- Autor: Stefan Rehder
- Illustration: Atelier 4
Die Hochmut
Junger Mann, Sie haben Glück mich anzutreffen. Ich bin gerade auf dem Sprung. Wie haben Sie mich überhaupt gefunden? Ich lebe, müssen Sie wissen, sehr zurückgezogen. Informantenschutz? Einverstanden, ich mag Diskretion. Interview? Nun, ist das nicht das Gegenteil von Diskretion? Sind Sie sicher, sich nicht in der Tür geirrt zu haben? Interviews geben für gewöhnlich meine Halbgeschwister. Die erledigen das gern und gut. Für meinen Geschmack mangelt es ihnen zwar ein wenig an der mir eigenen Gravitas. Aber die Talente sind nun einmal verschieden. Niemand vermag alles, niemand nichts. Sie finden beide weiter vorne. Gleich neben dem Eingang. Steht angeschlagen: „Ruhm & Ehre“. Nicht zu übersehen.
Ich? Also, ich weiß nicht. Ich bin, wie soll ich sagen, von Natur aus eher zurückhaltend. Ich suche nicht die Bühne. Für gewöhnlich spreche ich nicht einmal, schon gar nicht über mich. Deswegen habe ich noch nie ein Interview gegeben. Sie machen sich Sorgen? Um mich? Ich bitte Sie, junger Mann, das müssen Sie nicht. Ich komme zurecht. Was man, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten, von Ihrer Spezies nicht behaupten kann.
Deswegen sind Sie hier? Natürlich verstehe ich das. Wen glauben Sie, haben Sie vor sich? Schon gut. Ich
bin abgeschweift. Wo war ich? Ach, ja, Zurückhaltung. Manche Ihrer Artgenossen halten mich für scheu. Das ist nur einer Eurer vielen Irrtümer. Ich bin, selbst auf die Gefahr hin, dass Sie mich der Prahlerei bezichtigen, lediglich vornehm. Dabei verstehe ich durchaus, dass Menschen heute beides leicht durcheinanderbringen. Wer bei Ihnen ist denn noch vornehm? Ihr Adel? In Teilen degeneriert. Ihr Bürgertum? Schauen Sie sich doch nur selbst an. So wie Sie hier unangemeldet hineinplatzen und ein Interview zu ergattern suchen. Erbärmlich.
Sparen Sie sich das, Sie müssen mir nichts erklären. Aber, das werden Sie mir sicher zugeben, wer scheu ist, besitzt auch Angst, nicht wahr? Zumindest ein wenig. Nun, ich kenne keine Angst. Warum sollte ich? Mir kann niemand etwas anhaben. Ich werde, auch wenn eine bei Ihnen gebräuchliche Redewendung das Gegenteil suggeriert, nie „mit Füßen getreten“. Das wäre, so immateriell, wie sich meine Existenz ausnimmt, gar nicht möglich. Ich bin, wie es die Mütter und Väter Ihrer Verfassung einmal auf unnachahmliche Weise formuliert haben, tatsächlich „unantastbar“. Ihr Grundgesetz gilt doch noch?
Ihr Grundgesetz gilt doch noch?
Die Hochmut
Selbstverständlich habe ich „bloß auf dem Papier“ gemeint. Junger Mann, nur Ihresgleichen benötigt Augen, um zu sehen. Ja, das stimmt natürlich: Sie und Ihre Artgenossen können mich ignorieren. Ununterbrochen und sogar restlos. Geschieht ja auch oft. Viel zu oft. Aber zu wessen Schaden? Doch nicht zu meinem, zu Ihrem, junger Mann. Ausschließlich zu Ihrem. Wissen Sie, manchmal komme ich mir vor wie in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Das war, wie Sie aus dem Geschichtsunterricht wissen sollten, eine furchtbare Zeit. Eine, in der ich bei Ihresgleichen überhaupt nicht hoch im Kurs stand. Wie Metzger Tiere, so habt Ihr einander abgeschlachtet. Nun, ich will keine Metzger beleidigen. Ein anständiger Beruf. Vergeben Sie mir.
Doch, doch, ich vermag da schon einige Parallelen zur Gegenwart zu entdecken. Richtig! Im übertragenen Sinne kann man durchaus davon sprechen, ich litt Missbrauch und Gewalt. Aber wenn Sie es genau nehmen, bin ich die Einzige in dieser furchtbaren Tragödie, der das nichts ausmachen müsste. Denn ich bin nicht bloß schwer zu kränken oder zu verletzen. Ich bin überhaupt nicht zu kränken oder zu verletzen. Ich bin, lassen Sie sich das gesagt sein, nicht nur unantastbar, ich bin auch unzerstörbar. Sie und Ihre Artgenossen sind es, die „mit Füßen getreten“, gekränkt, verletzt, gequält und vernichtet werden. Und das sogar in jedem Lebensalter.
Ich bin eine Signatur
Die Hochmut
Sie finden, ich schweife wieder ab? Bitte, wenn Sie solchen Wert darauflegen, dass ich noch mehr von mir erzähle. Aber Sie müssen das verstehen. Das ist gegen meine Natur. Nun ja, ich gebe zu: Es ist in der Tat frustrierend, derart verkannt zu werden. Nicht, dass Sie und Ihre Artgenossen meine Gefühle verletzten. Das ist, wie ich bereits erklärte, unmöglich. Aber ich hätte Euch schon für bedeutend klüger gehalten. Bei Eurem Ursprung darf man schließlich auch etwas erwarten. Der, dessen Namen Ihr einstmals nicht einmal auszusprechen wagtet, hat Eurer Spezies großartige Anlagen verliehen. Er hat Euch Fähigkeiten vermacht, welche die der anderen Lebewesen weit übertreffen. Und was macht Ihr daraus? Aber lassen wir das. Wenn ich daran denke, werde ich schnell sehr ärgerlich. Ich muss mich zügeln, sonst fahre ich am Ende noch aus der Haut. Aus der Haut fahren – ich? Der war gut. Der war wirklich gut. Scherz beiseite! Im Grunde ist doch alles ganz einfach. Ihre Spezies muss lediglich meine Existenz anerkennen. Dann würdet Ihr Euch viel Leid ersparen. Doch was macht Ihr? Ihr glaubt allen Ernstes, Ihr könntet mich zusprechen? Heilige Einfalt! Mich zusprechen! Ihr, einander! Geht’s noch? Seid Ihr völlig übergeschnappt??
Es stimmt natürlich: Ich existiere nur, weil es Sie und Ihresgleichen gibt. Und weil es IHM beliebt hat, Euch nach seinem Bilde zu erschaffen. Ich bin die Spur, die Euch zu IHM und zu Euch selbst führen kann. Denn wo ich aufscheine, dort bekommt Ihr eine Ahnung, wer Ihr in Wirklichkeit seid.
Den genetischen Code? Ja, den können Sie meinetwegen als seine Handschrift bezeichnen. Und da Eure Wissenschaftler – ein merkwürdiges Völkchen übrigens – ja längst damit begonnen haben, seine Handschrift zu entziffern, werden Sie mir sicher zustimmen wollen. ER führt eine wahrhaft große Feder. Aber wenn der genetische Code seine Handschrift ist, dann bin ich, um im Bilde zu bleiben, seine Signatur. Verstehen Sie nun, warum ich gar nicht materiell sein kann? Ich bin seine Signatur. Sein Stempel, der Ihre Abstammung beglaubigt. Wie könnte ich da anders als immateriell sein? Glauben Sie wirklich, dass ER etwas derart Bedeutendes wie ein Abbild seiner selbst schafft, ohne wenigstens so etwas wie ein Wasserzeichen zu hinterlassen, das auf seine Urheberschaft verweist? Ich bin dieses Zeichen. Wer meiner gewahr wird, der erhält eine Ahnung davon, wie viel Sie und Ihre Artgenossen IHM bedeuten. Und doch denkt Ihr, Ihr könntet Euch mich gegenseitig zusprechen? Wenn es nicht so traurig wäre, wäre es zum Lachen. Glaubt Ihr wirklich, ich sei von dieser Art. Dass ich nur dort existent sei, wo Ihr mich zuvor – Abrakadabra – auch zugesprochen habt? Dass es mich dort nicht gibt, wo Ihr Euch weigert, dies zu tun? Herrgott, was bildet Ihr Menschen Euch eigentlich ein? War es denn Euer Wort, das am Anfang von allem stand?
Was sagen Sie? Ich sei eine Vereinbarung, die Menschen getroffen hätten. Sapperlot! Selbstverständlich weiß ich, dass dies der Standpunkt der Moderne ist. Und das auf diesem Gedanken das Modell eines abgestuften Lebensschutzes basiert, weiß ich auch. Junger Mann, darüber brauchen Sie mich wirklich nicht zu belehren. Aber wissen Sie auch, was ich von der Moderne halte? Nein? Nun, die Moderne ist, um mich mal höflich auszudrücken, der kürzeste Abstand zwischen jenen beiden, Unheil bringenden Linien, die seit der Erbsünde die Geschichte Ihres Geschlechts durchzieht, nämlich des Hochmuts und der Dummheit. Das halte ich von der Moderne. Nein, nein, es ehrt Sie durchaus, dass Sie das anders sehen. Aber um das wirklich beurteilen zu können, leben Sie einfach nicht lange genug, junger Mann. Sehen Sie mal, die Sache ist doch ganz einfach. Entweder sind Sie ein Ebenbild Gottes oder Sie sind es nicht.
Wenn Sie ein Ebenbild Gottes sind – und nur dann macht meine Existenz überhaupt Sinn – sind Sie es vom Moment Ihrer Entstehung an. Und dann bin ich, als seine Signatur, nicht mehr von Ihnen zu trennen. Sie besitzen mich vom ersten Augenblick Ihrer Existenz an. Sie können mich so mit Dreck zudecken, dass Sie oder irgendwer sonst meiner nicht mehr gewahr wird, das wohl. Aber ich weiche nicht mehr von Ihrer Seite. Sie können mich nicht mehr verlieren. Ganz egal, was Sie auch anstellen.
Konnten Sie mir bis hierhin folgen? Gut, dann weiter. Wenn Sie aber kein Ebenbild Gottes sind, dann gibt es natürlich auch keinen Grund, so etwas wie mich überhaupt anzunehmen. Wo kein Schöpfer, da keine Signatur. Klar? Nun, dann aber können mich Ihre Artgenossen sich wechselseitig so lange zusprechen, wie sie wollen. Ab welchem Stadium oder für wie lange – all das ist dann belanglos. Völlig, restlos. Denn dann gibt es mich überhaupt nicht. Capisce?
Sie machen aus sich eine Sache.
Die Hochmut
Sie wollen, dass ich Beispiele nenne? Junger Mann, haben Sie denn Tomaten auf den Augen? Ihr Menschen benutzt Euch doch am laufenden Band zu den unterschiedlichsten Zwecken. Mal als Leitern, mal als Fußabtreter in Eurem erbitterten Kampf um Ansehen und Reichtum. Ihr belügt und betrügt einander. Ihr setzt einander herab. Ihr quält, foltert und vergewaltigt. Ihr verhängt die Todesstrafe. Millionenfach selbst über gänzlich Unschuldige. Ihr tötet Eure Kinder bereits in den Leibern ihrer Mütter. Ihr durchstöbert ihr Genom. Ihr fahndet nach Anlagen, die Euch nicht zusagen. Ihr vermesst einander nach Strich und Faden. Ihr habt begonnen, Euren ausgewachsenen Exemplaren die Tür aus diesem Leben zu weisen. Mehr noch, Ihr erwartet voneinander, dass Ihr Eurem Leben selbst ein Ende setzt, wenn Ihr nicht mehr produktiv genug seid, wenn Ihr alt, krank oder schwach werdet. Ihr reproduziert Euch im Labor und schmeißt einander weg wie Fließbandware. Und da wollen Sie Beispiele?
Was Sie dagegen tun sollen? Das fragen Sie mich? Nun, denn. Schauen Sie mal, das höchste Gericht Ihres Landes, das Bundesverfassungsgericht, hat einmal über mich gesagt: Wo menschliches Leben existiert, käme ich ihm zu. Das ist richtig, wenn auch erstaunlich unpräzise. Denn menschliches Leben gibt es nur als personales. Deswegen ist jedes Mitglied Ihrer Spezies eine Person, ein Wesen, das Seine Signatur trägt. Verhaltet Euch entsprechend. Beherzigt die „regula aurea“, die „Goldene Regel“. Die kennen Sie doch? Gut, denn mehr ist dazu eigentlich nicht zu sagen. Oh, es ist spät geworden. Junger Mann, nehmen Sie es mir nicht übel, ich muss los. Der Meister ruft. Ich soll aufgeprägt werden. Und seien Sie so gut, entstellen Sie unser Gespräch nicht, wenn Sie es wiedergeben. Bedenken Sie: Es wäre zu Ihrem Schaden, nicht zu meinem. Leben Sie wohl!