- Autor: Alexander Kissler
- Illustration: Arno Dietsche
Die blaue Blume - Symbol für Sehnsucht
Sie blüht nur im Traum, doch darum welkt sie nie: Seit der frühromantische Dichter Novalis vor über 200 Jahren in seinem Romanfragment „Heinrich von Ofterdingen“ die „blaue Blume“ ersann, hat die Sehnsucht ein Symbol. Die farbenfrohe Pflanze vom Wegesrand verkörpert das Sehnen nach einem Zustand, den die Welt nicht zu geben vermag, nach der Vereinigung von Natur und Geist, von Seele und Vernunft, von Ich und All. Sehnsucht hält den Menschen am Leben und lässt ihn aufbrechen. „Wo gehen wir denn hier? Immer nach Hause.“ Auch dieser Kurzdialog stammt aus „Heinrich von Ofterdingen“.
In der Sehnsucht nach einem besseren Morgen zeigt sich die Würde des Menschen
Die Sehnsucht gibt es in großer und in kleiner Münze. Für beide Formen stehen mächtige, durchaus interessegeleitete Prägeanstalten bereit. Ökonomie und Politik sind klassische Sehnsuchtsbewirtschaftungsbetriebe. Um Novalis ein drittes Mal zu zitieren: „Zur Welt suchen wir den Entwurf – dieser Entwurf sind wir selbst.“ Abkürzungen zum Ich als Entwurf der eigenen Welt versprechen Unternehmen mit allerhand Dienstleistungen und Produkten, die den Konsumenten beheimaten sollen im selbstgewählten Wunderland. Doch noch im teuersten Schmuck, der aufwendigsten Reise, dem komfortabelsten Haus und der kostbarsten Speise zeigt sich eine, zuweilen freilich verkümmerte, transzendente Tiefenspur. Es handelt sich um Erlebnisse oder um Dinge, die denen, die sie sich leisten können, das Gefühl einer souveränen Selbsterschaffung verleihen.
Wie souverän aber kann eine Auswahl unter industriell vorfabrizierten Gegenständen oder vorformatierten Handlungsweisen sein? Der Philosoph Franz Josef Wetz schreibt: „Das eigene Verhalten ist oft weniger Ausdruck selbstbestimmter Innenlenkung als vielmehr fremdbestimmter Außensteuerung.“ Wetz veranschaulicht seine These am Körperkult und am Gesundheitswahn als zwei aktuellen Beispielen der Sehnsucht nach einem Idealbild von sich selbst. Viel Zeit und Geld werde investiert, damit die Physis – zumindest vorübergehend – ihre Kontingenz verliert. Eine „Revolte gegen das Altern“ werde betrieben. Damit aber hat auch der verzweifelte Kampf im Fitnessstudio oder der Schönheitsklinik ein utopisches Hintergrundleuchten. Die Sehnsucht nach dem ewigen oder wenigstens dem beschwerdefreien Leben verbirgt sich dahinter. Auch sie ist diesseits nicht zu stillen.
Verkümmerte transzendente Tiefenspuren
Schon an ihm lässt sich ablesen, welch vertrackte Sache die menschliche Sehnsucht ist. Sie braucht beides: die Wahrnehmung des gegenwärtigen Zustands als unvollkommen und die tätige Hoffnung auf Vollkommenheit. Jede Sehnsucht hat, auf welches Objekt sie sich auch richten mag, einen spirituellen Überschuss. In der Sehnsucht reicht die Transzendenz auf die Erde hinab. An einen Ort, der noch nicht oder nicht mehr Heimat ist, sendet sie die Botschaft, dass mit jedem Schritt sich alles zum Guten oder zumindest zum Erwünschten wenden kann. Aber gehen, sich auf den Weg machen muss der Mensch dann selbst, und zwar nur der Mensch. Tiere haben Bedürfnisse, keine Sehnsucht.
Wenn Sehnen zur Sucht mit Nebenfolgen wird
Wäre es also erwachsener, sehnsuchtswürdige Objekte nur im Bereich des Immateriellen zu suchen, im Wunderreich der Gedanken statt im Wunderland des Greifbaren? Damit wären wir bei den politischen und insofern kollektiven Sehnsüchten gelandet. Auch da tut sich ein Abgrund auf. An politischen Utopien zeigt sich, wie schnell das Sehnen zur Sucht mit Nebenfolgen werden kann, mitunter gar tödlichen. Jede Utopie hat ihren reaktionären Kern, ist sie doch „auf die Wiederherstellung eines – geglaubten oder wirklichen – früheren Zustands der Harmonie und Unschuld ausgerichtet.“ So formuliert es der Schweizer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Manfred Gsteiger. Auch die kommunistische Utopie der klassenlosen Gesellschaft nimmt Maß an einem paradiesischen Zustand, in dem niemand des anderen Herr, niemand des anderen Knecht war. Dass der Weg zu diesem unerreichbaren Ziel mit Hekatomben von Toten gepflastert sein würde, kann den nicht überraschen, der die „Diktatur des Proletariats“ als Zwischenschritt beim Wort nimmt. Über den diktatorischen Zustand kam der real existierende Sozialismus nie hinaus.
Die Überschriften, unter denen und an denen er scheiterte, haben indes überlebt, sind sie doch keineswegs sozialistisches Sondergut. Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit bleiben die drei Donnerworte der Utopie vom besseren gemeinsamen Leben. Bereits das Alte Testament hat diese Trias in bedrängter Zeit für sein Volk ausbuchstabiert, das Evangelium setzt die Erzählung fort und universalisiert sie. Ganz ohne Utopien kann der Mensch nicht sein, es wäre deshalb „ein bedenkliches Zeichen für einen Staat, wenn er es nicht mehr fertigbringt, seine Utopisten zu integrieren“ (Gsteiger). Vor dieser Herausforderung steht die Gegenwart nicht zuletzt im Angesicht einer sich zunehmend radikalisierenden Klimaschutzbewegung, die bereit ist, ihrer panischen Sehnsucht nach Klimaneutralität Recht und Gesetz unterzuordnen. Jede Utopie hat ihren Kipppunkt. Danach drohen Chaos und Gewalt. Hinter jedem Rousseau lauert ein Robespierre.
Sehnsucht nach Heimat und Familie unbesiegbar
Wo also hin mit der Lust am Künftigen, die essenziell ist für den Menschen, wenn sie nicht versickern soll zwischen konsumistischer Vorabbefriedigung im Heute und aktivistischer Verschiebung auf ein fiktives Übermorgen? Das Eine denkt zu klein von der Sehnsucht, das Andere instrumentalisiert sie zur radikalen Selbstermächtigung. Zwischen den Extremen hält sich die Sehnsucht nach dem guten Leben, das zuweilen als das kleine Glück verspottet wird. Doch das gute Leben für die eigene Person und die, die einem nahestehen, ist die stabilste Sehnsucht überhaupt. Ausweislich zahlreicher Umfragen und Studien ist die Sehnsucht nach Heimat und Familie unbesiegbar.
Auch Politiker haben das erkannt und bemühen sich, die beiden Begriffe vom Klang des vermeintlich Überlebten zu befreien. Der Bundeskanzler konstatierte unlängst „bei den Bürgerinnen und Bürgern eine Sehnsucht nach Heimat, eine Sehnsucht nach Orientierung, nach Sinn und Zusammenhalt vor Ort“. Olaf Scholz bettete das Selbstverständliche in ein Loblied auf die Lokal- und Regionalzeitungen ein, verwendete es somit eher anekdotisch als substantiell. Auch der Bundespräsident zögert nicht, eine wachsende „Sehnsucht nach Heimat“ anzuerkennen, „je schneller die Welt sich um uns dreht“. Dahinter verberge sich, so Frank-Walter Steinmeier, die „Sehnsucht nach Sicherheit, nach Entschleunigung, nach Zusammenhalt und vor allen Dingen Anerkennung.“ Diese Sehnsucht, fuhr der langgediente SPD-Politiker fort, „dürfen wir nicht den Nationalisten überlassen“. Heimat sei „der Ort, den wir als Gesellschaft erst schaffen“.
Der Mensch ist zur Sehnsucht verdammt
Da irrt der Präsident. Heimat ist kein gesellschaftliches Projekt. Im Herz und in der Seele gedeiht die Sehnsucht nach Heimat, nicht an runden Tischen oder in Ministerien. Heimat ist ohne andere Menschen nicht zu haben, aber ganz gewiss nur ohne sozialtherapeutische Dienstanweisung der Obrigkeit. Es war ein fatales, glücklich überwundenes Gesellschaftssystem, das eine andere Gemeinschaft und den neuen Menschen schaffen wollte. Wer die Heimat in eine Großutopie einbaut, verhebt sich an beiden Kategorien und wird Heimatlose ernten.
Ähnlich problematisch sind alle Versuche, der Sehnsucht nach Familie ideologische Muster unterzuschieben. Die Familienstudie des Meinungsforschungsinstituts Insa, an der rund 10.000 Erwachsene teilnahmen, ergab im vergangenen Jahr: „Die mit Abstand meisten Menschen in Deutschland entscheiden sich für das Leben in einer traditionellen Familie aus Vater, Mutter und Kindern.“ Laut Insa-Chef Binkert ist, „wer in traditionellen Familienstrukturen lebt, ganz offensichtlich damit zufrieden. Mehr als drei von vier Befragten sagen uns, dass ihre eigene Familie eine Krise gut überstehen würde oder bereits eine Krise gut überstanden hat“. Die Familie ist kein Idyll, aber ein Hoffnungsanker für erstaunlich viele Menschen.
Heimat und Familie, Gesundheit und Sicherheit, Komfort und Gerechtigkeit: Die Sehnsüchte treiben den Menschen voran, und sei es in Abgründe. Ohne Hoffnung aber und ohne Sehnsucht bleibt der Mensch unter seinen Möglichkeiten. Der Mensch ist zur Sehnsucht verdammt – und setzt er sie klug ein, kettet sich nicht an Diesseitigkeiten, verkapselt sich nicht im Ich, sprengt nicht die Gesellschaft, ist sie sein edelster Teil. In der Sehnsucht nach einem besseren Morgen wie auch in der Gelassenheit, mit Enttäuschungen umzugehen, zeigt sich die Würde des Menschen. Und womöglich ist das alltäglich versuchte gute Leben ein Abglanz des schönen Lebens, das alles individuelle Begehren bündelt. Die Schönheit nämlich, sagte einmal Benedikt XVI., „ist die Wurzel, die den Stamm unseres Friedens und die Früchte unserer Hoffnung hervorbringt“.