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Ausgabe 03/22 Wahrheit

Die Fülle des Lebens erschließt sich in der Beziehung.

Lesedauer: ca. 7 Min. | + Video zum Beitrag

Autor: Tobias Liminski | Illustrationen: Bernhard Spoettel

„Die Fülle des Lebens erschließt sich in der Beziehung.“

Wie wichtig ist Wahrhaftigkeit in der Beziehung? Auf den ersten Blick eine rhetorische Frage. Aber wie geht man mit der Wahrheit um, wenn sie den Partner verletzt oder kritisiert? Und wie und wann trage ich sie vor? Wie gehe ich mit Lüge oder Betrug um? Für Consuelo Gräfin Ballestrem ist die richtige Kommunikation ein entscheidender Schlüssel. GRANDIOS hat mit der erfahrenen Paartherapeutin gesprochen.

GRANDIOS: Frau Ballestrem – ehrlich währt am längsten, heißt es. Gilt das in besonderer Weise für Paarbeziehungen? Wie viel Wahrhaftigkeit braucht eine Beziehung?

Consuelo Ballestrem: Schön, dass Sie in diesem Zusammenhang von Wahrhaftigkeit sprechen, denn Wahrheit ist ein wirklich sehr großes Wort. Wahrhaftig sein bedeutet, die Bereitschaft mitzubringen, eine lebendige Begegnung mit der Wirklichkeit zuzulassen. Das Leben erschließt sich in Beziehungen. In Beziehung zur Natur, zu anderen Menschen und zu mir selbst. Ehe und Familie nehmen hier einen besonderen Platz ein. Sie sind ein Kosmos von immer neuen und vertieften Erfahrungen. Die erste Verliebtheit, das überwältigende Erleben der Geburt eines Kindes, die reifende, die lebenslange Liebe, die weit über mich hinausführt. Beziehungen brauchen viel Wahrhaftigkeit. In erster Linie zu mir selbst. Damit der Zauber einer Beziehung nicht unter dem Geröll des Alltags begraben wird, sollte man sich zu Beginn ein paar konkrete und bewährte Fragen stellen.

Welche denn?

Bin ich wirklich bereit, mich auf sein oder ihr ganzes bisheriges und künftiges Leben einzulassen? Familie, Freunde, Glauben, Interessen, Hobbys, Karriere oder Arbeitslosigkeit: Nehme ich das alles in Kauf und lebe und gestalte das mit ihm oder ihr zusammen? Oder will ich ihn oder sie ganz für mich haben? Was sind unsere Schwächen und Stärken? Was liebe ich besonders am anderen? Wie gehen wir mit unseren Fehlern um? Wie möchte ich meine Freizeit verbringen? Suche ich im anderen die Freundin, den Freund, der mir immer gefehlt hat? Geht es mir wirklich um das Glück dieser einen besonderen Person? Geht es darum, den jeweils anderen in seiner Entwicklung zu bestärken und zu fördern? Will ich sie bzw. ihn lieben, achten und ehren in guten und in schlechten Tagen? Oder verspreche ich mir vor allem Vorteile?

All diese Fragen sollten vor dem Schritt in eine Beziehung und erst recht in eine Ehe geklärt werden. Dazu gibt es hervorragende Ehe-Vorbereitungskurse. Außerdem sollte ein Paar das richtige Sprechen und – noch viel wichtiger – das richtige Zuhören einüben. Für eine gelingende Beziehung braucht es Wahrhaftigkeit mir selbst gegenüber und das offene Zuhören dem anderen gegenüber.

Wie wichtig ist es, offen und ehrlich über seine Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse zu sprechen?

Heute leben Beziehungen von der Beziehungsqualität. Früher war das anders. Im 19. Jahrhundert war der Zusammenhalt durch wirtschaftliche Notwendigkeiten und Aufgabenverteilung garantiert. Heute gibt es meist keine finanzielle Abhängigkeit mehr. Es geht um die Beziehungsqualität. Daher ist es wichtig, sich austauschen. Dafür braucht es den richtigen Moment. Eine Langzeitstudie zeigt, dass Ehen besonders glücklich sind, in denen sich die Partner vom jeweils anderen in der eigenen Entwicklung gefördert fühlen und beide gemeinsame Interessen teilen. Solche Paare bemühen sich, dem anderen Freiräume und Nähe im passenden Maß zu geben und den richtigen Augenblick zu erkennen, um Wünsche oder Gefühle zu äußern.

Durch ihn wird sie ganz zur Frau und Mutter. Durch sie wird er ganz zum Mann und Vater. Das zu sehen, gehört zur Wirklichkeit einer lebendigen Partnerschaft.

Consuelo Gräfin Ballestrem

Muss man immer alles wissen, was den Partner oder die Partnerin umtreibt?

Nein, das muss man nicht. In der Unterschiedlichkeit der beiden Geschlechter besteht ihre Faszination, ihre Anziehungskraft. Die Anerkennung meiner physiologischen und psychologischen Natur als Frau durch meinen Mann ist die Basis der Familie. Durch ihn wird sie ganz zur Frau und Mutter. Durch sie wird er ganz zum Mann und Vater. Diese Spannung von Anziehung und Unterschiedlichkeit trägt die Wirklichkeit einer lebendigen Partnerschaft. Die Gefahr ist die Indiskretion. Eine intime Beziehung bringt mit sich, dass man mehr über den anderen weiß, als es bei einem Streit günstig ist. Im Streit wird Vertrautes oft zur Keule. Bei der christlichen Eheschließung gibt es die Formel: „Ich will dich lieben, achten und ehren, bis dass der Tod uns scheidet.“ In diesen Schutzraum der Liebe, des Ehrens und des Achtens gehört alles, was ein Paar ausmacht. Es gehört nicht herausgetragen in das Wellness Wochenende mit Freundinnen oder in den Fußballausflug mit den Freunden.

Wann wirkt die nackte Wahrheit zerstörerisch?

Die nackte Wahrheit wirkt immer zerstörerisch. Es gibt Familien, die sagen sich grobe Dinge zwischen Tür und Angel. Es gibt Eltern, die konfrontieren ihr Kind mit seinen schlechten Noten, wenn es von der Schule kommt. Das ist immer der falsche Moment für Kritik. Eine einfache Lösung ist die sogenannte Familien- oder Paarsitzung. Bei der Familiensitzung kann ein Kind die Rolle des Moderators übernehmen. Man zählt zuerst auf, was in den letzten Wochen prima gelaufen ist. Dann sagt man, was noch verbessert werden kann. Das Kind lernt, wie man als Moderator agiert, und jeder kann die harmloseren oder auch kritischen Dinge aufzählen und Lösungen anbieten. Solche Übungen werden auch an Schulen als Anti-Mobbing-Maßnahmen durchgeführt. Ich halte das für eine gute und spielerische Weise, sich daran zu gewöhnen, Kritik entgegenzunehmen und unverletzend zu äußern.

Gibt es Situationen, in denen man mit der Wahrheit zurückhaltend umgehen sollte?

Es gibt vor allem Situationen, in denen man die Wahrheit häufiger aussprechen sollte. Die Freude an dem gemeinsam begonnenen Tag, die Freude am Zusammensein, der Natur, Musik oder am gemeinsamen Sport. All die positiven Erfahrungen sollte man viel mehr erwähnen. Das sollte man nicht als normal ansehen. Aber auch kritische Ereignisse sollten Platz haben. Die sollte man vorsichtiger ansprechen. Dazu gehört der Umgang mit Krankheit, Tod, vielleicht auch dem Verlust eines Arbeitsplatzes und ähnliche Dinge. Für Kinder gehört etwa auch der sich anbahnende Umzug dazu oder ein Schulwechsel. Darüber sprechen, heißt, sie ernst nehmen.

Wer aus Liebe handelt, wird diese Grenze spüren und einhalten.

Consuelo Gräfin Ballestrem

Die Wahrheit kann auch wehtun. Etwa wenn man Kritik übt. Gibt es da eine Schmerzgrenze?

Wenn man intime Dinge hervorhebt, um den anderen zu verletzen, geht es nicht um Wahrheit. Das hat mit Rache zu tun, mit Erniedrigung. In der Bibel steht „du sollst nicht lügen“, aber nicht „du musst die Wahrheit sagen“. Schon gar nicht, wenn du sie im Zorn, in der Enttäuschung, im Frust oder im Stress sagst. Die Intention ist wichtig. Sie setzt die Grenze. Wer aus Liebe handelt, wird diese Grenze spüren und einhalten.

Keiner möchte belogen oder betrogen werden. Dennoch passiert es. Wie kann man mit Vertrauensbrüchen umgehen?

Das ist schwer allgemein zu beantworten. Das hängt von den beteiligten Menschen, ihrer Motivation, ihrem Bedauern, ihren Ressourcen und der spezifischen Situation ab. Wie schwer wiegt die Lüge, der Vertrauensbruch oder Betrug? Es hängt vor allem von der Bereitschaft zu vergeben und sich zu verändern ab. Ich habe beeindruckende Fälle von Versöhnung über Jahre begleiten dürfen. Da wurde mit einem großen Fehltritt oder einer großen Lüge sehr konstruktiv umgegangen. Daraus erwuchsen großer Gewinn und eine festere Bindung. Man darf nicht unterschätzen, wie sehr der vergebende Teil in einer solchen Beziehung an seinem Handeln wächst und wieviel Dankbarkeit es ihm einbringen kann. Das kann dazu beitragen, sich gegenseitig zum Wachstum zu verhelfen.

Wie wichtig ist Humor für eine Beziehung?

Humor ist entscheidend. In einer Beziehung sollte man über sich selbst lachen können und – wenn möglich – über Situationen, die man verändern will. Die Natur hat in die Ehe viel Humor „eingebaut“. Nicht selten sieht man Paare, wo einer der beiden pedantisch ist und der andere Teil sehr großzügig. Ein Teil ist sehr kreativ, der andere phantasielos. Sie ist weich und barmherzig, er eher nüchtern. Er ist flatterhaft und unruhig, sie steht wie ein Fels in der Brandung. Diese Paare finden zusammen. Die Natur hat das so zur gegenseitigen Ergänzung eingerichtet und um die Vielfalt der verschiedenen Anlagen an die nächste Generation weiterzugeben. Wer das vor Augen hat, lernt mit den Fehlern des anderen zu leben und kann über sich selbst lachen.

Wie kann man an der eigenen Kritikfähigkeit arbeiten? Und wie kann man Kritik so üben, dass sie nicht verletzt?

Es gibt Sprechweisen, die man lernen kann. Ich erzähle von mir statt den anderen zu beschimpfen. Ich sage nicht: „Du bist faul, du bist ein schlechter Vater, du kümmerst dich nicht.“ Stattdessen erkläre ich, was das Verhalten des anderen für mich bedeutet und lerne dabei unbemerkt die Sprache des Herzens.

Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?

Mit einem Paar erlebte ich Folgendes: Die Frau beklagte sich bitter über ihren Mann, weil er beim Elternsprechtag zu spät kam. Sie hatte ihn extra gebeten, rechtzeitig da zu sein. Sie schimpfte: „Du interessierst dich nicht für die Kinder, du sorgst dich überhaupt nicht um sie, verbringst keine Zeit mit ihnen.“ Ich habe sie langsam dahin geführt, das auf andere Weise zu sagen: „Was ist mit Ihnen gewesen? Wie haben Sie sich gefühlt?“ In ihrer Antwort öffnete sie sich: „Ich hatte Angst vor dem Gespräch mit der Lehrerin. Ich hätte so gern meinen Mann dabeigehabt. Denn du gibst mir Kraft und wir stehen dann beide zusammen für unseren Sohn da.“  Als der Mann das in dieser Form hörte, hat er sie umarmt und gesagt: „Das tut mir wahnsinnig leid. Es gab Probleme im Büro. Deshalb musste ich bleiben. Das war unvermeidlich. Und ich konnte dich nicht erreichen.“ Was zeigt das? Es geht darum, den anderen nicht fertig zu machen, sondern dessen Verhalten in seiner Wirkung auf einen selbst zu beschreiben. Damit geht man der Sache auf den Grund. Beschimpfung sorgt für Frustration und Rückzug.

Eine gute und liebevolle Kommunikation ermöglicht, sich selbst zu zeigen, sich zu öffnen.

Consuelo Gräfin Ballestrem

Die richtige Kommunikation ist wichtig?

Ja, sehr, sehr wichtig! Eine gute und liebevolle Kommunikation ermöglicht, sich selbst zu zeigen, sich zu öffnen. Sicher gibt es auch Dinge, über die man sachlich reden kann und sollte. Aber zu wissen, was der andere empfindet, ermöglicht ein tieferes Verstehen und größere Nähe. Man muss sich nicht verbergen, nicht ständig auf Zehenspitzen um den anderen tanzen. Man weiß: Auf die richtige Weise kann ich das, was mir am Herzen liegt, sagen, ohne den anderen zu verletzen. Es gibt einen guten Satz: Du kannst einen Menschen in dem Maß kritisieren, wie du ihn liebst, aber du musst ihn immer ein Stückchen mehr lieben, als du ihn kritisierst. – Es ist hilfreich, sich daraufhin zu prüfen, bevor man Kritik übt.

Was heißt es, Kinder zur Wahrhaftigkeit zu erziehen? Wie geht das?

Der große Pädagoge Fröbel sagte: „Erziehung ist Beispiel und Liebe, sonst nichts.“ Kinder lernen durch unser Beispiel den Wert von Dingen, die Achtung vor dem Menschen und ihre eigene Wahrnehmung ernst zu nehmen. Das Beispiel ist entscheidend. Aufgestellte Regeln gelten für alle: Für die Kinder wie für Vater und Mutter. Matthias Claudius hat seinem Sohn in einem Brief einmal geschrieben: „Die Wahrheit richtet sich nicht nach dir, mein Sohn. Du musst dich nach ihr richten.“ Aber ihre Erkenntnis macht unser Handeln erst sinnvoll. Wichtig ist, den Kindern ein Gespür zu geben, dass nur das Gute, Schöne und Wahre nachhaltig und lebendig ist. Wer gute Freunde haben will, muss ein verlässlicher Freund sein. Kinder sollten altersgemäß Verantwortung für den Alltag übernehmen. Das stärkt ihr Gefühl für die Werthaltigkeit der Dinge und den Sinn ihres Lebens.

Wahrhaftigkeit ist nicht nur in einer Paarbeziehung oder der Familie wichtig. Kann eine Freundschaft funktionieren, wenn ich mich nicht so zeigen kann, wie ich bin?

Es gibt den schönen Satz: „Zeig mir deine Freunde und ich sage dir, wer du bist.“ Freundschaften gibt es in verschiedenen Graden der Nähe und Distanz. Aber immer gilt: Daran erkennt man einen guten Freund, dass er im anderen seine Stärken, sein Potential sieht und ihm wünscht, es voll zu entfalten. Insofern sollte ich mich auch zeigen können, wie ich bin. Das ist entscheidend.

Aus dem was Sie gesagt haben, entnehme ich: Je wahrhaftiger man ist, desto größer die Chance, dass auch aus Krisen Großes werden kann. Verstehe ich Sie da richtig?

So sehe ich das. Der Irrtum unserer Zeit ist, dass die Menschen denken, sie müssten immer glücklich sein. Das ist unrealistisch. Jede Beziehung kennt beglückende Phasen und Phasen der äußeren oder auch inneren Krise. Beides erweitert den Horizont. Die ganze Wahrheit werden wir hier nie erfassen, vielleicht eher erahnen. Aber die Fülle des Lebens erschließt sich nicht nur im Überschwang des Glücks, sondern gerade auch im gemeinsamen Bewältigen von inneren und äußeren Krisen, bis hin zum manchmal heroischen Warten aufeinander. Ich habe mehrmals erlebt, dass sich das sehr bewährt hat. Die Treue heißt es, ist das Gedächtnis der Liebe.

Vielen Dank, dass wir hier bei Ihnen zu Gast sein durften!

Danke, dass Sie zu diesem wichtigen Thema hier waren.