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Lesedauer: ca. 10 Min.

Autor: Annalia Machuy | Fotos: Bernhard Spoettel

Ein Ziehen im Herzen

Zwischen Berliner Großstadtleben und norwegischer Naturidylle begleitet Susanne Ringen Unternehmen und Teams in ihrer Organisationsentwicklung. In ihrem Buch über den Olavsweg geht es aber um viel mehr als gute Führungsqualitäten, gelingende Kooperation und die Schönheit Norwegens. Es ist eine Erzählung über die tiefe Sehnsucht nach Freiheit und Sinn, über den Mut, man selbst zu sein, und die richtige Ordnung von Kopf, Herz und Hand.

"Ein Ziehen im Herzen"

So fühlt sich Sehnsucht für Susanne Ringen an. Ein kleines Zwinkern liegt in den Augen der zierlichen, blonden Frau. Sie sind auffallend blau, klar, natürlich irgendwie und strahlen eine Herzlichkeit und Frische aus, die ansteckt. Ringen ist gerade für einige Wochen in ihrer Berliner Heimat, zurück im Großstadttreiben, das sie so gut kennt und lange sehr genossen hat. Die 51-Jährige bezeichnet sich als „Mosaiklerin“. Viele berufliche und private Stationen und Erfahrungen gehören zum bunten Bild ihres Lebens: ein Studium der Sprachwissenschaften, eine Ausbildung zur Masseurin, das Organisieren von Konzerttouren, die Arbeit im IT-Bereich oder der Personalleitung. Heute begleitet Ringen mit ihrem Konzept „Ich&Wir“ Unternehmen und Teams in ihrer Organisationsentwicklung. Sie ist Mutter eines 21-jährigen Sohnes, surft leidenschaftlich gerne und liebt das Meer. Alle Gewässer eigentlich, es sind ihre persönlichen Sehnsuchtsorte. „Gib mir Wasser und ich bin glücklich.“ Mittlerweile lebt Ringen mit ihrem Mann an einem dieser Orte: an einem See in Norwegen, in einem Holzhaus mit Kaminheizung.

Kurz vor dem Burn-Out und dann Norwegen

Susanne Ringen hat sich nicht nur in einen Norweger verliebt, sondern auch in dessen Land. „Ich glaube, es ist die Unberührtheit der Natur, diese Wildheit, die man dort noch hat. Man begegnet keiner Menschenseele, man begegnet sich selbst.“ Eine schroffe, karge Weite, Rentiere, Elche, Nordlichter: Dass Norwegen auch bei vielen anderen Sehnsucht weckt, merkt Ringen immer wieder. Es ist ein Land, das am Herzen zieht. Auch bei Martha, der Protagonistin von Ringens Debütroman „Berge, Trolle, tiefe Sehnsucht“. Die junge Firmengründerin steht kurz vor dem Burn-Out und kämpft mit einer immer angespannteren Stimmung im Team, als sie beschließt, sich eine Auszeit zu nehmen und für fünf Wochen ihre High-Heels gegen Wanderschuhe zu tauschen – „Norwegian Heels“. Martha entscheidet sich für den Olavsweg, in der Hoffnung, dort weniger „Esos“, weniger „Sinnsuchern“ zu begegnen als auf bekannteren Pilgerwegen. Was als bloße Flucht vor ihrer unerträglich gewordenen beruflichen Situation begonnen hat, wird jedoch bald zu einer Reise der großen Fragen, einer Begegnung mit den eigenen, tiefsten Wünschen und einem Ringen um neue Perspektiven.

Was willst du finden?

Es ist Sehnsucht, die Martha auf diesen Weg treibt, auch wenn sie das selbst erst Schritt für Schritt realisiert. „Was willst du finden?“, möchte ein Wanderer wissen, dem sie begegnet. Eine Frage, mit der Martha zunächst nicht viel anfangen kann. Sie ist ja keine von „denen“, den„Sinnsuchern“. „Ich bin einfach nur so hier“, antwortet sie also. Einfach mal weg, einfach mal raus, das wollte sie. Nichts weiter. Doch der Norweger lässt sich nicht beirren und grinst verständnisvoll. Dann sei ihr „weg von“ also schon klar, das „hin zu“ aber noch nicht, meint er. Der Gedanke lässt Martha nicht mehr los. Was will sie eigentlich finden? Wo will sie eigentlich hin? Und in der Weite Norwegens, irgendwo auf den rund 630 Kilometern zwischen Oslo und Trondheim findet Martha nicht nur neue Freunde, sondern auch Antworten. Sie sehnt sich nach Freiheit. Nach der Freiheit, zwischen all den Erwartungen und allem Müssen sie selbst sein zu dürfen und das zu tun, was für sie sinnvoll ist.

“Wer muss ich eigentlich sein? Wer will ich eigentlich sein? Und was brauche ich?“

Eine doppelte Sehnsucht – nach Freiheit und Sinn – die Martha erst durchdenken und verstehen muss, um ihr wirklich folgen zu können. Und die viel mit der Frage zu tun hat, wer sie eigentlich ist und sein will. Freiheit jedenfalls kann nicht bedeuten, zu jeder Zeit das tun zu können, was man will. „Es gibt Verantwortungen im Beruf, in der Familie, von denen können wir uns gar nicht freimachen. Aber wir können versuchen, sie mit dem ,Ich will‘ zu verbinden.“

Ringen weiß um die Spannung zwischen dem Müssen und Wollen.

„Ich glaube, dass wir uns oftmals mit viel zu viel ,Ich muss‘ überfrachten. Ich muss eine gute Mutter sein, ich muss eine gute Partnerin sein, ich muss eine gute Kollegin sein.“ Dabei verliere man sich. Stattdessen sollte man sich viel öfter bewusst mit dem eigenen Müssen und Wollen, mit der eigenen Sehnsucht auseinandersetzen. „Wer muss ich eigentlich sein? Wer will ich eigentlich sein? Und was brauche ich? Diese Fragen stellen wir uns viel zu selten.“

Und wenn es auch nicht einfach ist, von den Normen und Anforderungen von außen Abstand zu nehmen, und bisweilen Mut erfordert, zu sich zu stehen, braucht es für die richtige Balance manchmal gar nicht viel, ist Ringen überzeugt. „Ich bin nicht die beste Mutter der Welt, nur weil ich das größte Kinderfest organisiere. Ich bin die beste Mutter der Welt, wenn ich eine gute Beziehung zu meinem Kind habe.“

Sinnvoll ist, was zu positiven Veränderungen führt

Oft ist es die Suche nach dem Sinn, die Dinge in die richtige Ordnung bringen kann. Der Mensch braucht ein Warum hinter dem, was er tut, wird Martha auf ihrem Pilgerweg bewusst. Und diese Erfahrung muss sie ihren Mitarbeitern ermöglichen, wenn ihr Unternehmen eine Zukunft haben soll. „Sinn schafft Sehnsucht, Sehnsucht schafft Motivation. Tatendrang.“ Nur wer den Sinn einer Sache erkennt, wird bereit sein, dafür hart und gut zu arbeiten. Das Problem sei der „Moment, in dem in der täglichen Arbeit dieser Sinn verloren geht, weil man sich nur noch um irgendwelche Zahlen und Erfolgsszenarien dreht“, erklärt Ringen im Blick auf die Berufswelt. Das gilt jedoch auch allgemein.

Für Ringen ist die Sehnsucht nach dem Sinn der eigenen Existenz etwas, das alle Menschen verbindet. „Warum bin ich hier? Was ist mein Auftrag? Bin ich denn wirklich nur dafür da, jeden Morgen aufzustehen, Geld zu verdienen, um abends wieder schlafen zu gehen? Oder gibt es da noch irgendetwas anderes? Welchen Fußabdruck will ich hinterlassen auf diesem Planeten?“ Sich diesen Gedanken zu stellen und das eigene Leben „sinnvoll“ zu gestalten, das schaffe eine langfristige Zufriedenheit, ist Ringen überzeugt.

Für die Autorin hat Sinn viel mit Wirksamkeit zu tun. „Wenn ich sehe, dass das, was ich tue, was ich sage, zu irgendeiner positiven Veränderung führen kann, dann ist es total sinnvoll, im Kleinen wie im Großen.“ Und das muss gar nichts Besonderes sein, meint Ringen. „Wenn ich ein nettes Gespräch mit meinem Nachbarn im Flur habe, ist das total sinnvoll, weil wir dann beide lachen. Und wenn ich mit meiner Arbeit irgendwas erreiche, ist das auch sinnvoll.“

Fühlen, denken, handeln:
An erster Stelle steht die Achtsamkeit

Sinn im Alltag finden und sich die Freiheit nehmen, das Leben entsprechend zu gestalten: Vielleicht liegt die Erfüllung großer Sehnsüchte manchmal in den kleinen Dingen, vielleicht ist sie schon durch unscheinbare Veränderungen möglich. Susanne Ringen hat einen Schlüssel gefunden, der ihr hilft, das nicht aus dem Blick zu verlieren. Es ist der Dreiklang aus Fühlen, Denken und Handeln. In genau dieser Reihenfolge. Zu oft, meint Ringen, handeln wir zuerst, reflektieren dann und unsere Gefühle gehen irgendwie nebenher. Dabei sollte es genau andersherum sein, denn der Mensch nimmt ständig etwas wahr, fühlt immer. Es geht also zuerst um die Achtsamkeit, das Bewusstmachen der vorhandenen Gefühle in einer bestimmten Situation. Es folgt das Denken als regulierende Kraft, als Einordnung der Gefühle und Beurteilung der Gegebenheiten, auch als Wissen um die eigenen Verhaltensmuster. Dann erst können Entscheiden und Handeln gelingen und nur so wird nachhaltige Veränderung möglich.

Herausfordernd wird es dennoch bleiben. Denn nicht selten können auch unsere Sehnsüchte uns täuschen. Martha etwa merkt irgendwann, wie wenig sie eigentlich braucht, nicht viel mehr als sie auf dem Rücken tragen kann. Und doch scheint das Glück immer wieder in den Dingen zu liegen. „Das entsteht natürlich auch durch geschickte Strategien von Unternehmen, die Sehnsüchte wecken“, meint Ringen. „Wenn ich jetzt dieses Smartphone habe, dann werde ich auf jeden Fall glücklich.“ Mit diesem Wollen, diesem Ich muss das haben“ entsteht aus Ringens Sicht eine „Sehnsucht in eine falsche Richtung“, die man „wieder ins Innere drehen“ müsse.

"Ich glaube, wir setzen uns zu sehr unter Druck"

Und dann ist da der eigene Perfektionismus, der selbst die einfachsten Sehnsüchte vergiften kann. Hobbies zum Beispiel. Oft sind es hier die eigenen Ambitionen, die die Freude zerstören, hat Ringen beobachtet. „Wenn ich das mache, dann muss ich das richtig gut können“, sei der Gedanke bei vielen. Beim Surfen etwa fällt Ringen immer wieder auf, wie verbissen und verkrampft die Menschen die Sache angehen würden. „Dann wird auch schon mal auf das Brett geschlagen. ,Blödes Brett!‘, ,Blöde Welle!‘, ,Blöder Surflehrer!‘ oder was auch immer es dann ist, anstatt zu sagen ,Hey, du bist hier, weil es dir Spaß macht. Du hast es freiwillig gewählt, bleib entspannt, setz kleine Ziele, aber versuch nicht immer alles so perfekt zu machen.‘ Ich glaube, wir setzen uns da gerne zu sehr unter Druck bei Dingen, die eigentlich Spaß machen sollen.“

In anderen Worten: „Surfen lernt man in kleinen Wellen.“

Auch das ist eine von Marthas Lektionen auf ihrem Pilgerweg. Es ist, als ob Susanne Ringen ihre Protagonistin an der Hand gepackt und durch die Hügel, Wälder und Weiten Norwegens mit auf eine Reise durch ihr eigenes Denken genommen hätte. Eine Reise voller Sehnsucht, inspirierender Begegnungen, wesentlicher Erkenntnisse. Eine Suche nach Sinn, Freiheit und der richtigen Ordnung im Leben. Ein Pilgerweg zur Zufriedenheit. Marthas Geschichte ist nicht ihre eigene, erklärt Ringen. „Sie ist nicht ich und ich bin nicht sie.“ Und doch lässt sich viel von der fröhlichen Frau mit den fjordblauen Augen in ihrer Erzählung wiederfinden. „Natürlich sind da ganz viele Elemente von mir drinnen: meine Gedanken, meine Haltung, meine Sicht auf die Welt.“ Dazu ihre langjährige Erfahrung als Führungscoach und Teamberaterin. Das ein oder andere persönliche Erlebnis lässt sich schließlich auch im Buch entdecken. Der Norweger beispielsweise, der Martha an einem See das Angeln beibringt, ein rotbärtiger Lehrer mit Hund, hat große Ähnlichkeiten mit ihrem Mann, erklärt Susanne Ringen schmunzelnd. Und auch in der Leichtigkeit, mit der die Handlung erzählt wird, der Lebendigkeit und Natürlichkeit scheint man Susanne Ringen selbst in ihrem Roman zu begegnen. Irgendwo zwischen Oslo und Trondheim, zwischen Bergen und Trollen, in einem Land, das am Herzen zieht.

Berge, Trolle, tiefe Sehnsucht: Wenn der Weg in die Weite zu innerer Freiheit führt

Boniftius Verlag
1. Auflage 2023
240 Seiten
ISBN 978-3-98790-008-2

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