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Ausgabe 06 Freundschaft

Warum wir Freundschaft brauchen

Lesedauer: ca. 11 Min.

Autor: Markus Reder | Foto: Kinga Cichewicz

Warum wir Freundschaft brauchen…

…und was sie mit uns macht

Warum wir Freunde brauchen? Weil sie uns gut tun und unser Leben schön machen. Das zeigt nicht nur die Erfahrung, das bestätigt die Wissenschaft. Freundschaft macht gesund und glücklich. Aber das ist längst nicht alles. Wahre Freunde helfen uns, immer mehr wir selbst zu werden. Freundschaft ist weit mehr als ein großes Stück vom Alltagsglück. Sie führt hinein in das Geheimnis des Menschseins. Dorthin, wo man ganz man selbst ist, weil man geliebt wird.

Weg mit den Alltagsmasken

Wir alle Tragen „Masken“ – nicht erst seit Corona. Ein Mund-Nasen-Schutz hilft gegen Covid-19. Aber da gibt es noch die anderen, die unsichtbaren „Masken“, hinter denen wir uns im Alltag verstecken, weil wir meinen, verbergen zu müssen, wie es uns wirklich geht. Hinter dem aufgesetzten schönen Schein sieht es oft anders aus. „Ein Freund ist jemand, der dein Lächeln sieht und trotzdem spürt, dass deine Seele weint“, heißt es. Freunde blicken tiefer. Unter Freunden braucht es keine Maskerade, da darf man sich zeigen, wie man ist. Freundschaft eröffnet Räume der Wahrhaftigkeit und der Geborgenheit. Die sind so lebenswichtig wie die Luft zum Atmen.

Sich nicht verstellen zu müssen, ganz man selbst sein zu dürfen. Um seiner selbst willen geliebt zu werden, ohne dafür irgendwelche Bedingungen erfüllen zu müssen: Das zeichnet wahre Freundschaft aus. Darin ist Freundschaft der Liebe ähnlich. Freundschaft ist eine Seelenverwandte der Liebe.

Keine Freunde zu haben ist so schädlich wie 15 Zigaretten am Tag

Freundschaft hat Auswirkungen auf unsere körperliche Verfassung. Das ist wissenschaftlich belegt. US-Forscher haben herausgefunden: Wer einen festen Freundeskreis hat, lebt länger – und zwar unabhängig von Geschlecht und sozialem Status. Eine australische Studie zeigt: Der Einfluss guter Freunde auf die Lebenserwartung ist noch höher als der von Verwandten, dem Partner oder der Partnerin und Kindern. Freundschaft hat emotionale Entlastungsfunktion. Das beeinflusst den Organismus. Menschen mit Freunden haben ein besseres Immunsystem. Das wurde an der Ohio State Universität nachgewiesen. Eine Studie des Instituts für Klinische Physiologie in Pisa belegt: Wem soziale Kontakte fehlen, dessen Herzinfarktrisiko ist um das 2,3-fache erhöht. Einsamkeit ist nicht nur ein Gefühl. Menschen ohne Freunde leben ungesünder. Das Fehlen freundschaftlicher Bindungen halten Wissenschaftler für vergleichbar schädlich wie 15 Zigaretten am Tag, übermäßig starken Alkoholkonsum oder Fettleibigkeit. Das heißt im Klartext: Wer keine Freunde hat, ist eher tot.

Ein Positv-Effekt wie 90.000 Euro Jahresgehalt

An der Universität Oxford hat man den Zusammenhang zwischen Freundschaft und Lebensfreude erforscht. Ergebnis: Sich zweimal pro Woche mit Freunden zu treffen, führt zu hohem Glücks- und Selbstwertgefühl. Forscher der Brigham Young Universität gingen noch einen Schritt weiter: ihre Studie zeigt, Freundschaft hat für unser Glücks- und Zufriedenheitsempfinden einen genauso positiven Effekt wie 90.000 Euro Jahresgehalt.

So interessant solche Studien sind, sie können nicht wirklich ermessen, was Freundschaft ausmacht. Niemand wünscht sich Freunde, um seinen Blutdruck zu senken oder Infekten vorzubeugen. Selbst ein Batzen Geld hilft wenig, wenn man eigentlich jemanden bräuchte, der da ist und zuhört, der einen tröstet oder mit einem lacht. Freundschaft ist eben unbezahlbar.

Freundschaft funktioniert nicht über eine Kosten-Nutzen-Analyse – sie ist geschenkte Zuneigung. Weit besser als sämtliche Studien bringt das der römische Politiker und Philosoph Cicero auf den Punkt, wenn er schreibt: „Wer die Freundschaft aus dem Leben nimmt, könnte gleich die Sonne aus der Welt nehmen.“

Was macht Freundschaft aus?

Bevor man sich an der Sonne vergreift, sollte man darüber nachdenken, was Freundschaft eigentlich ausmacht. Denn Freund ist nicht gleich Freund. Es gibt Geschäftsfreunde, Sportfreunde, Parteifreunde oder auch Frollegen. Das sind jene Mischwesen aus Freund und Kollege, mit denen man auch nach der Arbeit gerne mal was unternimmt. Derlei „Freundschaften“ haben unterschiedliche Qualität. Bei ihnen schwingt immer auch ein Nutzen mit, der oft die Dauer der Beziehung bestimmt.

Sportfreundschaften verflüchtigen sich, wo der Spaß am gemeinsamen Hobby verblasst. Bringt die Beziehung keinen Ertrag, erweisen sich Geschäftsfreundschaften so flüchtig wie Aktienkurse. Auch Frollegen sind rasch wieder Konkurrenten, bekommt einer den Posten, auf den auch der andere aus war. Schlimmer noch der Parteifreund: Selbst aus Politikerkreisen hört man, das Wort sei eine Steigerungsform von Feind.

Zuckerberg: „Wer glaubt, dass jeder Facebook-Kontakt ein Freund ist, der weiß nicht, was Freundschaft bedeutet“

All das zeigt: Solange es um Vorteile und Nutzen geht, kann von Freundschaft im tiefsten Sinne keine Rede sein. Freundschaft ist kein Zweckbündnis auf Zeit. Wahre Freundschaft muss dauerhaft sein. Im Grunde beginnt sie erst da, wo es nicht mehr darum geht, was mir der andere bringt. Das betonte in der Antike bereits Aristoteles. Für den Philosophen war klar: Freundschaft bedeutet, der andere ist mir als der Mensch wichtig, der er ist, und nicht aus irgendeinem anderen Grund.

Daran gemessen ist der Notfall der Freundschafts-Test schlechthin. In der Not zeigt sich, wer einem bedingungslos zur Seite steht.
Freundschaft ist keine Schönwetterbeziehung. Sie erweist sich gerade dann, wenn einem die Stürme des Lebens ins Gesicht peitschen. Zu wissen, dass es jemanden gibt, auf den man sich felsenfest verlassen kann, der da ist und hilft – egal, wie dreckig es einem gerade geht, das zeichnet Freundschaft aus.

Solche Freundschaften entstehen nicht per Anfrage und Mausklick. Sie müssen wachsen und reifen. „Wer glaubt, dass jeder Facebook- Kontakt ein Freund ist, der weiß nicht, was Freundschaft bedeutet“, sagt Facebook-Gründer Mark Zuckerberg.

Volles Vertrauen: Über alles reden können und dann die Klappe halten

Freundschaft braucht Zeit. Je mehr Lebensweg man miteinander gegangen ist, desto größer die Vertrautheit. Je mehr Freud und Leid man geteilt hat, desto tiefer die Verbundenheit. Das bestätigen Psychologen. Sie wissen auch: Vertrauen wächst mit der Erfahrung von Verlässlichkeit.

Laut Meinungsforschung zählt „absolute Vertrauenswürdigkeit“ zu den wichtigsten Eigenschaften von „besten Freunden“. Jemanden zu haben, mit dem man auch persönlichste Gedanken und Gefühle austauschen kann und zu wissen: der behält das für sich, ist für die große Mehrheit das entscheidende Kriterium, um von enger Freundschaft zu sprechen.

Vertrauen bewirkt Verantwortung. Füreinander Verantwortung zu übernehmen, bedeutet: Nur das Beste für den anderen zu wollen. Nichts zu tun, was ihm schaden könnte. Das setzt voraus, ehrlich miteinander umzugehen, wahrhaftig zu sein. Freunde erkennt man nicht daran, wie sie einen loben, sondern wie sie einen kritisieren. Kritik kann eine Bewährungsprobe für eine Freundschaften bedeuten. Wo diese bestanden wird, erreicht Freundschaft eine neue Tiefe.

Gegensätze ziehen sich an, aber es gibt Grenzen

Befreundet zu sein heißt nicht, dass man in allen Fragen gleich ticken muss. Gegensätze können sich anziehen. Unterschiedliche Auffassungen können inspirieren. Bei allen Unterschieden hat Freundschaft aber nur Bestand, wenn das Maß des Gemeinsamen größer ist als die Unterschiede. Zur gemeinsamen Basis gehören die Werte, die man miteinander teilt.

Der römische Dichter Geschichtsschreiber hat das auf die Kurzformel gebracht, Freundschaft bedeute „dasselbe wollen, dasselbe nicht wollen“. Wem zuwider ist, was dem anderen wertvoll, ja heilig ist, wird nicht mit ihm befreundet sein können, ja er wird es im Grunde niemals wirklich wollen.

„Freunde haben eine Seele in zwei Körpern“, sagt ein anderes antikes Sprichwort. Das heißt: Es gibt maximale innere Übereinstimmung. Moderne Freundschaftsforschung bestätigt genau dies. Näher kann man sich nicht stehen, als echte Freunde. Von einer Ausnahme abgesehen: der Ehe. Aber auch für die Ehe gilt: Voraussetzung für diese intimste Liebesbeziehung ist die seelische Gemeinschaft, die tiefe innere Verbundenheit. In diesem Sinne ist Freundschaft die Grundlage einer dauerhaften Beziehung.

Pure Lebenslust und die Sehnsucht nach mehr

Freundschaft ist ein zentraler Glücksfaktor für unser Leben. Was Denker der Antike wussten, bestätigen heute Psychologie und Medizin. Freundschaft beflügelt und stabilisiert, sie hilft in Krisen und befeuert die Lust am Leben. Geteiltes Leid ist halbes Leid, geteilte Freude ist doppelte Freude. Kein Wunder, dass sich Freundschaft positiv auf die Gesundheit auswirkt – physisch und psychisch.

Auch ohne wissenschaftliche Studien hätten wir das zumindest geahnt. Im Herzen jedes Menschen wohnt eine tiefe Sehnsucht nach echter, unverbrüchlicher Freundschaft. Wir sehnen uns danach, Zuneigung nicht durch Leistung oder Anpassung erarbeiten zu müssen, sondern angenommen und geliebt zu sein, so wie wir sind. Wir sehnen uns nach authentischer Beziehung und tiefer Gemeinschaft. Freundschaft beweist, dass das, wonach wir uns sehnen, tatsächlich existiert. So schimmert durch jede wahre Freundschaft ein Stück Himmel.