagt Kreuzer. Ähnlich verhält es sich mit Pornografiesucht, einer Variante der Sexsucht. „Pornografie hat es immer gegeben, aber durch das Internet hat sich die Verfügbarkeit von Pornografie dramatisch verändert. Dementsprechend mehr Menschen entwickeln Probleme in diesem Bereich.

Wer sein eigenes Verhalten nicht mehr steuern kann, ist nicht mehr Herr im eigenen Haus. Bei Suchterkrankungen zeigt sich das deutlich. Obwohl Betroffene wissen, dass sie aufhören sollten, geben sie „dem Drachen weiter Futter“. Die lang andauernde Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen hat auch neurologische Konsequenzen. Das trägt dazu bei, dass man den Drachen, den man bekämpfen will, weiter füttert.

Die Wahrheit macht frei

Wie man seine innere Freiheit wiedergewinnt, hängt nicht zuletzt davon ab, in welchem Stadium sich eine Suchtentwicklung befindet. Bei einer klaren Suchtproblematik sei Abstinenz notwendig, sagt Kreuzer. Das eröffne die Chance, dass sich neue Gewohnheiten entwickeln, die sich über die alten Verhaltensmuster legen. Das brauche Zeit, viel Zeit. „Bei Alkoholabhängigkeit zahlen die Kostenträger 14 bis 15 Wochen für eine stationäre Reha. Danach geht die eigentliche Arbeit erst richtig los. Dann muss man das Gelernte in der Alltagsumgebung umsetzen.“ In der Therapie werde beispielsweise daran gearbeitet, anders mit Belastungs- und Konfliktsituationen umzugehen. „Wir beschäftigen uns mit den Themen, die früher zu kurz gekommen sind“, sagt Kreuzer.

Grundsätzlich sei Achtsamkeit sich selbst gegenüber die beste Prophylaxe, betont der Therapeut. „Wo stehe ich? Wie geht es mir gerade wirklich? Warum bin ich heute so gereizt? Was macht mir Sorgen? Wie gehe ich damit um? Sich selbst kritisch zu hinterfragen, ist eine wirksame Hilfe, um im Getümmel des Alltags die innere Freiheit nicht zu verlieren.“ Angesichts gängiger Selbsttäuschungstendenzen sei es zudem gut, jemanden zu haben, der „ehrlich zu einem ist, der es gut mir einem meint und keine eigenen Interessen verfolgt“, rät Kreuzer. Durchaus möglich, dass die Wahrheit über sich selbst nicht leicht zu ertragen ist. Aber sie bewahrt einen davor, sich selbst und anderen etwas vorzumachen. Das befreit.

Caritas

Diplom-Psychologe Christian Kreuzer ist Leiter des Referats Ambulante Suchthilfe beim Caritasverband für die Diözese Regensburg. Die Suchthilfe der Caritas in der Diözese Regensburg bietet ein flächendeckendes Beratungs- und Behandlungsangebot. Dazu zählen Beratung und Hilfe bei sämtlichen Problemen im Umgang mit Alkohol, illegalen Drogen und allen anderen Formen suchtartigen Verhaltens.

 

Die mit (*) gekennzeichnet Namen sind aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes geändert.