Gefühlte Wahrheit

Wie technische Entwicklungen und Algorithmen unsere Wahrnehmung beeinflussen.

Wie wir unsere Wahrnehmung beeinflussen

Technische Entwicklungen und Algorithmen machen das Leben angenehmer und leichter. Der Komfort besteht meist darin, dass sie unsere Wahrnehmung manipulieren. Leben wir in einer technisierten Gesellschaft eigentlich noch in der Wahrheit?

Spaziergang im Park. Laub raschelt unter meinen Füßen. Ein noch warmer Oktoberwind weht mir sanft über die Haut während ich durchs bunte Farbenspiel der Blätter in die Nachmittagssonne blinzle. Es riecht nach Herbst. Eine Bank, ein Passant. Ich mag den Herbst und ich mag den Park. Alles fühlt sich echt an. Wirklichkeit, Leben. Was ich an der Natur am meisten schätze, ist ihr Respekt. Sie drängt sich nie auf, will nie etwas von mir. Sie ist einfach da, kostenlos. Ich darf kommen und gehen, wann ich will, darf sehen, hören und fühlen, was ist, und denken, was ich will. Die Wahrnehmung meiner vergangenen fünfzehn Minuten im Park hatte genau zwei Protagonisten: die Natur und mich.

Szenenwechsel. Ich habe an der Kreuzung angehalten. Ein kleines rotes Männchen erscheint in meiner Windschutzscheibe. Mit dem digitalen Symbol weist mich das Head Up Display meines Autos darauf hin, dass ein Fußgänger vor mir die Straße überquert. Ich biege auf den Parkplatz ab. Das Kamerabild meines AR-Navi hat mir einen entsprechenden Pfeil ins Display eingeblendet. Ich schalte den Motor aus, greife nach der air up-Trinkflasche auf dem Beifahrersitz und nehme einen Schluck.

Was ich trinke ist pures Leitungswasser, doch durch die Duft-Pods am Mundstück empfinde ich den Geschmack von Pfirsich-Eistee, gestern hatte ich Cola. „Wir schmecken 80% über unsere Nase. Genau das machen wir uns zu Nutze: die Aromen unserer Pods werden beim Trinken als Geschmack wahrgenommen“, erklärt das Münchner Startup, das die Flasche verkauft. Ich trickse also mein Gehirn aus und senke meinen Zuckerkonsum, clever. Mein Smartphone meldet sich. Es schlägt mir vor, Jonas anzurufen, weil ich das um diese Uhrzeit öfter mache. 

Ein weiterer Hinweis auf dem Display informiert mich, dass jetzt eine gute Gelegenheit wäre, meine Coupons im Drogeriemarkt einzulösen, der sich „in meiner Nähe“ befindet. Tatsächlich, da vorne ist er. Lieber Musikhören, denke ich und wähle den Mood Booster auf meiner Streaming App, coole Musik. Ich überlege, wie sich diese Wahl wohl auf meinen Algorithmus auswirkt. Für das Jahr 2021 hatte mir Spotify auf Basis meiner Playlist und zusammen mit @mysticmichaela, einem „Medium“, meine Audio Aura erstellt. Demnach bin ich vom Typ her „calm, analytical and introspective“. Naja. 

Der Mood Booster hebt meine Stimmung tatsächlich. Ich fahre los. Eigentlich ist mein BMW i4 elektrisch und fährt damit geräuschlos. Und doch ist der eigenwillige Sound meines Autos unüberhörbar, ein futuristisches Brummen, irgendwo zwischen Rennautovergaser und Raumschiff. Die Geräusche des i4 hat der Hollywood-Komponist Hans Zimmer eigens für BMW entwickelt. Der Iconic Sound „soll dem Fahrzeug Charakter, Emotion und Tiefe“ verleihen, sagt der Papst der Filmmusik.

An der Wahrnehmung der letzten fünfzehn Minuten meines Lebens waren mehrere Konzerne beteiligt, viele davon börsennotiert.

Ich habe Dinge gesehen, die nicht existieren, habe geschmeckt, was eigentlich geschmacksneutral ist, wurde aufmerksam auf Dinge, an die ich normalerweise nicht gedacht hätte, und habe Geräusche gehört, die aus einem Tonstudio stammen. Genau genommen habe ich in einer weitgehend manipulierten Wirklichkeit gelebt, habe meine Sinne, Gedanken und Gefühle mich austricksen, beeinflussen und steuern lassen. Nicht so, dass ich etwas dagegen gehabt hätte, ich habe das alles selbst gewählt, gekauft und installiert. Und ich genieße die Vorteile: Wissen, Orientierung, Genuss, Unterhaltung, Reflexion, Emotion.

Aber Hand aufs Herz: Wenn ich mich an so eine kontrollierte und designte Umwelt gewöhne, an den ganzen Luxus und Service, den mir Technik und Künstliche Intelligenz bieten, bin ich dann eigentlich noch in der Lage, das Echte, Unmittelbare und Ungesteuerte zu erleben? Oder werde ich demnächst in den Park gehen und automatisch den passenden Nature-Mix auf meine Kopfhörer bekommen, mich mit der PlantNet-App in meiner digitalen Brille über die Vegetation informieren und über die Sun Seeker-App das Beste aus dem stimmungsvollen Abendlicht für mein Selfie herausholen?

Wie viel Echtes und Wahres steckt in unserer technisierten Wirklichkeit noch?

Ich glaube, wir müssen sortieren: Ja, technische Innovation und digitale Transformation verändern unsere Wahrnehmung und bieten dadurch einzigartige Chancen. Praktisches Beispiel, über das wir uns alle freuen dürften: Künftig wird es viele Bedienungsanleitungen als Augmented Reality-App geben, bei denen wir die Handykamera auf ein Gerät oder Teil halten und die App blendet uns im Display dazu ein, was jetzt damit zu tun ist. Oder noch viel krasser: Die Neurowissenschaften arbeiten mit Hochdruck daran, fehlende Sinne durch digitale Technologien zu ersetzen. Dabei kommen Produkte wie der BrainPort heraus, der Blinden über ein Plättchen mit 400 Elektroden auf der Zunge das fehlende visuelle Bild der Umgebung durch elektrische Simulation in einen visuellen Eindruck im Gehirn übersetzt. Mit dieser Art von Technologie ist es dem blinden US-amerikanischen Bergsteiger Erik Weihenmayer bereits 2001 gelungen, den Mount Everest zu besteigen. Kein Zweifel, hier verbiegt niemand die wahre Wirklichkeit – hier öffnet die Technik einen weiteren Zugang zu ihr.

Und doch ist da auch die Schattenseite der Technik. Die Netflix-Doku Das Dilemma mit den sozialen Medien von 2020 hat die Gefahren einer zunehmend digitalen Lebenswelt eindrücklich geschildert: verzerrte Wahrnehmung, Polarisierung, Radikalisierung, Selbstwertprobleme, Sucht, Druck. Warum? Ich glaube, weil die Logik der Technik so faszinierend einfach ist. Wahr ist demnach, was sich mathematisch folgern lässt. „If it’s not on Instagram it didn’t happen“, „Andere Kunden kauften auch…“. Bestechend einfach. Und es wird noch einfacher: Wenn ich den Datenpool lange genug mit meinem User-Verhalten gefüttert habe, errechnet mir der Algorithmus irgendwann, was ich tun und wollen werde. Kein Wunder, dass es die Wirtschaft ist, die diese Technologie vorantreibt. Voraussagen können, was die Leute wollen, ist halt Gold wert.

Die Gefahr besteht darin, dass wir uns, ohne es zu merken, eine technische Definition von Wahrheit angewöhnen, wie wir sie in der Technik vorfinden. Eine „nichts als“-Mentalität, die das Leben auf Instinkt, Trieb und Optimierung reduziert.

Was dabei unter die Räder kommt, ist die wahre Größe des Menschen, in seiner Einmaligkeit und Freiheit. So danke ich dem Park für das Zeugnis einer größeren Wahrheit. Hier in der Natur erlebe ich kostenlose und absichtslose Schönheit. Ich darf genießen und staunen und danken ohne einen Daumen hoch dalassen zu müssen. Das ist es, was mir die Apps verschweigen: Dass ich als Mensch schon immer beschenkt bin. So eine Wahrheit macht frei und lebensmutig. Wie dringend brauchen wir gerade in einer technisierten Welt eine solche Wahrheit. Eine Wahrheit, die, wie Jesus sagt, frei macht (Joh 8,32).

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