
Lesedauer: ca. 11 Min.
Autor: Tobias Liminski | Portraitfotografie: Bayerischer Rundfunk
Wir leben in Fiktionen
Geschicktes Navigieren im Netz kann befreien. Ein Gespräch mit dem Medienwissenschaftler Norbert Bolz über Informationsblasen, die Freiheit der Meinung und die Freiheit in der Wissenschaft.
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@grandios.online
Herr Professor, ist die Meinungsfreiheit hierzulande gefährdet?
Norbert Bolz
@norbertbolz
Ich finde schon. Abweichende Meinungen werden moralisch sanktioniert. Wer nicht mit dem Mainstream schwimmt oder treibt, dessen eigene moralische Integrität wird infrage gestellt, auch wenn das Thema mit Moral nichts zu tun hat. Viele Themen werden nur so noch behandelt.
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@grandios.online
Können Sie da Themen nennen?
Norbert Bolz
@norbertbolz
Man denke nur an das Flüchtlingsthema. Oder Europa. Oder Trump. Man kann da eigentlich nur noch eine Meinung äußern. Die Möglichkeiten, andere Meinungen zu artikulieren, sind sehr begrenzt. Dasselbe bei der Energiewende. Je größer das politische Thema ist, umso schwieriger ist es, eine abweichende Meinung zu formulieren.
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@grandios.online
Leben die Menschen nur noch in ihren Informationsblasen? In den USA will nachweislich ein Drittel der Bevölkerung von anderen Meinungen oder Medien, die andere Meinungen vertreten, nichts mehr wissen.
Norbert Bolz
@norbertbolz
Das ist so. Eine Blase ist der Mainstream, eine andere sind die Paranoiker, also die Blase der Verschwörungstheorien. Solche Blasen verhindern den Austausch der Argumente. Ein freier Meinungsaustausch kann so nicht mehr stattfinden.
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@grandios.online
ARD und ZDF haben zur Klärung und Einordnung der Begriffe in den Redaktionen eine Handreichung, genannt Framing, in Auftrag gegeben. Das hat Diskussionen ausgelöst. Ist das Framing der öffentlich-rechtlichen Medien auch eine Blase?
Norbert Bolz
@norbertbolz
Im Grunde ja. Mit dieser Form der Sprachregelung wird die orwellsche Utopie vom Neusprech Wirklichkeit. Das ist die Produktion von Bewusstsein durch Sprachpolitik und gehört in das große Thema der politischen correctness. Man will das Denken prägen – im Sinn des von den öffentlich-rechtlichen Medien propagierten Mainstreams.
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@grandios.online
Ist das nicht durchschaubar? Hält man hier nicht an Wunschvorstellungen fest? Die Sozialpsychologie spricht in diesem Zusammenhang von der kognitiven Dissonanz, also einer bestimmten Bewertung von Fakten, obwohl die Faktenlage eigentlich eine andere, nicht selten gegenteilige Bewertung erfordert.
Norbert Bolz
@norbertbolz
Natürlich ist das durchschaubar, weil es zu offenkundig daherkommt. Aber gerade das führt auf Dauer zu der kognitiven Dissonanz, die Leon Festinger für die großen Themen unserer Zeit prognostiziert hat. Denn dieses Framing ist ja auch eine Konditionierung von Wertvorstellungen. Negativ definierte Werte darf man nicht teilen oder man stellt sich außerhalb des vorgegebenen Rahmens. Das ist klassische Manipulation. Und sie ist so plump, dass man sich nicht wundern sollte, dass das Misstrauen gegenüber den Öffentlich-Rechtlichen wächst.
Leon Festinger |1919–1989| war ein US-amerikanischer Sozialpsychologe, der hauptsächlich durch seine Theorie der kognitiven Dissonanz, die Theorie des sozialen Vergleichs und seine Experimente bekannt wurde.
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@grandios.online
Was macht sie so plump?
Norbert Bolz
@norbertbolz
Die unheilvolle und sichtbare Nähe zwischen Journalisten und Politik, die offenkundige Überlagerung und Deckungsgleichheit zwischen der politischen correctness und der Informationspolitik der politischen Klasse.
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@grandios.online
Trotzdem schauen viele noch die Tagesschau oder das heute-journal.
Norbert Bolz
@norbertbolz
Ja, aber es sind zu viele Skandale passiert, die das Vertrauen zerstört haben. Nicht nur im Fernsehen. Der vorläufige Höhepunkt war der Skandal namens Relotius, jenes preisgekrönten Journalisten, der Personen und Situationen schlicht erfunden hat. Es gibt ein abgrundtiefes Misstrauen gegenüber den Journalisten, man glaubt ihnen nicht mehr.
GRANDIOS
@grandios.online
Gibt es überhaupt Alternativen? Das Netz eröffnet Wege in die große Freiheit, heißt es. Immerhin ermöglicht es Parallel-Öffentlichkeiten, um Zensur zu umgehen. Ist das so?
Norbert Bolz
@norbertbolz
Grosso modo, ja. Ich persönlich könnte mir kein Bild mehr von der Welt machen, wenn die Informationen der Öffentlich-Rechtlichen nicht immer wieder durch das Netz relativiert würden. Das Netz ist für mich die wichtigste Informationsquelle. Durch geschicktes Navigieren kann man sich befreien und aus der Knechtschaft der klassischen Massenmedien ausbrechen. Viele meiner Studenten informieren sich nur noch im Netz.
GRANDIOS
@grandios.online
Was heißt geschicktes Navigieren? Können Sie da einen Tipp geben?
Norbert Bolz
@norbertbolz
Ich bin ein großer Fan von Twitter. Zwar folge ich nur wenigen Leuten, deren Urteil und kluge Analysen ich aber sehr schätze. Sie sind für mich vertrauenswürdig. Und sie weisen mit Links auf Artikel und Publikationen hin, die ich sonst nie lesen würde. Man verlässt sich am besten auf seinen gesunden Menschenverstand. Der sagt immer noch, was richtig oder falsch, zuträglich oder abträglich, hässlich oder schön ist.
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@grandios.online
Wo ist der gesunde Menschenverstand besonders nötig?
Norbert Bolz
@norbertbolz
Es fehlt heute nicht an Informationen, auch nicht im Netz. Über die unheilige Allianz zwischen Medien und Politik haben wir gesprochen, die gibt es auch im Netz. Sorge bereiten mir dagegen die neoreligiösen Bedürfnisse: sie schalten das Denken aus, zum Beispiel die Überhöhung eines Schulmädchens zur Klima-Prophetin oder das Essen als Religionsersatz. In diesen pseudoreligiösen Bewegungen sehe ich Gefahren für die Gesellschaft.
GRANDIOS
@grandios.online
"Die Wahrheit wird Euch frei machen", heißt es bei Johannes. Ist Wahrheit noch ein Begriff, mit dem moderne Gesellschaften und ihre Netzwerke etwas anfangen können?
Norbert Bolz
@norbertbolz
Nicht nur die Netze, die Moderne selbst kann mit dem Begriff nichts mehr anfangen. Evidenzen werden nicht mehr akzeptiert, Wahrheit ist Privatsache geworden. Die Wahrheit wird ersetzt durch Hypothesen. Das ist letztlich Konstruktivismus: man schafft sich seine Welt. Der Konstruktivismus liefert aber nur kleine Autonomien.
Konstruktivismus: Eine der Grundannahmen des radikalen Konstruktivismus ist, dass die persönliche Wahrnehmung nicht das Abbild einer Realität produzieren kann, welche unabhängig vom Individuum besteht, sondern, dass Realität für jedes Individuum immer nur eine Konstruktion seiner eigenen Sinnesreize und seiner Gedächtnisleistung bedeutet.
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@grandios.online
Gilt die alte Definition nicht mehr, wonach Wahrheit die Enthüllung der Wirklichkeit, die Übereinstimmung des Denkens mit den Dingen ist?
Norbert Bolz
@norbertbolz
„Wohl dem, der in seinem Glauben fest steht, so dass er klare Kriterien hat für Erkenntnis und Orientierung in der Welt.“ Aber diese Definition des Thomas von Aquin stammt eben aus dem Mittelalter. Das war buchstäblich eine andere Welt. Der Konstruktivismus ist eine kopernikanische Wende in der Geistesgeschichte. Er hat das an der Wirklichkeit und der Logik ausgerichtete Denken, das Kontingenzbewusstsein, ersetzt durch ein Hypothesendenken. Das ist nichts anderes als der Verzicht auf die Wahrheit, was mit Kant begonnen hat – Kant ist schon ein Konstruktivist. Es gibt in unserer Zeit nur wenige Denker, die das erkennen und dem widersprechen. Ratzinger ist einer von ihnen.
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@grandios.online
Leben wir in Fiktionen?
Norbert Bolz
@norbertbolz
Ja, tun wir. Aber die lebensnotwendigen Funktionen reichen den Menschen offenbar. Solange der Betrieb, das System läuft, solange wird nicht hinterfragt.
GRANDIOS
@grandios.online
Und die Wissenschaft, fragt sie nicht nach befreienden, wahrhaftigen Erkenntnissen?
Norbert Bolz
@norbertbolz
Es gibt keine allgemeingültigen Standards mehr für wissenschaftliche Erkenntnisse. Jede Wissenschaft konstruiert heute ihre eigene Welt. Der Konstruktivismus wird immer radikaler.
GRANDIOS
@grandios.online
Gibt es überhaupt noch einen Konsens in der Gesellschaft außer der Straßenverkehrsordnung?
Norbert Bolz
@norbertbolz
Nein, jedenfalls nicht im Sinn von positiven Werten. Wir sind uns nur noch einig, was wir nicht wollen. Die negative Wertegemeinschaft reicht uns, wir grenzen nur noch aus. Diese Gesellschaft kann nur noch abwehren. Die Straßenverkehrsordnung ist geradezu ein Paradebeispiel. Ihr Regelwerk besteht aus Verboten, es ist ein negativer Konsens. Wer ihn verlässt, der wird bestraft.
GRANDIOS
@grandios.online
Und die Freiheit als Wert? Die Gewissensfreiheit als Mutter aller Freiheiten?
Norbert Bolz
@norbertbolz
Auch darüber gibt es keinen Konsens mehr. Gerade die Meinungsfreiheit wird als oberer Wert de facto nicht mehr anerkannt, denn viele Meinungen werden tabuisiert. Siehe oben. Es ist gefährlich, wenn man eine falsche Meinung hat, dann gerät man leicht in den Bann der Oberlehrer der Nation.
GRANDIOS
@grandios.online
Keine allgemein anerkannte Wahrheit, kein positiver Wertekonsens, keine Freiheit - läuft das nicht auf Anarchie hinaus?
Norbert Bolz
@norbertbolz
Nein, weil die einzelnen Teilsysteme funktionieren. Es gibt auch genügend gebildete Menschen, die diese Systeme am Laufen halten. Zwar werden es weniger und die Zahl der Dumm- und Quatschköpfe steigt, aber das bleibt erträglich, weil wenige Menschen ausreichen, um diese Gesellschaft in vernünftigen Bahnen zu halten. Ich bin da auch optimistisch, vor allem mit Blick in die Wirtschaft und die Technik. Das sind die Bereiche, wo einzelne mit Privatinteressen und Karriereperspektiven – das sind die ausschlaggebenden Faktoren – die Welt gestalten und Freiheit weiter ermöglichen.