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Ausgabe 04/23 Sehnsucht

Friedenssehsucht – Ortstermin am Rande der Hölle

Autor & Fotos: Stephan Baier

Ortstermin am Rande der Hölle

In der vom Krieg furchtbar gemarterten Ukraine verbindet sich die Sehnsucht nach Frieden
mit einer trotzigen Entschlossenheit, für ein Leben in Freiheit und Menschenwürde zu kämpfen.

Manchmal streichelt Lisa sanft über ihren Bauch, während sie spricht. In zwei Monaten soll ihr erstes Kind zur Welt kommen, verrät sie. Strukturiert, ja fast nüchtern erzählt sie die dramatische Geschichte ihrer Rettung vor einem Jahr. Als Putins Truppen am 24. Februar 2022 in die Ukraine einfielen und auf Kiew vorrückten, war die 27 Jahre junge Frau aus dem Osten der Ukraine gerade beruflich in der Hauptstadt tätig. Sie und ihre Schwester gerieten in Panik; die jungen Frauen versteckten sich vor den anrückenden Soldaten in einem Keller, in einem nördlichen Vorort von Kiew, nahe Butscha. Am Ende drängten sich 20 Personen in dem engen Keller, schliefen am Boden neben Hunden und Katzen. Alle hatten Angst. Niemand wagte, ins Freie zu gehen. Einige Männer hielen Tag und Nacht Wache – falls die Russen vorrücken.

Lisa sehnte sich nach ihrem Mann und ihren Eltern, die in Prymorsk bei Saporischja geblieben waren. Alle paar Stunden gab sie ihnen ein telefonisches Lebenszeichen. Sie sehnte sich nach Ruhe in der Nacht und Sonnenlicht am Tag, nach einem Leben ohne Angst. Nach zwei Wochen in dem engen, überfüllten Keller, unter Menschen im Ausnahmezustand, war sie emotional völlig erschöpft. Lisa konnte nicht mehr essen, verspürte ständigen Brechreiz. Sie wagte die Flucht in den Westen der Ukraine – mit Erfolg. Als die russischen Eroberer in Prymorsk begannen, willkürlich Zivilisten zu verhaften und zu foltern, holte sie ihre Eltern nach. „Die Menschen lebten in ständiger Angst“, erzählt sie.
Die gelernte Architektin arbeitet heute im katholischen „Haus der Barmherzigkeit“ in Lemberg (Lviv) mit Binnenflüchtlingen aus der Ostukraine, die schwer traumatisiert sind. „Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich die Traumatisierten besser verstehen“, sagt Lisa. Von Leuten aus dem Westen, die der Ukraine empfehlen, einen Teil des Landes einfach aufzugeben und den Eroberern zu überlassen, ist sie enttäuscht. Der Krieg und die tagtäglichen Raketenangriffe müssten doch irgendwann vorübergehen, „wie ein schlechter Traum“, sagt Lisa. Sie sehnt sich nach Frieden, Sicherheit, Geborgenheit. Und sie freut sich auf ihr Baby.

Alle Tränen scheinen hier längst geweint

Einen kurzen Fußmarsch weiter, im Zentrum der westukrainischen Metropole Lemberg, steht die alte Jesuitenkirche, die jetzt Garnisonskirche heißt und der Militärseelsorge dient. Selbst wochentags sind hier die Messen überfüllt, die Menschen drängen sich vor Beichtstühlen und Ikonen. Auf großen Leinwänden an den Seiten kleben Portraitfotos von getöteten Kindern und gefallenen Soldaten. Olha zeigt mir das Bild ihres Mannes. Sie erlaubt sich keine Träne. Alle scheinen längst geweint.
Ihre 15-jährige Tochter konnte monatelang nicht sprechen, nachdem sie vom Tod des Vaters hörte. Jetzt will sie in die Militärakademie eintreten, um sein Werk der Verteidigung der Heimat fortzusetzen. Der sechsjährige Sohn hält die Hand der Mutter ganz fest. „Wenn Mama traurig ist, muss ich ihr lustige Geschichten erzählen – wie Vater früher“, sagt der kleine Ustin, der mich kerzengerade anblickt und ganz tapfer wirken will.

Olha war immer religiös, doch als Ivan, ihr junger Mann, in diesem sinnlosen Krieg starb, haderte sie mit Gott. „Ich empfand das als so ungerecht. Warum lässt Gott das zu?“ Die Gespräche mit anderen Witwen und mit den griechisch-katholischen Militärseelsorgern halfen ihr wieder auf die Beine. Jetzt versucht sie, den Rest ihres Lebens zu ordnen. Früher habe sie mit Ivan über jedes Detail der Kindererziehung gesprochen. Jetzt müsse sie alles alleine entscheiden. Geldsorgen und Kinderbetreuung, die gestiegenen Betriebskosten und die karge Witwenpension – Olha wird das irgendwie schaffen, das spürt man. Und wenn der sechsjährige Ustin ihre Hand hält, ist nicht ganz klar, wer hier wen stützt.

Panzer überrollten Autos fliehender Zivilisten

Nach mehr als einem Jahr unaufhörlicher Angriffe sind die Wunden des Krieges in der Ukraine allgegenwärtig. „Wir sind hier alle traumatisiert“, sagt mir der stellvertretende Außenminister der Ukraine, Andrij Melnyk, beim Kaffee in Kiew. 80 Prozent seien in der einen oder anderen Weise von Traumatisierung betroffen, schätzt ein Experte. Die Binnenflüchtlinge, die ihre Häuser und alles Hab und Gut verloren, um das nackte Leben zu retten, die Schulkinder, die mehrfach täglich bei Luftalarm in die Schutzräume rennen, die Waisen und Witwen, die den Vater beziehungsweise Ehemann an der Front verloren, die vergewaltigten Mädchen und die Eltern, deren Kinder von Uniformierten nach Russland verschleppt wurden – sie alle sind traumatisiert. Keiner, der sich nicht nach Frieden und Ruhe, nach einem Ende der Kämpfe und des Krieges sehnen würde.

Und doch höre ich auf meiner Rundreise in dutzenden Gesprächen keine Ukrainerin und keinen Ukrainer für eine Kapitulation des eigenen Landes plädieren. Beim Ortstermin in Irpin und Butscha verstehe ich, warum. Als die russische Armee Ende Februar 2022 Butscha einnahm und auf die Hauptstadt vorrückte, flohen viele mit ihren Autos. Die Soldaten nahmen die Fahrzeuge unter Feuer. Panzer überrollten mehrere Autos. Ein Familienvater, der mit erhobenen Händen aus dem Wagen stieg und um Gnade flehte, wurde vor den Augen seiner Kinder erschossen; die Familie wurde in den Wald verschleppt. Rostige, verbeulte Autowracks am Stadtrand von Butscha erinnern heute an jene Familien. Manche ließen ihr Auto einfach stehen, den Schlüssel auf dem Fahrersitz, um zu Fuß dem Terror zu entkommen.

Vielen gelang das nicht. Russische Soldaten schossen wehrlose Zivilisten auf der Straße nieder. Nach Butschas Befreiung lagen noch Leichen auf der Straße, manche mit gefesselten Händen, manche mit Folterspuren. Über Vergewaltigungen sprechen Ukrainer nur leise und mit gesenktem Blick, als beträfe jede Untat die eigene Tochter oder Ehefrau. Im benachbarten Irpin zerstörten die Eroberer Wohnsiedlungen samt Schule und Krankenhaus. Der Ortspfarrer zeigt mir die Reste russischer Minen, die er in seiner Kirche vorfand. Die griechisch-katholischen Bischöfe aus Odessa, Charkiw und Donezk erzählen mir von entführten und gefolterten Priestern. Teile ihrer Diözesen sind noch immer dem Willkürregiment der Besatzer ausgeliefert. Das alles droht auch anderen Teilen des Landes, wenn die Ukraine kapituliert – darüber scheint es im Land Konsens zu geben. Butscha und Irpin, Luhansk und Donezk, Mariupol und Cherson sind nicht nur Namen ukrainischer Städte. Sie stehen für einen Blick in den Abgrund des Grauens.

Kehrt jetzt die Sowjetunion zurück?

Der Salesianerpater Maksym Ryabukha war der erste Geistliche, der nach der russischen Invasion zum griechisch-katholischen Bischof geweiht wurde: für das besetzte Donezk. Seine Bischofsstadt kann er nicht einmal besuchen. Putin habe gedacht, dass seine Soldaten von den Älteren mit Blumen willkommen geheißen würden, sagt er im Interviewgespräch. Doch alle – Orthodoxe wie Katholiken, Ukrainisch- wie Russischsprachige – hätten verstanden, „dass Putin nicht die Krim oder den Donbas rauben will. Vielmehr ist sein Ziel, das ukrainische Volk zu vernichten. Die Stimmung in der Bevölkerung nach einem ganzen Jahr des Krieges beschreibt er so: „Wir werden lieber sterben als aufgeben!“
Das hat mit den Kriegsverbrechen zu tun, die nicht nur von den berüchtigten Wagner-Söldnern, sondern auch von der regulären russischen Armee begangen werden. Es hat aber auch damit zu tun, dass die ukrainische Zivilgesellschaft seit dem legendären Maidan, als der kleptokratische Präsident Janukowitsch aus dem Amt gejagt wurde, zusammengewachsen ist. Die Option, so leben zu wollen wie die Menschen in Europa, hält die Ukraine über konfessionelle und sprachliche Grenzen hinweg zusammen. Die Sehnsucht nach Frieden, die in allen Gesprächen – mit Bischöfen und Politikern, Binnenflüchtlingen und Witwen – zur Sprache kommt, ist mit einer anderen Sehnsucht untrennbar verbunden: mit der Sehnsucht nach einem Leben ohne Angst vor Terror und Willkürherrschaft, mit der Sehnsucht nach einem Leben in Freiheit und Würde.

Warum, so frage ich mich bei stundenlangen Fahrten über die holprigen, an Schlaglöchern reichen Straßen der Ukraine, warum ist dieses Volk so leidensfähig, so stark, so entschlossen, dem übermächtigen Feind dauerhaft Widerstand zu leisten? Niemand sehnt sich stärker nach Gesundheit als der Kranke, niemand stärker nach Freiheit als der Gefangene. Ein Blick in die Zeitgeschichte hilft: Die Ukrainer wissen, was Fremdherrschaft und Rechtlosigkeit bedeuten. Das Land wurde im 20. Jahrhundert von Nazis und Kommunisten terrorisiert, litt unter Adolf Hitler und unter Josef Stalin. Beide Tyrannen ließen Millionen Ukrainer ermorden. „Jetzt kommt die Sowjetunion zurück“, höre ich immer und immer wieder, angstvoll und doch zum Widerstand entschlossen.

Der Hölle des Krieges entronnen

Im griechisch-katholischen Marienwallfahrtsort Sarwanyzja treffe ich Flüchtlinge aus der Ostukraine, harmlose Zivilisten, die der Hölle des Krieges entrinnen konnten. Ein älteres Ehepaar aus Kramatorsk erzählt von seiner Flucht, bei der die russischen Soldaten sogar die überfüllten Evakuierungszüge beschossen. Genauer gesagt: Die Frau, von Beruf Lehrerin, erzählt – wortreich und ausführlich. Ihr Mann, ein pensionierter Stahlarbeiter, hört mit geübter Aufmerksamkeit zu. Nur beim Verabschieden quetscht er kraftvoll meine Hand und sagt: „Wir werden dieses Land bis zum letzten Blutstropfen verteidigen.“ Im ruhig-beschaulichen Sarwanyzja, nahe Ternopil, haben die beiden – und 150 weitere Binnenflüchtlinge – Frieden gefunden. Aber die Sehnsucht nach einem Leben in Menschenwürde, und zwar in der eigenen Heimat, ist geblieben.

Auch bei der jungen Frau aus Charkiw, die mit ihrem offensichtlich traumatisierten Dreijährigen nur Russisch spricht. Sie schildert den Raketenterror gegen ihre Heimatstadt, die traditionell mit Russland und seiner Kultur so eng verbunden war, schildert auch ihre waghalsige Flucht mit dem damals Zweijährigen. Beim Abschied hält sie meinen Arm fest: „Ohne Hilfe aus dem Westen können wir nicht überleben! Wir wären den Russen ausgeliefert.“ Ihre Sehnsucht nach Frieden und einem Leben in Freiheit und Würde verbindet sich mit der Hoffnung auf Europas Solidarität. Mit der Sehnsucht nach Europäern, die dieses Volk, das um sein Überleben kämpft, diesmal nicht alleine lässt.

Spendensammlung für die Ukraine – KIRCHE IN NOT

Krieg in der Ukraine: Die Kirche bleibt bei den Menschen – KIRCHE IN NOT sammelt spenden. Helfen auch Sie! Wir danken Ihnen 🙂