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Ausgabe 01 Leistung

Lebensleistung Freundschaft

Autor: Jürgen Liminski I Illustratorin: Carina Crenshaw

Lebensleistung Freundschaft

Besuch im Kloster Weltenburg

Steil ragen die Felswände aus der Donau empor, sie heben Schätze aus dem Strom, Erinnerungen. Korbinians Blicke tauchen in die Vergangenheit. Vor 28 Jahren waren sie, wie so oft, mit einem alten Kanu den Strom Richtung Kelheim gepaddelt. Der Donaudurchbruch – 80 Meter ist der Fluss hier breit, 20 Meter tief – war für die zwei immer eine Herausforderung gewesen. Die monoton fließende Stimme aus dem Lautsprecher des Touristenboots kontrastiert zur anschwellenden Strömung, das Englisch mit dem sympathisch leicht bayerischen Akzent klingt angenehm – ganz anders als im ICE von Hamburg nach Regensburg. Korbinian freut sich auf das Wiedersehen.

Gregor war damals aus der Welt gegangen. So hatte Korbinian es empfunden, als sein Freund bei den Benediktinern ins Kloster Weltenburg eintrat. Zwei Wochen zuvor, auf ihrer letzten Kanufahrt, hatte Gregor ihm von seinem Entschluss erzählt. „Bist narrisch“, hatte er ihm damals halb fragend, halb klagend gesagt. Aber Gregor lachte nur. „Schau, der Nepomuk“, hatte er ihm heiter erwidert und auf die Figur in der Felsennische gezeigt. Korbinian hatte damals keinen Sinn für den Patron der Flussschiffer. Was sollte aus ihrer Freundschaft werden? Das wäre ein ganz anderes Leben, „bei so viel Halleluja singa und betn bleibt koa Zeit fürs Kanu oder Kino“. Gregor hatte das wohl bedacht, denn er sagte: „Korbinian, a Freind is ma fürs Leben, ned fürs Kanu“. Und auch wenn man sich nicht oft sehe, entscheidend sei doch, dass man in die gleiche Richtung gehe, das gleiche Ziel habe. Dann zitierte er einen Franzosen, Saint-Exupery, der so etwas gesagt habe und fügte hinzu, dabei könne es schon sein, dass der eine ein großes Ziel im Auge habe, der andere nicht. Das Ziel könnte die Ewigkeit sein. Wenn der zweite dieses Ziel nicht habe, aber offen dafür sei, dann sei Freundschaft möglich, unabhängig von den Umständen. Er hatte sich das schon gut überlegt, der Gregor, und in einer Mail ergänzte er später: „Wer offen ist für das Gute, der sucht es auch. Und wer sucht, hat Hoffnung.“ Offenbleiben, suchen, hoffen – Freundschaft pflegen sei nicht leicht, hatte Gregor ihm später noch geschrieben, „Freundschaft ist Arbeit, eine Art permanente Performance“.

Diese Sätze hatte sich Korbinian gemerkt. Das war anders als bei Facebook. Gregor hatte keinen Facebook-Account. Nicht, weil es verboten wäre im Kloster, er wollte nicht. Sie hatten sich immer wieder mal gemailt und Gregor schrieb oft von Freundschaft und von den gemeinsamen Erlebnissen. Das sei mehr als ein Like-Gefühl. Korbinian war danach aufgefallen, dass es auf Facebook keine Hand mit nach unten gerichtetem Daumen gibt, es existiert nur das „Thumbs up“-Symbol, bei dem der Daumen nach oben zeigt. Hier können Beziehungen beendet werden, ohne dass die betroffene Person davon erfährt. Das ist bei persönlich erlebten Freundschaften von face to face nicht möglich. Um Freundschaften zu schließen, klickt man bei Facebook auf ein Symbol, und die Person, die die Anfrage erhält, klickt zustimmend oder auch nicht. Will man einen Freund aus der „Freundschaftsliste“ löschen, braucht es die Zustimmung nicht, es geschieht ohne Wissen des „Facebook-Freundes“. Keine Erklärung, keine Argumente, einfach nur eine tote Leitung. Das ist keine Leistung.

Der Lautsprecher riss Korbinian aus seinen Erinnerungen. Das Boot legte an. Er spürte, wie Spannung in ihm aufkam. Er hatte Gregor wohl geschrieben, dass er kommen wolle. Aber wie schon bei der Mail zuvor blieb auch diese ohne Antwort. Und als er für seine Firma einen Auftrag in München zu erledigen hatte, beschloss er, nach seinen Eltern auch seinen alten Freund in Weltenburg zu besuchen. Auch Gregor braucht Freundschaft, sagte er zu sich selbst und lächelte, weil er, vom Bootssteg auf den Uferweg einbiegend, sich an eine Passage von Aristoteles erinnerte, die Gregor ihm ebenfalls mal gemailt hatte. „Freundschaft ist das Nötigste im Leben“, habe der alte große Grieche geschrieben und Gregor hatte noch hinzugefügt: „Eine Lebensweisheit. Seine heutigen Nachfahren lassen einen da eher ratlos. Die kennen Freundschaft nur als Zweckgemeinschaft, als Selbstbedienungsladen, die Leistung sollen andere erbringen.“ Diplomatische Fähigkeiten hatte Gregor kaum, er war einfach zu ehrlich – auch das ein Zeichen seiner Freundschaftsfähigkeit über Zeiten und Räume hinweg.

Korbinian ging stramm die paar hundert Meter Uferweg entlang und freute sich, dass die kleine Mauer längs des Wegs immer noch so aussah wie früher, eine Festung mit Mini-Wehrtürmen und Schießscharten, darüber hatten die Freunde immer gescherzt. „Eine feste Burg ist unser Gott, aber mit kleinen, löchrigen Mauern.“ Natürlich war das Kloster gegen eine größere Streitmacht nicht zu halten und das hatte die Geschichte ja auch gezeigt. Zwar gehen die ersten Zeugnisse des Klosterlebens bis ins frühe siebte Jahrhundert zurück. Aber mehr zu schaffen machte dem Kloster auf der Schotterterrasse in der Flussschleife stets das Wasser der Donau.

An der Außenmauer des Klosters sind die Höchststände angezeigt, am höchsten stieg das Wasser 1845. An das Hochwasser 1999 konnte Korbinian sich noch erinnern. Er lebte und arbeitete da schon in Hamburg, und Gregor hatte ihm gemailt, dass das Wasser bis in den ersten Stock gestiegen war. Danach musste das Kloster grundsaniert werden. Seiner Attraktion hat es nicht geschadet. Der Biergarten im Innenhof war immer gut besucht. Auch heute. Kein Wunder: Weltenburg ist wegen seines dunklen Biers berühmt, es ist die erste Klosterbrauerei der Welt.

Berühmt ist Weltenburg auch wegen der barocken Klosterkirche.
„Der Herr Asam“, murmelte Korbinian lächelnd vor sich hin. Was hat Gregor nicht über diesen Architekten und Maler geschwärmt. Täglich singen sie die Psalmen in der wunderbar ausgeschmückten Kirche ohne Seitenfenster. Das Licht kommt oben herein und vermittelt so den Eindruck des Himmlischen da oben, während die Gläubigen im Halbdunkel dieser Welt in einen lichterfüllten Altarraum blicken. Dort singen sie, dachte Korbinian und ging schnurstracks durch den Innenhof auf die Kirche zu.

Schon im Eingang hörte er die Benediktiner. „Gregorianisch“, sagte er und nachdem sich seine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, suchte er in den Reihen des Altarraums nach seinem Freund. Es waren acht Personen, die da sangen, Gregor war nicht dabei. Korbinian setzte sich und lauschte. Dann schaute er nach dem Bild links in der Mitte, ein großes Gemälde, das den Aufstieg der Menschen in den Himmel zeigt, ins Licht. Gregor hatte ihm immer neue Details erzählt, die er beim Betrachten entdeckt hatte. Da waren Frauen und Männer, Mütter, Ritter, Handwerker, Kaufleute, Kleriker. Alle streben nach oben, in die gleiche Richtung. „Könnten Freunde sein“, sagte Korbinian. Aber die gleiche Richtung reicht wohl nicht. „Idem velle, idem nolle – das Gleiche wollen, das Gleiche nicht wollen“, das hatte ihm Gregor auch mal als Beschreibung der alten Klassiker von Freundschaft gemailt. Der gemeinsame Wille zähle, die Gemeinsamkeit im Streben, nicht der Einzelwille allein. Das setze den ehrlichen Austausch der Absichten voraus und das sei manchmal anstrengend, das müsse man schon wollen und das sei eben die Arbeit an der Freundschaft. Und wie ein Amen seine Schlussfolgerung: „Ohne guten Willen keine Freundschaft und auch kein Glaube.“ Ein echter Gregor, satte Sätze, einfache Weisheiten.

Die Benediktiner hatten ihre Vesper beendet und waren in die Sakristei gezogen. Korbinian wartete, bis der Abt wieder erschien und fragte ihn nach Gregor. Der Abt hielt inne, schaute ihn ernst, fast durchdringend an, seine gütig-freundlichen Züge überzog ein leichter Schatten.Nach einer Pause sagte er: „Gregor ist vor drei Monaten gestorben, bei der Laudes, Herzstillstand, sie konnten ihn nicht zurückholen.“ Korbinian wankte. In Gregors Familie gab es mehrere Todesfälle durch Herzstillstand, offensichtlich eine genetische Veranlagung. Aber Gregor selbst? Der Abt fragte ihn: „Sind Sie Korbinian?“. „Ja, woher wissen Sie …?“ – „Gregor hatte mir mal erzählt, dass er einen guten Freund habe mit diesem Namen und das Schöne sei, dass man sich trotz verschiedener Lebenswege immer noch so nah sei.“ Gregor habe einen Brief für diesen Freund hinterlassen, er habe wohl geahnt, dass sein Weg hier bald zu Ende sei. „Wir fanden den Brief in seinem Schreibtisch, zusammen mit anderen Briefen an seine Verwandten. Möchten Sie ihn haben?“ Korbinian nickte. Er hatte das Bedürfnis zu beten. Der Abt sagte: „Bleiben Sie hier. Da vorne ist der Herr. Ich hole den Brief“.

Korbinian saß allein in der Asam-Kirche. Er hatte das Gefühl, dass die Gestalten auf den Gemälden ihn beobachteten, besonders die oben im Licht. Der Abt kam zurück, gab ihm den Brief, bot an über Gregor zu sprechen und in der Klausur das Grab Gregors in der Gruft zu besuchen. Korbinian nickte, wollte aber erst noch vor dem Altar sitzen. Er war jetzt zu erschüttert für ein Gespräch. 28 Jahre hatte er Gregor nicht gesehen, und es schien ihm, als sei es gestern gewesen. „Die Präsenz im Herzen ist stärker als die physische Gegenwart“, hatte Gregor einmal geschrieben, „sie lebt zeitlos“. Korbinian öffnete den Brief. Er war kurz, eine knappe Seite, handgeschrieben. „Mein lieber Korbinian, alter Kanute, wenn Du diese Zeilen liest, werde ich Dir zulächeln. Sei nicht traurig. Ich bin nur etwas früher am Ziel angekommen als Du. Ich hab im Kanu ja auch immer vorne gesessen. Wir haben oft über Freundschaft geredet. Eins nur möchte ich Dir sagen: Wir alle erkennen uns über unsere Beziehungen, sie machen unsere Identität aus. Deshalb ist Freundschaft das Nötigste im Leben. Sie hilft uns, uns selber zu erkennen. Auf diesem Weg hat mir unsere Freundschaft sehr geholfen, auch wenn Du durch die Welt gereist bist und ich hier in Weltenburg beim Herrn Asam saß. Deine Gedanken haben mich angeregt, in all den Jahren über Güte, Liebe, das Gute und die Hoffnung nachzudenken.

Dafür möchte ich Dir danken, von ganzem Herzen. Schau, die Zehn Gebote regeln die Beziehungen, zunächst zu Gott (die ersten drei Gebote) und dann zu den Mitmenschen, wobei Ehe und Familie einen besonderen Platz einnehmen. Du hast mir oft von Deiner lieben Karin und den zwei Buben berichtet und auch ein Foto von Euch gemailt. Ich habe es gern vor dem Herrn betrachtet und mich über Euer Glück gefreut. Papst Leo XIII. hat die Ehe mal als ,die höchste Gemeinschaft und Freundschaft‘ unter den Menschen bezeichnet. Arbeite an dieser Beziehung, sie ist deine Freundschaft des Lebens. Auf dem kleinen Namensschild an Deiner persönlichen Himmelspforte steht Karin. Denk dran auf eurem Weg und betet für mich. In alter Freundschaft, Dein Gregor.“