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Ausgabe 04 Freiheit

1.245 Quadratmeter Stoff und eine Gondel mit Wäscheleinen

Lesedauer: ca. 9 Min.

Autor: Markus Reder | Fotografie: herbX film / Marco Nagel

1.245 Quadratmeter Stoff und eine Gondel mit Wäscheleinen

Mit einem selbst gebauten Heißluftballon gelingt zwei Familien die spektakuläre Flucht aus der DDR.
Michael Bully Herbig hat ihre Geschichte verfilmt. Alles für ein Leben in Freiheit zu riskieren: Das hat ihn fasziniert.
Der echte Flucht-Ballon ist jetzt im neuen Haus der Bayerischen Geschichte in Regensburg zu sehen:
Ein Symbol ungebrochenen Freiheitswillens.

Ein waghalsiger Plan, unglaublicher Mut und eine dramatische Flucht: Was nach großem Kino klingt, ist eine wahre Geschichte.Mit einem selbstgebauten Heißluftballon fliehen die Familien Wetzel und Strelzyk am 16. September 1979 aus der DDR. 28 Minuten dauert ihr nächtlicher Flug. Achtzehn Kilometer legen sie zurück. Dabei steigen sie in eine Flughöhe von 2.000 Metern auf. Gegen drei Uhr morgens landen die Familien – darunter vier Kinder – im bayerischen Grenzort Naila. „Sind wir im Westen?“, lautet ihre erste Frage. Dann wissen sie: sie haben es tatsächlich geschafft.

Ihrer Flucht geht eine jahrelange Planung voraus. Unter strenger Geheimhaltung entwickeln Günter Wetzel (geb. 1955) und Peter Strelzyk (1942 – 2017) ein Brennsystem und bauen einen Ballonkorb. Tagelang werden hunderte Quadratmeter Stoff zusammengenäht. Immer in Angst, aufzufliegen. Insgesamt bauen sie drei Ballone. Der erste erweist sich als zu schwer und war nie in der Luft. Der Fluchtversuch mit dem zweiten Ballon endet mit einem Absturz noch vor der Grenze. Die Stasi ist ihnen dicht auf den Fersen. Mit dem dritten Ballon gelingt schließlich das Unfassbare.

Erst Hollywood, dann Bully Herbig

Die wohl spektakulärste Flucht aus der DDR macht weltweit Schlagzeilen. Stasi-Chef Erich Mielke soll getobt haben. Im Westen ist man fasziniert vom Mut der Familien aus dem Osten. Hollywood meldet sich. Unter dem Titel „Night Crossing“ („Mit dem Wind nach Westen“) bringt Disney die Geschichte in die Kinos. Jahre später macht sich ein deutscher Filmemacher erneut an den Stoff und dreht einen Thriller, der dem Publikum den Atem verschlägt: Michael Bully Herbig.

Bis dahin galt der Regisseur und Schauspieler als der Mann für humorvolle Filmunterhaltung. Mit seinen Filmen schrieb er Kino- und Fernsehgeschichte („Bullyparade“, „Schuh des Manitu“, „(T)Raumschiff Surprise – Periode 1“ u.a.). Sein Film „Ballon“ (2018) beweist: Humor und Komik sind nur eine Seite von Michael Bully Herbig. Mit seinem ersten Thriller ist ihm ein Meisterwerk gelungen. Herbig führte Regie. Er hat den Film produziert und am Drehbuch mitgearbeitet.

Entstanden ist ein packender, mitreißender Film mit untrüglichem Gespür für Spannung und Dramatik. Obwohl der Zuschauer von Anfang an weiß, wie es ausgeht, entwickelt „Ballon“ eine innere Dynamik, die von der ersten bis zur letzten Minute fesselt. Dabei taucht der Film mit beindruckendem Realismus in die Lebenswirklichkeit der ehemaligen DDR ein.

©herbX film / Jens Koch

„Dieser Wagemut hat mich total vereinnahmt“

- Bully Herbig

Die Geschichte dieser Flucht habe ihn nicht losgelassen, erinnert sich Michael Bully Herbig gegenüber GRANDIOS. „Als die Flucht passiert ist, war ich im Alter von Fitscher, dem jüngeren Sohn der Strelzyks, und als ich den Disney-Film gesehen habe, war ich im Alter des älteren Sohnes Frank. Und was ich nachvollziehen konnte, war, dass diese Menschen alles für ein Leben in Freiheit riskiert haben. Dieser Wagemut, der Wahnsinn dieser Geschichte – das hat mich total vereinnahmt.“

Michael Bully Herbig vertieft sich in die Geschichte und lernt die beiden Familien kennen. Dieser persönliche Kontakt ist ihm wichtig: „Ich wollte den Film fürs Kino machen und unbedingt die echten Familien mit ins Boot holen. Für mich lag der Reiz darin, den wahren Ereignissen so nah wie möglich zu kommen und diesen Film den heutigen Sehgewohnheiten anzupassen.“

Das ist herausragend gelungen. Mit Präzision und Sensibilität vermittelt der Film die Lebenssituation in der DDR – bis in kleinste Details. „Ballon“ zeichnet ein atmosphärisch dichtes Stimmungsbild – optisch wie emotional. Mit Erlaubnis der beiden Familien konnten die Drehbuchautoren mehr als 2.000 Seiten Stasi-Akten einsehen, die nach der geglückten Flucht über die Familien Strelzyk und Wetzel angelegt worden waren. Je intensiver sich Herbig mit deren Geschichte befasst, desto mehr beeindruckt ihn der Mut der Familien: „Viele Menschen haben versucht, aus der DDR zu fliehen. Sie haben sich im Kofferraum versteckt, Tunnel gegraben, wollten Flugzeuge entführen oder sind durch Flüsse geschwommen, aber einen riesigen Ballon zu nähen, sich zu acht in eine windige Gondel mit ein paar Seilen drumherum zu zwängen und damit auf 2.000 Meter Höhe aufzusteigen, ist extrem waghalsig.“

Beklemmende Dreharbeiten im Todesstreifen

Während der Arbeiten am Drehbuch stellt sich heraus, dass beide Familien Ende der 1970er Jahre die kompletten Rechte ihrer Lebensgeschichte exklusiv an den Disney-Konzern verkauft hatten. Es beginnt eine mehrjährige Auseinandersetzung um die Filmrechte. Als das Projekt endgültig zu scheitern droht, hilft Herbig sein Kontakt zu Starregisseur Roland Emmerich. Mit dessen Hilfe gelingt es schließlich doch noch, die deutschsprachigen Remake-Rechte zu sichern.

Sechs Jahre Vorbereitung stecken in dem Projekt, als endlich die Dreharbeiten beginnen. Mit viel Liebe zum szenischen Detail wird Nordhalben in Bayern ins thüringische Pößneck zu DDR-Zeiten verwandelt.

In Pößneck wohnten die Familien Strelzyk und Wetzel. Gedreht wurde auch in Mödlareuth. Die kleine Ortschaft in der Nähe von Hof galt früher als „Little Berlin“. 41 Jahre lang verlief die streng bewachte innerdeutsche Grenze mitten durch das Dorf. Heute zeigt das dortige Deutsch-Deutsche Museum den Wahnsinn von Mauer, Stacheldraht und Selbstschussanlagen. Für den Film wurden hier Szenen gedreht, die eine tödlich geendete Flucht zeigen. Entstanden sind sie in einem echten ehemaligen Todesstreifen, der zum Museum gehört. „Es ist beklemmend, an solch einem geschichtsträchtigen Ort das tödliche Scheitern eines Fluchtversuchs zu drehen“, sagt Herbig. Weitere Szenen führten das Filmteam unter anderem auch in das Berliner Stasimuseum. Nach fünfzig intensiven Drehtagen fällt schließlich die letzte Klappe.

Der Stoff, der in die Freiheit trägt

Titelheld und heimlicher Hauptdarsteller des Films sei der Heißluftballon, mit dem den Familien Strelzyk und Wetzel die Flucht in den Westen gelingt, heißt es später im Presseheft zum Film. Bewusst hat Herbig darauf verzichtet, den Ballon digital am Computer entstehen zu lassen. „Vor 25 Jahren konnte man das Kinopublikum mit digitalen Dinosauriern in großes Staunen versetzen, doch heute sind die Zuschauer übersättigt, weil es fast nichts mehr gibt, was sie noch nicht auf der Leinwand gesehen haben.“ Der Regisseur ist überzeugt: „Das geschulte Auge sieht, ob etwas aus dem Computer kommt oder real gebaut und gedreht wurde. Ein echter Ballon in dieser Größe beeindruckt mich einfach mehr, als einer aus dem Computer. Außerdem wollte ich, dass die Schauspieler dieses Monster auch anfassen können.“

Für die Dreharbeiten werden zwei Ballons so originalgetreu wie möglich nachgebaut. Die Recherchen dazu führen in das Heimatmuseum Naila, wo der Original-Ballon bis 2017 ausgestellt wurde. Dessen Maße sind in der Tat monströs. Die Gondel für vier Erwachsene und vier Kinder maß lediglich 1,4 mal 1,4 Meter. Ihre äußere Begrenzung bestand aus vier senkrechten Stangen, um die Wäscheleinen gebunden waren. Aber der selbstgenähte Ballon war 32 Meter hoch. Seine Hülle bestand aus 1.245 Quadratmetern Stoff, die ein Fassungsvermögen von 4.200 Kubikmetern Luft hatten. Verrückt! Was da heimlich im Keller zusammengenäht wurde, war 1979 der größte Ballon Europas.

Maximales Risiko bis zur letzten Sekunde

Die Ballon-Szenen zu drehen, erweist sich als besondere Herausforderung. „So ein Drehplan ist kein Wunschkonzert, vor allem wenn man nachts und mit Kindern dreht. Zu viel Wind würde diese Wand aus Stoff unkontrollierbar und das Drehen noch gefährlicher machen. Da ist viel Feuer im Spiel, alles wackelt und steigt bis zu dreißig Meter in die Höhe, was zusätzliche Gefahren für alle Beteiligten mit sich bringt“, erinnert sich Herbig.

Die Dreharbeiten zeigen, welch großes Risiko diese Ballon-Flucht bedeutete. Bis zur letzten Minute liefen die Familien Gefahr, entdeckt zu werden. Aber auch das Wetter oder ein technischer Defekt hätte das tragische Ende ihrer Flucht bedeuten können. Michael Bully Herbig hat eine enorme Hochachtung vor dem Wagnis, das die Familien eingegangen sind. „Was sie erlebt haben, ist ein unvergleichliches Abenteuer. Wir erzählen von mutigen Menschen, die die Freiheit wollten und fest daran glaubten, dass sie ihr Ziel erreichen. Das ist die Faszination ihrer Geschichte, die zugleich deutsch-deutsche Geschichte ist.“

Authentisch und spannend erzählt

Ohne den moralischen Zeigefinger zu schwingen, will Michael Bully Herbig mit „Ballon“ auch ein wenig aufklären: „Es gibt eine junge Generation, die 30 Jahre nach dem Mauerfall kaum noch etwas über die DDR weiß oder wissen will. Ich vergleiche das mit meiner Generation, die nur schwer nachvollziehen konnte, warum sie 30 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit den Gräueltaten der Nationalsozialisten konfrontiert wurde. Auch ich dachte damals: Mensch, ich bin 1968 geboren. Was habe ich damit zu tun? Das hat eine andere Generation verbockt. Doch je älter ich werde, desto mehr rückt Geschichte an mich heran. Dann spielt die zeitliche Distanz keine Rolle mehr, sondern ich beurteile nur noch, was geschehen ist und wie es Menschen beeinflusst hat. Deshalb haben wir auch alles daran gesetzt, deutsch-deutsche Geschichte authentisch und trotzdem unterhaltsam und spannend zu vermitteln.“

Dass dieses Kapitel deutsch-deutscher Geschichte nicht in Vergessenheit gerät, ist auch Frank Stumpf ein großes Anliegen. Stumpf ist erster Bürgermeister der Stadt Naila. Bei Naila waren die Familien Wetzel und Strelzyk in jener Nacht des 16. September 1979 gelandet. Stumpf erinnert sich noch gut daran. Die Familien kennt er persönlich. Der Ort ihrer Landung liegt nur rund 300 Meter von seinem Elternhaus entfernt. Sein Vater feierte an dem Tag Geburtstag. „Ich war am 16. September dabei. So etwas vergisst man nie mehr im Leben.“ Die geglückte Flucht sprach sich wie ein Lauffeuer in Naila herum und ging in Windeseile um die Welt. Schon Stunden nach der Landung stürmten TV-Sender, Radiostationen und Zeitungsreporter die oberfränkische Kleinstadt. Die spektakuläre Flucht-Geschichte sorgte international für Aufsehen. Peter Strelzyk bekam Autogrammwünsche bis aus Australien. Günter Wetzel hält noch heute Vorträge. Seine Internetseite „ballonflucht.de“ informiert ausführlich über die Flucht.

Eine Sehnsucht, die tief beeindruckt

Gegenüber GRANDIOS zeigt sich Nailas Bürgermeister tief beeindruckt von der Sehnsucht nach Freiheit, die die Familien angetrieben haben muss. „Was für eine waghalsige Entscheidung!“, sagt Stumpf. „Hinter verschlossenen Türen einen solchen Ballon zusammennähen. Immer darauf achten, dass niemand, aber auch wirklich niemand etwas mitbekommt. Zwei gescheiterte Fluchtversuche und dann doch noch in einer Nacht- und Nebelaktion fliehen: Was auf diesen Menschen damals für ein politischer Druck lastete, kann man sich heute – drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall – kaum mehr vorstellen.“ Umso wichtiger sei es, das nicht zu vergessen, meint der Bürgermeister. „Die Menschen waren eingesperrt durch Mauer, Stacheldraht und Minen. Sie waren in ihrer Meinungsfreiheit eingeengt. Die Stasi hat alles und jeden überwacht. Niemand konnte dem anderen trauen. Die Leute wollten nur noch raus.“

Wetzels und Strelzyks hätten viel Glück gehabt, meint der Bürgermeister „Die Stasi war ja bereits dicht hinter ihnen her. Wäre auch dieser Fluchtversuch gescheitert, wären sie verhaftet worden. Das muss man sich mal überlegen, welch wahnsinnigen Druck das bedeutet haben muss!“

Nach ihrer erfolgreichen Flucht haben die Familien Wetzel und Strelzyk ihren Ballon der Stadt Naila geschenkt. Dazu gibt es eine Schenkungsurkunde. Am 21. September 1979 wurde sie unterzeichnet, nur wenige Tage nach der Landung in Naila. Im letzten Satz dieser Urkunde schreiben Wetzels und Strelzyks: „Möge dieser Ballon von der Stadt Naila für alle Zeiten als Zeichen eines ungebrochenen Willens zur Erlangung der Freiheit erhalten werden.“

Restauriert für Regensburg

„Das ist für uns natürlich eine Verpflichtung“, betont der Bürgermeister. Für Stumpf ist dieser Ballon „ein Symbol der Freiheit“. Deshalb ist es ihm wichtig, dass er auch außerhalb Nailas gezeigt wird. Derzeit ist der Ballon an das Haus der Bayerischen Geschichte in Regensburg verliehen. Zwei Jahre wird er dort zu sehen sein. „Für die heutige junge Generation ist Freiheit selbstverständlich, aber Freiheit ist eben keine Selbstverständlichkeit. Das muss man immer wieder in Erinnerung rufen“, betont Stumpf. Darum sei es wichtig, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen. „Reisen nach Berlin, nach Naila, nach Mödlareuth oder Besuche im Haus der Bayerischen Geschichte tragen dazu bei, Bewusstsein zu schaffen. Unterdrückung, Unrecht und Unfreiheit, die die Menschen in der früheren DDR erlitten haben, dürfen nie vergessen werden.“

Bevor der Ballon nach Regensburg ins Haus der Bayerischen Geschichte kam, wurde er in Naila gründlich restauriert, berichtet der Bürgermeister. Dabei wurde größter Wert auf Originaltreue gelegt. „Bis hin zum Streichholz, mit dessen Entzünden das Befüllen des Ballons begann, wurde alles aus Originalbeständen der ehemaligen DDR wiederbeschafft. Der Ballon ist jetzt wieder wie er damals war.“ Nur aufblasen könne man ihn nicht mehr, das würde das Material nicht verkraften.

Wichtige Rolle im Haus der Bayerischen Geschichte

Das riesige Exponat hat die Restauratoren vor große Herausforderungen gestellt. Um eine solch große Textilfläche fachgerecht untersuchen und aufbereiten zu können, wurden die Stoffbahnen des Ballons drei Wochen lang in der Frankenhalle in Naila ausgelegt. Am Ende wurden die Textilbahnen gefaltet und in eine extra angefertigte Vitrine eingebracht.

Für das Haus der Bayerischen Geschichte, das im Juni in Regensburg eröffnet hat, spielt das Exponat eine wichtige Rolle. „Der Ballon hat uns von Anfang an begleitet – er war unsere erste Leihanfrage“, sagt Dr. Richard Loibl, Direktor des Hauses. Dr. Loibl ist Naila für die „großartige Unterstützung und das Vertrauen“ sehr dankbar. „Die spektakuläre Flucht steht beispielhaft dafür, Geschichte aus der Sicht von Bürgern zu erzählen“, betont der Museumsdirektor. Neben der Original-Ballonhülle und -Gondel erwarten die Besucher im neuen Regensburger Museum zudem Zeitzeugenvideos und -bilder.

Bayern selbst war jahrzehntelang in vielen Teilen Randgebiet. Hinter dem Eisernen Vorhang endete in Zeiten des Kalten Krieges die Welt: Die Ausstellung im Haus der Bayerischen Geschichte dokumentiert dies eindrucksvoll. In der Generation „Wendejahre“ zeige das Museum die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen Bayerns Ende des 20. Jahrhunderts, so Dr. Loibl: „Inzwischen ist Bayern vom Grenzland in die Mitte Europas gerückt und hat gute Beziehungen zu den einst so unerreichbaren Nachbarn aufgebaut, sowohl zu Thüringen und Sachsen als auch zur Tschechischen Republik.“

Grenzen lassen sich überwinden. Die Frage ist nur, wie. In Frieden und Freiheit? Oder muss man – die Angst im Nacken – flüchten, um Unrecht und Unterdrückung zu entkommen? Selbstverständlich ist Freiheit nie. Michael Bully Herbigs Film zeigt das eindrucksvoll.

©herbX film / Dieter Mayr