- Autor: Johannes Seemüller
- Fotos: Bernhard Spoettel
Leonie Müller und ihr Weg nach oben
Volle Konzentration. Leonie Müller fokussiert den schwarzen Boxsack, der gut einen Meter entfernt von der Decke hängt. Die Füße der Modellathletin tänzeln sich in einen Rhythmus, mit ihren gelben Boxhandschuhen nimmt sie leichten Kontakt mit dem 28 Kilo schweren Ledersack auf. Plötzlich zündet die Boxerin den Turbo und geht in den Angriffsmodus. Ihre Fäuste bearbeiten den Boxsack mit einer gewaltigen Kraft und in rasanter Geschwindigkeit. Fünf Sekunden dauert dieses Trommelfeuer. Dann weicht sie wieder zurück. Pause. Gleich geht es weiter. Schlag auf Schlag. Wir sind am Olympiastützpunkt Heidelberg. Beim Interview wirkt die 24-Jährige im ersten Moment zurückhaltend, beinahe schüchtern. Im Training hatte die Powerfrau noch voller Dynamik ihre Fäuste fliegen lassen, jetzt strahlt sie Ruhe und Gelassenheit aus. Der Grund: „Ich habe Frieden in meinem Herzen“, sagt sie.
Wilde Schlägereien zwielichtiger Gestalten
Viele Menschen denken beim Boxen an wilde Schlägereien zwielichtiger Gestalten in schmuddeligen Hinterhof-Gyms. Oder an Sportevents, bei denen Solarium gebräunte Menschen mit Rolex-Uhren am Handgelenk am Ring sitzen. Müller kennt diese Klischees. Ihr geht es aber nicht um die Show. „Für mich hat Boxen viel mit Koordination, Ausdauer, Athletik, technischen Feinheiten und mentaler Stärke zu tun. Wenn du im Kopf nicht klar bist und nur drauflos prügelst, verlierst du dich und den Kampf.“
Die deutsche Meisterin liebt ihren Sport. Auch wenn viele Menschen Boxen für reinen Männersport halten, verteidigt Müller das Frauenboxen selbstbewusst. „Ich möchte zeigen, dass Frauen gut boxen können und stark sind.“ Das bekommen ihre Team-Kollegen zu spüren, die mit ihr in den Ring steigen. Müller trainiert vorwiegend mit Männern. „In Deutschland habe ich in meiner Gewichtsklasse nur wenige Gegnerinnen. Durch das Training mit den körperlich stärkeren Männern werde ich schneller und meine Reaktionen werden besser.“ Ein gutes Reaktionsvermögen ist wichtig. Im Boxsport kann es schnell gehen. Schon eine kleine Unaufmerksamkeit kann zu schweren Verletzungen führen. „Ich habe mal einen Schlag bekommen“, erzählt sie, „da war kurz das Licht aus bei mir. Ich sah nur noch Sterne.“ In einem anderen Fall wurde eine Nervenbahn an ihrer Wange durchtrennt. Die Gesichtshälfte war taub, wie bei einem Schlaganfall. Es dauerte Monate, bis sie wieder richtig trainieren konnte. „Jede, die in den Ring steigt, weiß, dass Boxen gefährlich ist“, sagt sie.
Der Kampf ums Gewicht – Leonie Müller wird magersüchtig
Im Boxsport gibt es verschiedene Klassen mit Gewichtsobergrenzen. Diese Obergrenze darf nicht überschritten werden. Schon als Kind muss Leonie streng auf ihr Gewicht achten, sie wiegt sich regelmäßig. „Mein Kopf drehte sich die ganze Zeit ums Gewicht“, erinnert sie. In der Pubertät entwickelt sie sich zur Frau, ihr Körper verändert sich. „Damit konnte ich nicht umgehen.“ Sie isst immer weniger und wird immer dünner. Trotzdem denkt sie beim Blick in den Spiegel: Ich bin zu dick. Mit 15 rutscht sie in die Magersucht. Ihr dürrer Körper bildet Wollhaar, damit sie nicht so stark friert. Sie bekommt brüchige Fingernägel, ihre Gedanken kreisen pausenlos ums Essen. Obwohl sie immer kraftloser wird, ist ihr Ehrgeiz ungebremst. „Die Magersucht motivierte mich fürs Training, weil ich noch dünner werden wollte.“ Trotz ihrer gefährlichen Essstörung gewinnt Leonie erneut den deutschen Meistertitel. Doch ihr körperlicher und mentaler Zustand verschlechtert sich rapide. „Irgendwann ging es gar nicht mehr darum, dünner zu werden. Ich dachte: Wenn ich überhaupt nichts mehr esse, dann verschwinde ich eben irgendwann. Ich hatte keine Perspektive, da rauszukommen.“
2017 kippt die damals 17-Jährige nach ihrem Finalkampf bei den deutschen Meisterschaften um. „Ich hatte einfach keine Kraft mehr. Ich war depressiv und saß in der Dunkelheit.“ Ihre Mutter greift ein. Sie bringt Leonie dazu, sich bei einer Therapeutin Hilfe zu holen. Die Mutter, eine Freundin und ihr Athletiktrainer unterstützen sie dabei, ihr Körperbild zu korrigieren. Der Heilungsprozess braucht Zeit. Ganz allmählich kehrt die Lebensfreude wieder zurück.
Heute ist Leonie Müller von der Magersucht geheilt. Die 1,79 Meter große Athletin startet im Weltergewicht, das ist die Gewichtsklasse bis 66 Kilo. Diese Klasse steht bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris auf dem Programm – da will sie unbedingt dabei sein.
Die schlimmste Zeit ihres Lebens wird die beste
Ihre Essstörung hat sie überwunden, doch Anfang 2022 folgen weitere Probleme. Innerhalb weniger Monate kugelt sie sich 13-mal ihre Schulter aus. „Ich habe sie mir immer wieder selbst reingeschubst“, sagt sie. „Manchmal während des Kampfes. Ich war so voll Adrenalin, dass ich den Schmerz nicht gespürt habe.“ Sie wird operiert – und fällt erneut in ein mentales Loch. „Das war eine ganz dunkle Zeit“, erinnert sie. „Das Boxen, das alles für mich war, war plötzlich weg.“ Eine befreundete Sportlerin sagt in dieser Zeit zu ihr: „Leonie, lass es zu. Vertrau auf Gott.“ Eine wichtige Erinnerung. Der Glaube war zuletzt etwas in den Hintergrund getreten. Als Kind ging sie in die Jugendgruppe einer Kirchengemeinde und sang im Kirchenchor. Die zehn Gebote waren für sie „eine Selbstverständlichkeit“, an denen sie sich im Leben orientierte. Jetzt, in der Krise, sehnt sie sich wieder stärker nach Gott.
Leonie geht während der Verletzungspause in eine Kirche und hört in der Predigt: „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ (2. Kor 12,9) Dieser Bibelvers lässt sie nicht mehr los. „Ich war zwar verletzt und konnte nichts tun; aber es war gut, dass ich mal nichts tun konnte. In dieser Zeit hat Gott ganz viel an meiner Seele gearbeitet. Wenn wir ruhen, arbeitet Gott.“
Am Ende ihrer fünfmonatigen Pause können sich die Ärzte nicht erklären, wie ihre Schulter so gut heilen konnte. „Ich dachte, es wird die schlimmste Zeit meines Lebens. Aber es war die beste“, erzählt sie strahlend. „Ich bin stärker denn je in den Ring zurückgekehrt.“ Heute steht der Vers aus dem Korintherbrief auf dem Mundschutz, den sie bei ihren Boxkämpfen trägt.
Vor ihren Kämpfen betet sie und auf ihre Unterarme hat sie die Worte „Jesus“ und „Christ“ tätowieren lassen. Voller Gottvertrauen steigt sie in den Ring. Aber wie passen christliche Nächstenliebe und fliegende Fäuste zusammen? Leonie Müller sieht darin keinen Gegensatz: „Ich hege keinen Hass gegen meine Kontrahentinnen im Ring. Ich will niemandem bewusst weh tun. Boxen ist für mich Sport, keine Prügelei oder Aggressionsabbau. Gott hat mir dieses Talent gegeben.“
Dieses Talent will sie im Sommer der ganz großen Sportwelt präsentieren. Müller gibt alles, um sich für die Olympischen Spiele in Paris zu qualifizieren. „Mein Ziel ist die Goldmedaille“, sagt sie selbstbewusst. Ihr Motto: „Träume nicht klein. Für Gott ist nichts unmöglich.“
Auch für die Zeit nach ihrer Sportkarriere hat sie schon einen Traum. Leonie Müller möchte mal ein eigenes Gym besitzen – mit Gebetsräumen oben drüber. Damit noch viele andere diese gesunde Balance aus körperlicher Fitness und innerem Frieden erleben können.